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Mit Blut, ohne Tränen

von Andreas Wicke

Göttingen, 5. Mai 2012. Eine festliche Tafel beherrscht die Bühne, sie steht auf einer schiefen Ebene im sonst nackten Raum. Um die Tische stehen Stühle für rund dreißig Personen, aber nur vier sind besetzt: Phädra, Hippolytos, Arikia und die Amme Önone. Es herrscht Katerstimmung in Troizene, und Hippolytos braucht lange, bis er mühsam und stockend die ersten Worte von sich gibt: "Mein Entschluss steht fest", sagt er, aber man nimmt es ihm nicht ab. Erst ganz allmählich wird es heller, nur sehr langsam lösen sich die Anwesenden aus ihrer Starre, endlich erhöht sich die Sprechlautstärke, auch die Sphärenklänge im Hintergrund werden lauter, schließlich steigen Phädra und Arikia auf den Tisch. Deutlicher kann man kaum demonstrieren, was mit einer steigenden Handlung im Drama gemeint ist. Und die Situation ist in der Tat verfahren, Phädra liebt nicht ihren Gatten Theseus, sondern den Stiefsohn Hippolytos, dieser hingegen ist in Arikia verliebt, auch das eine verbotene Liebe, denn Arikia entstammt einem verfeindeten Teil der Familie.

Es fallen alle Schranken
Die Inszenierung von Felix Rothenhäusler demonstriert im ersten Teil eine rasante emotionale Steigerung, die sich aus der Nachricht ergibt, Theseus sei tot. Plötzlich ist alles erlaubt, die Schranken der Moral, der Ordnung, der Schicklichkeit fallen, das Gesetz gilt nicht mehr. Schien anfangs jedes Wort Überwindung zu kosten, so steigert sich nun das Traumspiel zum Rausch. Phädra gesteht dem Stiefsohn ihre übermächtige Liebe, Arikia schießt als Eros-Figur mit unsichtbaren Pfeilen um sich, jedes Mal begleitet von einem onomatopoetischen – allerdings als sich wiederholende Regieidee auch enervierenden – "brrrrrrrrrrrrr".

phaedra 009 560 isabel winarsch xZu Beginn noch in Schockstarre: Das "Phädra"-Ensemble © Isabel WinarschDoch die Nachricht vom toten König erweist sich als Gerücht, Theseus lebt und kann jeden Augenblick in Troizene eintreffen. Was gerade noch nach einer entfesselten Liebe aussah, ist nun besetzt mit Angst und Scham, jeder fühlt sich dem anderen ausgeliefert, jeder hofft, dass der andere schweigt. Hier entfernt sich Rothenhäusler von Racines Tragödie. "Ich will, nachdem ich meinen Irrtum allzu klar erkenne, / nun mit dem Blut des Sohnes meine Tränen mischen", sagt Theseus am Schluss – eigentlich. Was die Göttinger Inszenierung übernimmt, ist das Blut, ansonsten kommt es zu keiner fallenden Handlung im zu erwartenden Sinne, stattdessen kippt der zweite Teil nach der Rückkehr des tot geglaubten Königs ins Absurde.

Zwischen Liebe, Angst und Schuld
Theseus betritt die Bühne als Beckett-Figur im grauen Anzug mit Peter-Handke-Frisur und schwarzer Hornbrille und verurteilt seinen Sohn. Es gibt keine Verhandlungsbasis mehr, dafür aber jede Menge Theaterblut. Hippolytos beginnt zunächst sich damit zu beschmieren, sich darin zu suhlen, danach greifen auch die Amme und Arikia, schließlich Phädra selbst zu jenem Requisit, das Theaterpublikum so oft in Freund und Feind scheidet. Das Göttinger Ensemble jedenfalls hat sich auf die ungewöhnliche Entwicklung eingelassen. Insbesondere Andrea Strube als Phädra und Meinolf Steiner als Hippolytos gelingt ein feines psychologisches Spiel zwischen Liebe, Angst und Schuld. Sie sind nie ganz voneinander getrennt und gehören dennoch nicht zusammen, sie legen ihre Rollen nicht fest und geben ihnen trotzdem klare Konturen. Paul Wenning beherrscht den zweiten Teil des Abends und legt seinen Theseus sehr vielschichtig an, in der Sprache ebenso wie in seiner sich wandelnden Präsenz.

"Es geht", sagt Felix Rothenhäusler auf die Frage nach seinen Gründen, Racines "Phädra" zu inszenieren, "um den Frühling, Gefühle, die einen überwältigen, scheinbar unmögliches Lieben, das Wiederentdecken des Körpers und seine intime Wahrnehmung, das Zulassen intensiver Gefühle, auch um den Preis, den Erwartungen der Anderen oder des geregelten Lebens nicht gerecht zu werden." Dennoch bleibt vieles offen in dieser auf den zentralen Konflikt und die wesentlichen Figuren konzentrierten Produktion: das Ende zum Beispiel, an dem nicht klar ist, ob die blutverschmierten Darsteller sich selbst verurteilen oder vom Gesetz des Königs lossagen. Aber gerade diese Unsicherheit in Fragen der Ordnung und die Flucht ins Absurde machen diese "Phädra" streitbar. Das Premierenpublikum jedenfalls schwankt, als das Regieteam die Bühne betritt, zwischen Bravo und Buh – falls sich diese Reaktion nicht nur auf die Verwendung von Theaterblut im zeitgenössischen Regiebetrieb bezieht, könnte das durchaus ein Kompliment sein.

Phädra
von Jean Racine
Inszenierung: Felix Rothenhäusler, Bühnenbild: Lisa Marie Damm, Kostüme: Lea Dietrich, Musik: Matthias Krieg, Dramaturgie: Anna Gerhards.Mit: Paul Wenning, Andrea Strube, Meinolf Steiner, Vanessa Czapla, Sarah Schermuly

www.dt-goettingen.de

 

Mehr Phädra? In Graz inszenierte Johannes Schmit das Stück von Jean Racine im Januar dieses Jahres; Ein anderer Johannes, nämlich Schütz, wagte sich im vergangenen Oktober in Köln daran.

Kritikenrundschau

Rothenhäusler bremse in dieser "Phädra" jegliche Bewegung aus, berichtet Bettina Fraschke für die Hessische/Niedersächsische Allgemeine (6.5.2012). Die Regie spiele mit dem Thema Fassung / Fassungslosigkeit, "die Tafelrunde ist ein eindrucksvolles Bild für unser gesellschaftliches Zusammenleben, das auf Gefühlsextreme nicht eingerichtet ist und keinen wirklichen Kontakt ermöglicht." Der kopflastige Regiezugriff, der extrem verknappte Text und die Abwesenheit von Bewegung und Interaktion ließen den 90-minütigen Abend unter der Last dieses übergroßen Theoriekonstrukts ächzen. "Auch wenn es gut durchdacht ist." Die Hauptdarsteller holten trotz der Reduktion viele Nuancen heraus.

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