Krieg und Frieden - Sebastian Hartmann entfernt sich bei den Ruhrfestspielen von Leo Tolstoi und trifft sein Epos doch ins Herz
Krieger und Grenzkünstler
von Martin Krumbholz
Recklinghausen, 10. Mai 2012. Kurz vor Schluss, anlässlich einer harmlosen konzertanten Light-Show bei offener, leerer Bühne, setzt ein Massen-Exodus aus dem Festspielhaus ein. Genug. Schließlich hat man schon fünfeinhalb Stunden mehr oder weniger sittsam abgesessen, jetzt reicht's. Das vierzehnköpfige Ensemble, das sich ins Parkett begeben hatte, um eine Diskussion anzuzetteln – ganz bewusst an einem prekär überreizten Punkt des Abends –, kehrt noch einmal zurück, setzt sich in einer dicht gedrängten Traube auf den Boden, um den im Saal Verbliebenen versöhnlich (oder ironisch) zuzuwinken. Und die, die ausgeharrt haben, feiern die Schauspieler und sich selbst mit frenetischem Jubel. Ganz zu Recht: Es ist ein großer Abend gewesen.
An steiler Wand
Aber der Reihe nach. Wer sich Leo Tolstois monumentalen Roman "Krieg und Frieden" nacherzählen lassen wollte, ist nicht auf seine Kosten gekommen. Sebastian Hartmann, der mit seinem Leipziger Ensemble plus ein paar illustren Gästen nach Recklinghausen gekommen ist, klappert in seiner Spielfassung nicht den Plot ab – was bei Romanadaptionen oft so langweilig ist. Der Regisseur atomisiert vielmehr den umfangreichen Stoff, unterteilt ihn quasi nach thematischen Aspekten wie Heirat, Geburt, Tod, Krieg, Leibeigenschaft, Metaphysik und so fort.
Die Bühne, die Hartmann und der Künstler Tilo Baumgärtel entworfen haben, besteht aus zwei riesigen beweglichen Platten, im wesentlichen aber aus einer unterschiedlich steil gestellten Schräge, von der Rampe her beleuchtet, auf der die Körper der Spieler kaum einen Halt finden. Musik (von Sascha Ring/Apparat) wird vor der Rampe live produziert. Und die Schauspieler sind nicht auf Rollen fixiert (es gibt in der Vorlage ja Hunderte), sondern wechseln diese ständig, unabhängig auch von Alter und Geschlecht. Und dieses Konzept zwingt den Zuschauer dazu, sich nicht an der Fabel zu orientieren – die gibt es gar nicht mehr –, sondern sich in den laufenden Diskurs einzuklinken, ob es ihm gefällt oder nicht.
Betörende Bilder
So staubtrocken, wie das vielleicht klingt, ist es beileibe nicht. Denn immer wieder gelingen dem Regisseur und den Schauspielern hinreißende, betörende Bilder – mit dem ganzen Ensemble, zu zweit, allein. Wenn etwa Lisas frischgeborenes Baby (sie stirbt bei der Geburt) sich plötzlich in den kleinen Napoleon Bonaparte verwandelt – und auch wieder zurück. Wenn zwei Frauen sich, nebeneinander sitzend, eifersüchtig und liebevoll zugleich, über den schönen, leichtsinnigen Anatol und dessen Heiratspläne unterhalten. Wenn der Oberbefehlshaber Kutusow einsam über das leere, evakuierte Moskau räsoniert. Wenn der grobe alte Fürst Bolkonski seine Tochter, die er für hässlich hält, angesichts eines fragwürdigen Ehekandidaten mit einer scheinbar klaren, in Wahrheit brutalen Dichotomie konfrontiert: Ja oder nein. Wenn dessen Sohn, Fürst Andrej, erklärt, für einen einzigen Moment des Ruhmes – also die Liebe der Masse – würde er alles andere, auch die Liebe der ihm Nahestehenden, gern hingeben.
