Die Beckmann-Passionalt

von Michael Laages

Bochum 4. Mai 2012. Geschichte liegt und lastet ja wie Bleistaub auf dem Stück – mit der Patina des allerersten literarischen Aufschreis aus frühester Nachkriegszeit; mit der Aura des Leidens all der Geschundenen, die das Schlachten überlebten; mit der Legende des Autors Wolfgang Borchert nicht zuletzt, der sich den Text in acht Tagen von der Seele geschrieben haben soll und die auf die Hörspielfassung im NWDR folgende Uraufführung an den Hamburger Kammerspielen schon nicht mehr erlebte; zwei Tage vorher war er gestorben, 26 Jahre alt.

draussen-vor-1 280 declair hFlorian Lange als Beckmann. © Arno Declair65 Jahre ist das her; das Theaterfoto vom Ur-Beckmann zeigt Hans Quest mit der an Gummizügen gehaltenen Brille: eine Mumie - wer weiß noch, was da war ... Erstaunlich oft aber greifen Regisseure in jüngerer Zeit nach diesem Text: Luk Perceval in Hamburg, Volker Lösch in Berlin, jetzt David Bösch in Bochum. Und wie es scheint, hat Chancen nur, wer möglichst viele dieser langen historischen Schatten so intensiv wie möglich zu ignorieren versucht und sich dem Würgegriff der Geschichte entzieht.

Lösch wollte an der Berliner Schaubühne einen Anti-Kriegs-Abend – und scheiterte; die Produktion schaffte es nicht bis zur Premiere. Perceval gelang am Thalia Theater das Kunststück, das Beckmann-Gefühl durch konsequente Abstraktion in einer Art Rock-Konzert zu brechen; den jungen Heimkehrer ließ der Regisseur auf im Grunde immer wieder das selbe alte Gegenüber treffen, bestenfalls auf ein Paar: "Draußen vor der Tür" als Drei-Personen-Stück.

Streit mit dem anderen ich

Wie Perceval löst jetzt auch David Bösch in Bochum zuallererst und vor allem die voluminöse Personen-Struktur auf – also kein Oberst, kein Variete-Direktor, keine Nachmieter in der Wohnung der offenbar nazi-belasteten Eltern, die sich im Selbstmord auf den Weg hin zum großen Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf machten ...  Stattdessen: Beckmanns abendfüllender Streit mit dem anderen Ich, das viele der Echos der Beckmann-Passion übernimmt; auch das Mädchen bleibt im Spiel, das Beckmann fast eine Liebesperspektive eröffnet hätte – und der Kollege Selbstmörder, den Beckmann, vertrieben aus dem eigenen Bett, seinerseits zum Hahnrei machte. Auch der Tod selber spielt mit; und Gott.

draussen-vor 3 280 declair hFlorian Lange und Nicola Mastroberardino als doppelter Beckmann. © Arno DeclairEr, dieser Gott, an den keiner mehr glaubt, eröffnet den Abend, aus der verstaubten Heiligen Schrift scheint er "Das Buch Beckmann" lesen zu wollen. Der aber verweist ihn in die Unterwelt: ein Loch im Sand, den Bühnenbildner Dirk Thiele auf die Bochumer Bühne schippen ließ, neben einer Tümpelpfütze, die "die Elbe" spielt. Das große Zweifeln am "lieben Gott", Borcherts fundamentales Finale, wird hier also zum Prolog; danach lässt Bösch seine beiden Beckmanns (Florian Lange und Nicola Mastroberardino) mit allerlei Tricks, parallelen Texten und Aktionen vor allem, die eigene Austauschbarkeit grundieren – allerdings ganz ohne Borcherts doppelgesichtige Aufspaltung in Opti- und Pessimist. Verloren sind ja beide in den schmierig vergammelten Armee-Klamotten, die keinerlei Assoziation zu Borcherts historischem Anlass aufkommen lassen – hier war und ist und wird immer sein: der Krieg. Er ist drinnen wie draußen, um die Beckmänner aller Zeiten herum und in ihnen drin.

