alt"Im Krieg und in Berlin ist alles erlaubt"

von Eva Biringer

Berlin, 11. Mai 2012. Niedergerissen, überfallen, geplündert, verwüstet, zerstört werden muss die Stadt. Als Waffe dient das ewige Zitat vom Zitat, das kulturelle Sampling und Sekundärquellen-Hopping, mal gesungen, mal gebeatboxt. Wortlawinen, die umherkullern wie die kleinen bunten Pillen im fiktiven Technoclub "Der Maulwurf". Aufploppende Referenzsysteme und Metaebenen wie Kapitalismuskritik und Theodizeeproblem inbegriffen, allerdings mehr als Fußnote denn als Fließtext. Jonas Jagow, Protagonist des gleichnamigen Stückes von Michel Decar, das beim Stückemarkt des Theatertreffens als einer von sechs ausgewählten Beiträgen läuft, hastet kurzatmig durch ein eklektizistisches Abziehbild von Berlin. Mal erinnert das an Thomas Melles Sickster, mal an Elfriede Jelineks Sprachungetüme.

Großstadt mit vielen Referenzsystemen bei Michel Decar

Darstellerisch gelöst wird die Undarstellbarkeit dieses Textfragments im Haus der Berliner Festspiele durch multiple Leserpersönlichkeiten (Julischka Eichel, Patrick Wengenroth, Michael Schweighöfer, Lisa Hrdina, Sebastian Zimmler), die abwechselnd die willkürlich nummerierten, dabei keinem System folgenden Szenen vortragen. Allen voran Sebastian Zimmler als Jonas Jagow, der seinen Schlips nur noch als ironischen Verweis trägt, nämlich aufgemalt. Friederike Heller belässt in ihrer szenischen Einrichtung das Erzählte überwiegend in der Vorstellung der Zuhörer, mit Ausnahme einiger Salzpackungen, die zum Beispiel über Jonas' "einseitig offengelegter offener Beziehung" mit Sonja oder über ganz Berlin niedergehen – stellvertretend trifft es dann die vorderen Zuschauerreihen.

michel decar 280 hans goedecke uMichel Decar © Hans GödeckeMichel Decars knapp sechzig Minuten dauernder Akustiktrip wird zu einem einzigen magischen Theatermoment: Magisch, weil vor dem Fensterpanorama des Festspielhausgartens ein Moloch aufersteht, einzig durch die ungeschliffenen, hakenschlagenden Sprachkaskaden. Vermutlich funktioniert das gerade hier so gut, vor einem Publikum, das genau weiß, was man sich unter dem "jungen Künstlertyp mit Strähne im Gesicht" vorzustellen hat – und weil Berlin und seine Bewohner sich eben ganz gerne selbst bespiegeln.

Die Titelfigur bleibt dabei ungreifbar; wir stellen ihn uns als hitzigen Philosophiestudenten vor, als Zugezogenen, denn nur einen solchen treibt gemeinhin eine derart exzessive Berlin-Bessesenheit um (der Autor Michel Decar, Jahrgang 1987, stammt übrigens aus Augsburg; wir lagen also nicht ganz falsch mit unserer Vermutung). Jonas Jagow ist eine Kunstfigur, wie seine Stadt eine Metapher ist für etwas ungeheuerlich Anderes: "Im Krieg und in Berlin ist alles erlaubt."

Transsexualität bei Julia Holewińska

Was passiert, wenn die Zerstörung eine innere ist, eine, die sich gegen den eigenen Körper richtet, davon erzählt Julia Holewińska, 1983 in Warschau geboren (siehe ihr Porträt im Theaterbrief 8 aus Polen), in "Ciata obce – Fremde Körper." Sichtbares Zentrum von Anna Bergmanns szenischer Umsetzung ist ein Holztisch mit Spitzendecke, erzählter Zeitraum die Jahre 1984 und 2010. Aus dem Kommunismus wurde der Kapitalismus, aus Adam (Jana Schulz) wurde Eva (Matthias Bundschuh). Sehnsüchtig wartet sie, todkrank, verarmt und vereinsamt, auf die Geburt ihres Enkelkindes. Weil ihre Schwiegertochter in spe fürchtet, ihr Kind könnte auch so ein "hundsgewöhnlicher Perverser" werden, treibt sie das Ungeborene ab.

Holewińskas klug erzählte Leidengeschichte eines Menschen im falschen Körper verzeiht die unglücklichen Sowjetklischees der Inszenierung (Wodka in Plastikbechern!) und schafft es, der leidigen Geschlechterdebatte einen selten gezeigten Aspekt (Transsexualität) abzugewinnen. Zumal "Ciata obce – Fremde Körper" die Grenzen einer szenischen Lesung hinter sich lässt, weil man, anders als bei "Jonas Jagow", der das Ablesen selbst performativ in Szene setzt, vergisst, dass die Darsteller den Text nicht frei sprechen.

julia holewinska tomasz szerszen uJulia Holewinska © Tomasz Szerszen

Frei von Furcht

Man mag gar nicht aufhören, sich über die großartige Jana Schulz zu freuen (im Theatertreffen-Gastspiel Macbeth besetzte sie auch eine männliche Rolle): Ganz gleich, ob sie sich vaterlandsgefährdende Nutten herbeifantastiert, oder als liebender Vater ihr Kind in den Schlaf singt. Matthias Bundschuh spielt die Eva als eine Selbstzweiflerin, die sich ihrer eigenen Weiblichkeit mit im Stil einer Dauerwerbesendung angepriesenen Kosmetika vergewissern muss. Ab und an haucht Bundschuh seinen Text von draußen über ein Mikrofon in den Zuschauerraum und die ganze Schlechtigkeit der Welt geht auf ihn nieder in Form des realen Wolkenbruchs.

Zu einer Art surrealen Überlappung der Identitäten gerät die Schlussszene, in der sich Adam und Eva im Krankenhaus begegnen, "frei von Furcht", wie es in der Regieanweisung heißt. Adam wartet auf seine Geschlechtsumwandlung, Eva, auf ihre Darmkrebs-OP. "Ich sterbe", sagt Adam. Eva antwortet: "Ich weiß, ich auch." Dass die Zerstörung im Menschsein angelegt ist, erfahren die Beiden so unmittelbar schmerzhaft wie Jonas Jagow. Wo dieser brüllt und wütet und sich den größtmöglichen Zerfall herbeisehnt – der schließlich in Form eines Asteroiden stückimmanent Wirklichkeit wird –, da wünschen sich Adam und Eva ein Happy End und nehmen leise Abschied.


Jonas Jagow
von Michel Decar
Szenische Einrichtung: Friederike Heller, Dramaturgie: Marion Hirte
Mit: Julischka Eichel, Lisa Hrdina, Michael Schweighöfer, Patrick Wengenroth, Sebastian Zimmler.

Ciała obce – Fremde Körper
von Julia Holewińska
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
Szenische Einrichtung: Anna Bergmann, Dramaturgie: Marcel Luxinger, Kostüme: Claudia González Espíndola, Musik: Heiko Schnurpel
Mit: Matthias Bundschuh, Johann Jürgens, Sina Kießling, Felix Kramer, Kathleen Morgeneyer und Jana Schulz

www.berliner-festspiele.de


Den Bericht über den Auftakt des Theatertreffen-Stückemarkts, mit szenischen Lesungen der Texte von Pamela Carter und Wolfram Höll, finden Sie hier.

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