Grenzüberschreitungen
Sebastian Hartmann reiht solche existentiellen Situationen wie Perlen auf eine Kette, aber nicht, weil es sich um wichtige Plot-Punkte handelt, darum kümmert er sich gar nicht. Vielmehr entwickelt sich hier ein intelligenter (auch anstrengender) Diskurs aus den vielfältigen spielerischen Möglichkeiten eines fabelhaften Ensembles, das keine Haupt- und Nebenrollen kennt, sondern nur das scheinbar unbegrenzte Potenzial jedes einzelnen.
Die Grenzüberschreitung – schließlich ein markantes, vielleicht das entscheidende Merkmal des Krieges – wird dabei zum heimlichen Hauptthema. Wenn Schauspielerinnen sich einen Schnurrbart ankleben, wird man sie noch nicht für Männer halten, aber begreifen, dass sie das Gebaren von Männern völlig überzeugend nachahmen können. Doch selbst der Tod erscheint hier nicht als unüberwindliche Grenze: Die Figuren, Andrej zum Beispiel, sterben an diesem Abend viele Tode. Es liegt in der Natur des Spiels, natürliche Vorgänge zu stoppen, rückgängig zu machen, zu reflektieren.
Und zum Gelingen des Abends gehört letztlich auch, dass selbst das Prekäre gelingt. Wenn ein nackter Schauspieler eine kleinwüchsige Darstellerin entkleidet und auf dem Arm über die Bühne trägt – wie (vielleicht) Christopherus den Heiland –, könnte dieses Bild der (nicht nur ideellen, auch physischen) Liebe in den gut gemeinten Kitsch entgleiten. Das passiert nicht, denn wunderbarerweise gelingt in dieser Inszenierung, zu der Tolstois Roman den Inhalt, aber nicht die Form geliefert hat, beinahe alles.
Krieg und Frieden
nach Leo Tolstoi
Regie: Sebastian Hartmann, Bühne: Sebastian Hartmann, Tilo Baumgärtel, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Musik: Apparat (Sascha Ring), Licht: Lothar Baumgarte.
Mit: Manolo Bertling, Manuel Harder, Matthias Hummitzsch, Guido Lamprecht, Hagen Oechel, Berndt Stübner, Susanne Böwe, Artemis Chalkidou, Janine Kreß, Heike Makatsch, Linda Pöppel, Birgit Unterweger, Cordelia Wege, Jana Zöll.
Dauer: 5 Stunden, zwei Pausen
www.ruhrfestspiele.de
www.centraltheater-leipzig.de
Mehr zu den Arbeiten des Regiekünstlers Sebastian Hartmann finden Sie im Lexikon.
Diese Romanumsetzung, die beanspruche, "nicht dem Plot, sondern der Essenz von 'Krieg und Frieden' nachzuspüren", ist das "Highlight der ersten Festivalwoche" in Recklinghausen, schreibt Cornelia Fiedler in der Süddeutschen Zeitung (12.5.2012). "Schlaglichter, Fetzen, Gedankenstränge des Romans sind zu Bildern geronnen, getragen vom starken, lustvollen, oft ironischen, dann wieder anrührenden Spiel des Ensembles." Das Leipziger Team und seine Gäste "evozieren eine Menschheits-Collage, die nur lose an den Figuren, aber erstaunlich nahe an Tolstois Gedanken über Krieg, Geschichtsphilosophie und die Natur des Menschen bleibt. Nach über vier Stunden und zwei Pausen applaudieren die verbliebenen Zuschauer einem Experiment, das mal begeistert und mal nervt, sich aber auf jeden Fall einbrennt."
Sebastian Hartmann wage "den Gewaltmarsch zum Monumentalismus und zeigte bis nach Mitternacht eine Essenz der Quasi-Philosophie Tolstois", schreibt Ralph Wilms für das WAZ-Portal Der Westen (11.5.2012). Eine "großartige Ensemble-Leistung", leider auch "zu viel Gebrüll", insbesondere in den chorischen Passagen, sei zu erleben. Als Chor seien "Die Räuber" (von Nicolas Stemann) im letzten Jahr überzeugender gewesen. "Dafür hat Sebastian Hartmann die stärkeren Bilder." Ja: "Manche Bilder dieser übergroßen Inszenierung wirken viel stärker nach als die Worte des bitteren Romanciers" Tolstoi. Im Zentrum des Abends stehe "Tolstois ethisches Programm. Der Chor macht dies in den ersten Momenten der Aufführung deutlich, als er jene Verbrechen aufzählt, die der Krieg scheinbar legitimiert. Es ist aber auch eine Ethik, die Tolstoi gegen den eigenen Zynismus, gegen Kirchenverachtung und privaten Weltekel entwickelte."
