Kein Verzeihen, kein Erbarmen

von Juliane Voigt

Schwerin, 11. Mai 2012. Welches abgehalfterte Provinzstädtchen würde sich nicht über so eine Tochter der Stadt freuen, die zurückkehrt aus der großen Welt, die Taschen voller Geld? Da werden Stiftungen gegründet, Kapital angesiedelt und Spenden ausgeteilt. Und deshalb stellt man sich auch gern geschlossen am Bahnhof auf. So auch gestern Abend auf der Schweriner Bühne. Bürgermeister, Ordnungsmacht, Lehrer, Arzt (in Personalspar-Union Klaus Bieligk), der Pfarrer und der Krämer Alfred nebst Gattin Mathilde (Lucie Teisnigerova). Wie der Name schon sagt: Güllen ist relativ glamourfrei und vor allem pleite, nichts ersehnt man mehr als eine rettende Finanzspritze. Eine Stadt aus dem Geiste Dürrenmatts, dem 1956 mit dieser von ihm so bezeichneten "tragischen Komödie" der Durchbruch als Autor gelang.

Brigitte Peters kommt als die erwartete Claire Zachanassian aber erst gar nicht aus dem Zug. Sie ist nämlich schon da und sieht sich die Posse vom ersten Rang aus an, bevor sie im zeitlosen Chanel mit raumnehmendem Temperament die Bühne an sich reißt. Clara Wäscher, so hieß sie einmal. Sie ist ein Ereignis. Und soviel weiß man inzwischen: Sie ist durch sieben Ehen unbeschreiblich reich geworden. Die Spannung steigt, als sie verkündet, 20 Milliarden (sagen wir Taler) in die Stadt zu investieren. Allen steht spontan der Mund offen. Vor allem Alfred (Jochen Fahr) gockelt nun um sie herum. Noch bildet er sich etwas darauf ein, dass er einst ihr Geliebter war. Das wird sich ändern. Sie will nämlich ihn. Aber tot. Wie auch immer die das anstellen werden. 20 Milliarden für einen kollektiven Mord! Und damit beginnt der eigentliche wunderbare Theaterabend.

Spleen, Psychoterror oder/und Rache?
Zwei Stunden und 30 Minuten dauert es, bis Alfred tatsächlich im Sarg liegt. Bis dahin wächst quälend langsam aber stetig seine Lebensgefahr. 20 Milliarden! Die Stadt wäre gerettet. Aber selbstverständlich nicht um diesen Preis. Langsam aber werden Schulden gemacht. Alle haben plötzlich nagelneue Markenturnschuhe an. Der Zweifel nagt an ihm. Jochen Fahr ist grandios darin, in Unruhe zu geraten. Nervöses Augenzucken, skeptische Tiefblicke: "Wer soll das denn bezahlen?" Da geht es zum ersten Mal mit ihm durch. Er sieht es kommen, und er wird verrückt dabei. Die Todes-Gefahr lauert zuerst als schwarzer Panther, der Schmusekater der alten Dame, für den sich jeder mit einer Waffe ausstattet. Es ist nur ein Fauchen, das in einem barbarischen Feuerhagel erlischt. Claire zuckt die Schultern und zieht sich schon einmal ein Brautkleid an. Sie wartet. Das kann sie.