Finsterer Blick

Damit kommt Bösch der enormen zerstörerischen Energie auf die Spur, die Borcherts Text jenseits der historischen Heimkehrer-Klage durchzieht. Das Mädchen (Kristina-Maria Peters) taucht prustend auf aus der Unterwelt und bleibt wie ein Nachtmahr an Beckmanns Seite für ein paar Momente; der Einbeinige (Henrik Schubert), dem Beckmann die Frau wegnahm, ist da schon nicht mehr weit. Aber da sind längst alle hin – mit beiden Beckmännern teilt er sich das Feuer für die letzte Zigarette. Gott (Raiko Küster) hatte als alter Hippie das erste und er behält auch das letzte Wort – aber jetzt glaubt offenbar nicht mal mehr die Bochumer Bühnentechnik an ihn ...  Der Eiserne Vorhang in den Kammerspielen bleibt jedenfalls auf halber Höhe hängen.

Bösch hat eine kompakte Sicht auf das schwierige Material gefunden, finster im Blick auf Kriege von heute und allemal überzeugend. Und dafür bricht dann in diesem Theater ein Jubelsturm los bis zum Klatschmarsch – nach längerer Bochum-Pause des Berichterstatters ist die Begeisterungsfähigkeit dieses Publikums immer wieder ein Wundern wert. Es muss ein Glück sein, hier zu spielen.

 

Draußen vor der Tür
von Wolfgang Borchert
Regie: David Bösch, Bühne: Dirk Thiele, Kostüme: Anna Heinz, Dirk Thiele, Musik: Jan Sebastian Weichsel, Dramaturgie: Sabine Reich.
Mit: Raiko Küster, Florian Lange, Nicola Mastroberardino, Kristina-Maria Peters, Henrik Schubert.

www.schauspielhaus-bochum.de

 

Kritikenrundschau

"Alles Metaphysische" fehle dieser Borchert-Inszenierung, schreibt Andreas Rossmann angetan in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7.6.2012). Stattdessen zeigten Florian Lange als Kriegsversehrter und Nicola Mastroberardino als "Kämpfer, der weitermachen muss", in ihrer Aufspaltung der Beckmann-Rolle "beklemmend die Opfer-Täter-Dialektik". Bösch "dunkelt" das Borchert-Stück "nach", er "abstrahiert es von der Historie, entgrenzt Tag und Traum, verdichtet es zum bildmächtig-bedrückenden Endspiel – und verkürzt dabei das äußere Drama". Statt eines Gottesbeweises gebe es zum Schluss eine starke Geste: Der Darsteller Gottes entkleidet sich und weist sich als Schauspieler aus: "Das Theater ist stärker." Und der Kritiker holt zu großem Lob aus: "In Bochum war das früher, lang ist es her, die Regel. Jetzt ist es wieder mal so."

"Kein einfacher Theaterabend, aber ein sehr bewegender." So lobt Jürgen Boebers-Süßmann auf dem Portal der WAZ-Gruppe derwesten (7.6.2012) diese sehr "zeitgemäß" mit Anspielung auf heutige Kriegsschauplätze eingerichtete Borchert-Inszenierung. Bösch präsentiere "kein anklagendes Heimkehrer-Opus, sondern eine existenzielle Parabel über die andere Seite des Menschen. Der Kreis des Krieges erschließt sich über Verlust, Verlorenheit und über das Sterben".

Auch Ralf Stiftel ist im Soester Anzeiger (7.6.2012) voll des Lobs: "Bösch räumt auf in Borcherts Text. Die peinlichen Stellen entsorgt er. Schluss mit der Geschwätzigkeit. Der Regisseur entdeckt den Klassiker neu, die hinreißenden Stellen im Text, die Wut, die Zärtlichkeit, die Poesie, den boshaften Witz." Das Spiel der aufgespaltenen zwei Beckmann-Figuren besitze eine "Aggressivität, die einer Sarah Kane würdig wäre".

David Bösch eröffne mit seiner Inszenierung "einen neuen, freien Blick auf das Drama" von Borchert, schreibt Cornelia Fiedler in der Süddeutschen Zeitung (11.5.2012). Der Abend ziele in behutsamer Aktualisierung darauf ab, das "Thema Schuld allgemein zu halten und sich auf die Unvereinbarkeit von Friedens- und Kriegsrealität zu konzentrieren." Lob fällt auf die Aufspaltung des Beckmann in einen "unbeholfenen, kriegsversehrten" Part (Florian Lange) und einen aggressiven ("Nicola Mastroberardino spielt ihn mit intensiver, unberechenbarer Energie"). Es sei ein Abend, der "jeden Trost verweigert. Er ist einfach sehr gut gemacht."

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