Einen "weitgehend aufregenden Abend", eine "unerschrockene und begeisternde Darstellergarde" und "Bilder von beeindruckender Intensität" hat auch Arnold Hohmann, ebenfalls für das Portal der WAZ-Gruppe Der Westen (11.5.2012) erlebt. Aber die Abwanderung des Publikums gibt ihm zu denken: Der Abend sei "wie der Krieg auf der Bühne: Nach jeder der beiden Pausen beklagt man weitere Verluste im Zuschauerraum." Es sei eben doch "ein Wagnis, ein derartig gewaltiges und anstrengendes Theaterprojekt für einen Abend zu konzipieren, geschweige denn, es wie in Recklinghausen auf einen Wochentag zu platzieren".
Alexander Kohlmann lobt in der Sendung "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (10.5.2012) den Abend als "eine Überforderung der Zuschauer, von denen jeder Einzelne aus der Fülle der Assoziationen seine Bedeutungen und vielleicht sogar einige Antworten destillieren muss." Das Ensemble widme sich "mit Hingabe Hartmanns Reflexion über die großen, existentiellen Menschheitsfragen". Besonders im ersten Teil gelinge Hartmann "das Kunststück, schneller zwischen Szenen und Räumen zu schneiden, als ein Filmregisseur es je könnte. Und alleine das ist ein echter Triumph für das Theater."
Für das Onlineportal der Welt (11.5.2012) schreibt Stefan Keim: "Vier Stunden lang ist die Aufführung abwechslungsreich, anregend, mit einigen Längen. Nach der zweiten Pause jedoch wird sie grandios." Die Inszenierung "verknüpft Debattentheater mit überdrehtem Spielwitz und großen Schauwerten". Hartmanns Schauspieler würden "im Handumdrehen Intensität erzeugen, sie komödiantisch brechen, um dann wieder ernsthaft einzusteigen". Der Regisseur "verlangt viel Hirnkapazität, und manchmal überfordert er bewusst sein Publikum", das hier allerdings – anders als in Leipzig – nicht unter Protest, sondern eher erschöpft in Teilen abgewandert sei.
Für die Leipziger Volkszeitung (22.9.2012) besuchte Dimo Riess die Leipziger Premiere und erlebte "Philosophisches Diskurstheater, das auf viel Wort vertraut – und damit immer wieder überfordert –, auf eine variable Bühnenkonstruktion, die symbolstarke Bilder erlaubt, und auf die Wirkung von Musik". Nach einem "kurzweiligen ersten Akt" gäbe es "ermüdende Dialoge, überdehnte Choreographien und den Versuch von Komik", später auch "Albernheiten, die im dritten Teil zum Konzept werden". Auch diese Schlussphase besitze "beklemmende Theatermomente", aber im "Kalauerregen" würden "die großen Momente der vorigen Stunden" verwässert.
Stimmen zum Gastspiel der Inszenierung beim 50. Berliner Theatertreffen 2013:
Doris Meierhenrich berichtet in der Berliner Zeitung (10.5.2013), "dass am Ende nicht nur der hoch verdiente Applaus aufbrandet, sondern auch ein engagierter Chor Buhs." Mithin: "Beste Theatertreffentauglichkeit also. Einfältige Sympathie wäre auch geradezu undankbar gewesen gegen diesen viel wagenden, viel gewinnenden und auch viel verlierenden Abend." Hier werde Tolstoi neu zusammengesetzt, eine "Art konzentrierter Zerrissenheit" sei das Prinzip des Abends. "Eine bildstarke Inszenierung zum Freuen und Ärgern, zu der man sich im Laufe des Abends durcharbeiten muss, weg von jeder Romanfixiertheit im Kopf, weg von der Vielfalt und Feinheit der Charaktere, hin zu einer figurenfreien Rede-Werkstatt, zum Text als Knetmasse, die Ereignisse thematisch verknäult, egal ob sie 1805 spielen oder 1813."
"Das Ich mit seinen Illusionen – es wird an diesem Abend auf vielfältige Weise zerquetscht", berichtet Andreas Schäfer im Tagesspiegel (10.5.2013). Die Art und Weise, den Roman auf die Bühne zu bringen, ohne "einfältig die Handlung nachzuleiern", überzeugt den Kritiker. Hartmann gehe "motivisch" vor und verzichte auf "feste Figurenzuschreibungen". Ebenso "wechselt auch ständig der Ton, von hochfahrend pathetisch bis zur karikierenden Übertreibung. Stark sind im Mittelteil die stillen Szenen, in denen ganz ernsthaft über Gott, Reue, Verlust und die Fragen des sinnhaften Lebens gesprochen wird. Man verliert zwar den Überblick, aber Tolstois kraftvolles Ringen um das Gute, für ein, zwei Stunden ist der Geist des großen Epos da." Allerdings kann der Kritiker den Freiheiten, die sich der Regisseur im letzten Teil des Abends herausgenommen habe, wenig abgewinnen. Als da wären die Freiheiten "des hemmungslosen Slapsticks und der unmotivierten Fratzenzieherei, in der die Figuren schnell zur Lachnummer verschrumpeln".
"Am Ende ist man todmüde und irgendwie doch wieder animiert", berichtet Hans Peter Göpfert im rbb Kulturradio (10.5.2013). "Man wird nicht mit allen Obsessionen und Assoziationen einverstanden sein, die Hartmann aus Tolstois Roman herausliest, und die Sascha Ring alias 'Apparat' mit seinen Livemusikern auf immer neuen stimmungsduseligen Klangfeldern aus der Elektrokiste driften lässt." Aber: "Hartmanns szenische Les- und Denkart ist durchweg erstaunlich."
Für nachtkritik.de (8.5.2013) bespricht Mounia Meiborg das Theatertreffen-Gastspiel der Produktion in einem Shorty.
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Ab September in Leipzig, sagt die Seite des Centraltheaters; es sieht nach einem richtig würdigen Spielzeitstart 2012/2013 aus, und ich freue mich auch schon auf diese Produktion !.
nein, leider nicht. Aber dann im September zur Eröffnung der neuen Spielzeit.
Wie die Zuschauer nach jeder Pause immer weniger wurden, war ziemlich traurig, aber nachvollziehbar. Wer Hartmann als Regisseur nicht kennt, dürfte erschlagen gewesen sein. Gerade die Verfremdungsszenen lösten ja heftigstes Kopfschütteln und Saalflucht aus. Krieg und Frieden als Newcomer im Erleben der Hartmann-Ästhetik hat sicher für viele den Eindruck eines nicht enden wollenden Krieges ohne Frieden erweckt, dem sie sich entziehen mussten. Dass hinter dem Dröhnen und Krachen aber (ganz am Ende) die Einlösung des Versprechens wartet, hat leider nur noch ein Drittel der Zuschauer mitbekommen.
am Donnerstag, 20.9., ist Premiere in Leipzig
Schade, daß sovielen Zuschauern auf dem Weg zum beeindruckenden Ende die Puste ausging. Ich glaube wirklich es lag nur an der Kondition der Zuschauer, die Pausengespräche jedenfalls waren voller Zustimmung.
H.M. wirkte, als würde sie schon seit Jahren in diesem Ensemble spielen. Das war wie eine große Familie. Das CT-Team hat seine Gäste liebevoll absorbiert.
Für alle, die das Stück gesehen haben: Führt der Nackte am Ende der nackten Kleinwüchsigen wirklich einen Finger ein?!
Natürlich auch so rum. Wollte niemanden zu nahe treten. Schade, dass ich von Leipzig so weit weg wohne.
@Redaktion: Die Frage unter 19 ist so bescheuert und perfide, warum ist die nicht der "Zensur" zum Opfer gefallen?
Habe ich nicht so genau gesehen, aber im Programmheft heißt es an dieser Stelle: "Treibjagd auf den Wolf. Sie fassen ihn, binden ihn, schieben ihm einen Knüppel in den Rachen." Da hier so ein (unwichtiges) Detail beschrieben ist, ist eine Übersetzung (Knüppel -> Finger => Penetration) durchaus denkbar.
Ja, Andrej ist wirklich gestorben. Wie kommst du auf die Frage, er könnte nicht wirklich gestorben sein?
Heike Makatsch stirbt am Ende des 2. Teils als Andrej, ist aber am Schluß des dritten Teils Napoleon, der sich in eine schöne Frau verwandelt, die sie ja ist, momentan schreitet sie in Cannes über den roten Teppich - ebenfalls schön...
Genial wäre es ja, wenn die Ruhrfestspiele eine zusätzliche Vorstellung ansetzen, damit jeder nochmal reingehen kann, der es bisher verpasst hat!
vicki legt den vinger in die vunde
die Festspiele sind genial, die Stücke sind genial, die Künstler sind genial, die Zuschauer sowieso. ALLES GENIAL!
Da spielen auch 5x Krieg und Frieden mit rein!
Toll!
Nun lasst mal die Kirche im Dorf!
So alt sind die Schauspieler ja nun auch wieder nicht, vor allem nicht Frau Makatsch
Was wäre denn die Performannce ohne die Sounds von Sascha Rings Gruppe Apparat gewesen ? Es war sagenhaft ! Wenn manche Leute in den Pausen nach Hause gehen, zeigt doch nur, dass sich für manche Möchtegern-Intellektuelle ein Abo nicht lohnt. Mich stört es nicht.
By the way: Die Makatsch wird immer besser !
Wenn ich Zeit hätte, würde ich nach Leipzig kommen.
Grüße
(Liebe Fragende, wir haben die Premiere bei den Ruhrfestspielen im Mai besprochen. Viele Grüße aus der Redaktion, Christian Rakow, hier der Link zur Nachtkritik: http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=6904:krieg-und-frieden-sebastian-hartmann-entfernt-sich-bei-den-ruhrfestspielen-von-leo-tolstoi-und-trifft-sein-epos-doch-ins-herz&catid=290&Itemid=40)
Die positiven Kritiken nach der Premiere in Recklinghausen finde ich bestätigt. Diese Inszenierung sollte man gesehen haben.
und jetzt aber Krieg und Frieden lesen
und auf nach Leipzig
und wirklich gutes Theater mit wirklich guten Spielern schaun
Wie geht es Euch dabei wenn tolle Bilder mit hundselenden Gags - "Wau wau, wuff, wuff, grrrräffäffaff!" - verziert werden?
Schade ist nur, das zur zweiten Leipziger Vorstellung der Saal nur zur Hälfte gefüllt war. Unfassbar eigentlich, das diese Inszenierung mit diesen Vorschusslorbeeren nicht mehr Leipziger anzieht.
Ich bin gebürtiger Hamburger und wurde durch die Ära Ivan Nagel 1972-1979 für das Theater begeistert. Das war tolles Theater unterschiedlichster Couleur, aber das Haus war immer halb leer. Nagel wurde beschimpft. Als er kündigte und Theater der Welt erfand, wurde er auf einmal zum Stadtheiligen erklärt.
Scheint ein Verhaltensmuster zu sein.
Schade.
hier handelt es sich um die identische FAZ-"Kritik" bzw. Rezension des Leipziger Dichters und Schriftstellers Clemens Meyer, dessen Werke (3) im Centraltheater Leipzig dramatisiert und uraufgeführt wurden und werden. Außerdem ist Clemens Meyer mit einer monatlichen Unterhaltungsveranstaltung "Stallgespräche" im Spielplan Centraltheaters vertreten. Gegenwärtig aber ist er auf Reisen, wie er sich im Online-Gästebuch des Centraltheaters vorgestern abmeldete. Nur zur Info - keine Wertung. Sehr zm Wohl.
Gab es irgendwelche Unterschiede?
Mir sind zwei Sachen aufgefallen, die ich bei den Ruhrfestspielen nicht gesehen habe:
* Beginn 3. Teil... Die Worte WAS IST KUNST groß über der Bühne, die zwölf Schauspieler rutschen wie tot die schräge Bühne herunter und bleiben einen Moment lang wie ein Leichenhaufen auf der Rampe liegen, bevor erst die Frauen aufstehen und etwas sagen, dann die Männer. -- Gab es das in der Ur-Version? Ich glaube nicht.
* Ende 2. Teil... Heike Makatsch alias Fürst Andrej stirbt. "Tod ist Erwachen." Im Bühnenhintergrund öffnet sich der Himmel, die Sonne scheint aufzugehen, etwas scheint zu erwachen. Ist mir so auch nicht in Erinnerung gewesen.
Anything else...?
Wo sind sie, die Besitzer der Stühle? Anstatt eines Namens steht dort Freund(in) des Centraltheaters. Ein ganzer Saal voll Freunde. Jedoch so mancher Platz bleibt leer. Bis auf ein paar Gesichter aus Berlin, die man immer sieht, sind Premieren in Leipzig doch eher Insiderpartys geworden. Und Clemens Meyer veröffentlicht seinen Bericht darüber (siehe Punkt 46 – Man sollte zumindest die Quelle angeben, wenn man den Text schon in solch Fleißarbeit abtippt.) eben nicht in der Leipziger Volkszeitung, sondern in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Das Leipziger Volk tobt dabei nicht gerade in Massen durch die Gottschedstraße, obwohl in den angrenzenden Clubs und Kneipen so gegen 2 Uhr morgens für eine Donnerstagnacht noch reges Treiben herrscht. Die Centraltheaterkantine als Insel der Seligen in einem Meer der öffentlichen Ignoranz. Grüppchen Vereinzelter stehen noch eine Weile im Foyer des Theaters und laben sich nach 5 ½ Stunden exzessivstem Theatergenusses an ein oder zwei Freibieren, bis man sich entschließt, entweder den Heimweg anzutreten, oder sich dem Eskapismus der Feierwütigen anzuschließen. "Los, aufs Eis! Aufs Eis! Los! Hörst du nicht!" Der Spiegel der Gesellschaft ist glatt und brüchig geworden, er trägt nicht mehr. Doch der Ballsaal tobt. Als wir noch träumten: Ich - бог - Kunst! Leuchtturm oder Elfenbeinturm? Sobald die Lichter der Nacht verloschen sind und die Wolken des Alltags wieder über diesen Monolithen der Kunst irgendwo zwischen Moskau und Paris ziehen, wird man es schon nicht mehr wissen. Was uns bleibt, sind die Bilder und Träume.
Was mir hier geboten wurde, gehört mit Abstand zum Besten, was ich jemals auf einer deutschsprachigen Bühne gesehen habe.
Haben Sie das Stück überhaupt gesehen?
Und woher kommt Ihre Abneigung gegen diese Art von Theater?
Zumindest interpretiere ich Ihren Beitrag dahingehend.
Meines Erachtens hat Hartmann den Stoff nicht ganz bewältigt. Weder dort, wo er versucht, Tolstoi halbwegs ernst zu nehmen (z.B. im auch in der Aufführung tief beeindruckenden Gespräch zwischen Pierre und Andrej über Altruismus und Egoismus, Teil 5, Kap. 11/12), noch wo er Tolstoi ironisiert - mit Recht, weil wir z.B. Tolstois Ansichten über Freimaurerei heute wirklich nicht mehr 1:1 akzeptieren können. Trotzdem hat sich Hartmann nicht vor dem Stoff und seinem Inkommensurablen gedrückt - "alles" in ein Buch reinpacken zu wollen. Und Tolstois Buch ist ja auch selbst oft albern: Marias ständig betonte Hässlichkeit, der köstliche Erbschleicherkampf der Megären um Besuchows Testament etc.
Vor allem aber sollte man über eine Prämisse der Aufführung diskutieren: Hartmann löst jede Zuschreibung eines Schauspielers/in zu einer bestimmten Rolle auf. Begründung: "Heute [nach Holocaust, post-holocaustischem Völkermord in Afghanistan, Tschetschenien, Syrien etc.] stehen epische Einfühlung und persönliche Tragik nur noch für EMOTIONALE MOMENTE des Ganzen, für den Versuch, etwas SCHÖNES zu finden in der Welt, ein wenig HOFFNUNG in einer Geschichte der ZERSPLITTERUNG."
Das ist keine Programmheft-Behauptung, sondern die Inszenierung endet mit einer Ansprache an das Publikum über Freiheit und Fremdbestimmung (Determination). Sie läuft darauf hinaus, dass wir alle irgendwie ferngesteuert sind von "den Verhältnissen", ökonomischen Zwängen und Strukturen, dem Ort wo wir leben (zur Zeit z.B. glücklicherweise nicht in Aleppo) und wann (z.B. zum Glück nicht 1933-45 in Deutschland).
Hartmann schüttet nun das Kind mit dem Bade aus, wenn er aus dieser richtigen Prämisse folgert, es gäbe keine selbstbestimmte Identität mehr und darum die Charaktere des Romans auflöst und das Verständnis unnötig verkompliziert, ohne wirklich eine theatralisch atemberaubende Darstellung für das Bewusstsein der Zersplitterung gefunden zu haben. Tolstoi hatte da ein viel überzeugendere Lösung, indem er z.B. Nikolaj Rostow in manchen Kapiteln abgrundböse handeln und dann wieder für die Menschlichkeit eintreten lässt. Diese ganzen philosophischen (manchmal auch nervenden) Gespräche über gutes und böses Handeln entspringen doch nur aus der Beschreibung, dass die Leute schuldig werden, bereuen, sich vornehmen besser zu handeln, im Bewährungsfall wieder schwach werden und sich wieder mies dem Andern gegenüber verhalten.
Sicher: Der Mensch ist niemals ganz frei. Wir leben alle in doofen Zwängen. Aber dann muss man die Freiheit eben erfinden, um Widerstand zu leisten. 2 Blocks vom Theater entfernt befindet sich die Leipziger Stasi-Zentrale, jetzt Museum. Hier wird von Leuten erzählt, die ein kleines Stück Teilfreiheit haben wollten. Was sie erreicht haben, sehen wir.
Hier ist zum Greifen nahe, dass Hartmann den utopischen Überschuss, der in Tolstois scharf konturierten "Persönlichkeiten" und Charakteren steckt, verschenkt. Die Prämisse seiner Inszenierung (es gibt keine Identität in Verhältnissen der totalen Determination mehr) ist mir einfach zu verzagt, zu quietistisch, analytisch nicht scharf und theatralisch nicht niederschmetternd genug.
Und noch etwas zu 50:
Sobald Hartmann weg ist, werdet ihr seine Intendanz in den Himmel heben und euch danach zurücksehnen.
Ja, es ist Hampelei dabei. Aber eine, die Euch zielgenau auf die Hühneraugen tritt. Das ist halt keine Unterhaltung mehr und kein bildungsbürgeriche Selbstbestätigung mehr, sondern eine Zumutung, eine geistige Anrempelei. Aber eine Zumutung von solcher Größe und Ernsthaftigkeit, auch Bildgewalt müsst ihr erstmal finden.
Leipzig ist wirklich nicht ganz bei Trost, dass es Hartmann rausschmeisst, statt seine Entwicklung zu fördern. Entwicklung nicht in Hartmanns Interesse, sondern in Leipzigs Interesse.
Kant ist auch keine leichte Lektüre. Den würdet ihr wahrscheinlich auch rausschmeissen.
Ich habe diese Quatschassoziation "hundeelend - wuff wuff" geliebt.
1. ist es ein Shakespeare-Mittel: comic relief zu schaffen (siehe die Quatschszenen in Shakespeares Königs=Kriegsdramen: die Musterungsszenen in Heinrich V., IV., Vi z.B.)
2. zeigt es Tolstois Kindlichkeit, die es bei Tolstoi eben auch gibt, z.B. das ständige Herumreiten auf Marjas Hässlichkeit oder die Kinderspiele im Hause Rostow oder die Speisemetapher der Scherer, die die Stargäste ihrer Parties immer wie Spanferkel auf einem Silbertablett serviert.
3. gibt es in "Krieg und Frieden" absolute Quatschszenen, z.B. die wunderbare Prügelei der Gesellschaftsweiber um das Testament des sterbenden Grafen Besuchow in Anwesenheit des Sterbenden.
Krieg und Frieden enthält eben alles. Auch den Quatsch.
@25: Wenn ich mich richtig erinnere (es gab so viel zu erinnern), verwandelt sich Heike M. im 3. Teil aus Napoleon nicht in eine schöne Frau, sondern in die hässliche Marja, deren Hässlichkeit ja der running gag des Romans ist.
würde die inszenierung in berlin, münchen oder hamburg laufen, wäre sie eine sensation und über monate ausverkauft. so ist sie momentan noch mehr oder weniger ein geheimtip mit völlig zu recht nur guten kritiken. vielleicht ändert sich das dann mit der einladung zum theatertreffen? nicht dass diese ein gütesiegel wäre, aber dann hätte die inszenierung endlich die aufmerksamkeit, die ihr gebührte.
Ich möchte ungern irgendein Statement abgeben, bevor ich diese Inszenierung letztlich gesehen haben werde, Sie lockt mal wieder nach Leipzig !!, aber Guttenbergs Reaktion
auf diese gibt gewiß allemal einen guten Ansatz dafür, Linien aus "Krieg und Frieden" bishin zum Heute zu erweitern, und das hat möglicherweise gerade sehr viel damit zu schaffen, was es heißen mag,
daß "wir" dem "Freimaurertum" (Besuchows oder Tolstois -"Freimauer im Geiste"-) anders gegenüberstehen (so wir es tun !) als Tolstoi zu Zeiten der Verfertigung des Romanes. Was genau ist da anders an
"unserer" Haltung ? Gibt es da Diskussionsmöglichkeiten jenseits des Totschlagbegriffes "Verschwörungstheorien" ?? Jedenfalls, eine Probe aufs Exempel folgen lassend, schmeißt Google bei der Verknüpfung Tolstoi-Freimaurer ua. eine Seite namens "Freimaurer-wiki" raus: wer mag, kann hier eine Zusammenstellung von die Freimaurerei betreffenden Passagen des Romans lesen.
dieser latchinian hatte leider recht, in der zeit, als er beschrieb, dass hier(in leipzig) theater gemacht wird, das am publikum vorbeigeht, trotz einiger, rein künstlerisch betrachtet origineller ansätze.es war nur halbvoll oder halbleer, und irgendwann ewrmüdend vor lauter metaebenen.
ich bekam plötzlich sehnsucht nach klarheit, direktheit, einfachheit. tut mir leid.
Liebe Waage, ich empfehle, lieber die Originalkapitel über die Freimaurerei bei Tolstoi selbst zu lesen. Es sind nicht viele: 5. Teil, Kap.2-4, 10, 6. Teil, Kap. 7, 8 und 10. Die Rituale, die Mystik und die etwas süßliche Religiosität sind sicher zeitgebunden, haben aber einen auch heute noch nachvollziehbaren Kern.
@57:
Ich verstehe Ihr Bedürfnis nach mehr Klarheit. Direktheit hat Hartmann ja in Eulenspiegelhafter Weise, wie das Beispiel "Ich fühl mich hundeelend- wuff wuff" beleget.
Das Problem liegt vielleicht darin, dass das Leipziger Schauspiel ästhetisch pluralistischer sein müsste und neben dem Hartmann-Stil auch eher klassische Literatur-Inszenierungen anbieten müsste, um unterschiedliche Publikumserwartungen zu bedienen.
Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2012/11/17/wir-schattenwesen/
http://soundcloud.com/muterecords/apparat-krieg-und-frieden-a/s-ptR6H
Liebe Anne, auch wenn Dein Eintrag schon einige Monate her ist, muss ich darauf eingehen. Gestern lief die letzte Vorstellung von Krieg und Frieden und sie war ausverkauft!
(Fast alle Vorstellungen waren sehr gut besucht oder ausverkauft.)
Es gab kräftigen und langen Applaus, teilweise sogar Standing Ovation. Und Abschiedsschmerz weht auch durch den Saal. Denn nur noch wenige Monate werden wir dieses Theater in Leipzig erleben dürfen.
Also nichts mit Deinem Urteil, dass Sebastian Hartmann am Publikum vorbei inszeniert.
Ruhe in Frieden, Krieg und Frieden!