derbesuchderaltendame1 560 silke winkler uAlte Dame in Chanel (Brigitte Peters) © Silke WinklerDenn Alfred trägt schwere Schuld an ihr. Er hat sie ein Mal zu wenig, damals, nicht geheiratet. Und so wurstig, wie Männer eben sein können, wenn sie sich um Verantwortung drücken, so ungläubig steht er jetzt vor der Konsequenz: Der Rache einer Frau! Die Gerechtigkeit einkauft wie Immobilien. "Für Geld kann man alles kaufen!" Brigitte Peters spielt diese Unerbittlichkeit verstörend liebenswürdig. Es gibt Szenen in vertrauter Zweisamkeit, in der sie beide in Erinnerungen schwelgen. Vor Landschaftstapete, als Soap-Opera gefilmt, großes Kino über der Bühne. Erscheint ihre Idee am Anfang noch als so was wie der Spleen einer verrückten Alten – bald ist es Psychoterror. Rache? Wo passt das heute noch hin? Vielleicht in ein rückschrittliches albanisches Dorf. Das Leben hat sie reich, aber nicht reif gemacht. Sein Leben gegen das ihre? Das war eh schon 30 Jahre lang Siechtum. Aber die Stadt vergisst selbstverständlich kollektiv jede Moral, wer knickt nicht bei 20 Milliarden ein? "Es ist nicht wegen des Geldes!", lügt unverdrossen der Bürgermeister (Stephane Maeder). Und Claire übergibt den Scheck an die Stadtsparkasse.

Kein Geld für Schauspieler
Die Inszenierung ist schon deshalb so gelungen, weil jede Rolle perfekt besetzt ist. Rüdiger Daas, der Pfarrer, findet irgendwann heraus, dass man mit Geld auch Kirchen sanieren kann. Dem Polizisten Sebastian Reusse verengt sich das Gesichtsfeld zunehmend. Er drückt da schon mal beide Augen zu, falls jemand dem Alfred zu nahe kommen sollte. Tadellos besetzt selbstverständlich auch der Gerichtsvollzieher in Person des Intendanten Joachim Kümmritz ("Kein Geld für Schauspieler!", erklärt er später). Ohne das Medium zu strapazieren, schaffen es Regie und Bühne per Video in eine zweite Ebene. Intime Momente werden wie auf einem Touch-Screen aufgezogen. So rückt der Bürgermeister in absoluter Totale damit heraus, dass es Alfred der Stadt schuldig sei, ihnen die Drecksarbeit abzunehmen. Und das kommentieren die zwei zeitgleich von der Bühnenkante. Henning durchbricht die vierte Wand, spannt das Publikum als Stadtbevölkerung in die Handlung ein. Man ist einfach drin. Es ist komödiantisch und saukomisch. Auch unfreiwillig, als Alfred noch einmal aus dem Sarg klopft, obwohl er schon tot ist. Aber über allem liegt schwer wie ein großer schwarzer Vogel: Schuld! Schuld! Schuld! Kein Verzeihen, kein Erbarmen. Etwas ist nicht mehr gut zu machen. Die Dürrenmatt'sche kontingenzbewältigende Einlassung auf seine Zeit. Die große alte Dame Vergangenheit. Die auch uns immer wieder gerne besuchen kommt.


Der Besuch der alten Dame
von Friedrich Dürrenmatt
Regie: Marc von Henning, Bühne und Kostüme: Jörg Kiefel.
Mit: Brigitte Peters, Andreas Lembcke, Amadeus Köhli, Bernhard Meindl, Jochen Fahr, Lucie Teisingerova, Stephane Maeder, Rüdiger Daas, Klaus Bieligk, Sebastian Reusse, Brit Claudia Dehler, Joachim Kümmritz.

www.theater-schwerin.de

 

zeitstiftung ermoeglicht

 

 

 

Der Nord-Schwerpunkt auf nachtkritik.de berichtet in dieser Spielzeit in loser Reihenfolge über die Theater in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern, zwei Regionen, in denen sich die Kunst, so sie nicht unmittelbar ökonomischen Interessen zugute kommt, nur schwer gegen die Zwänge der Haushaltskrisen behaupten kann. 


Kritikenrundschau

Im Einklang mit dem Dürrenmatt'schen Diktum "Nichts schadet dieser Komödie...mehr als tierischer Ernst" inszeniere Marc von Hennig diesen Abend, schreibt Manfred Zelt in der Schweriner Volkszeitung (14.5.2012). Die Geschichte laufe als "groteske Erzählung von der Erosion der Moral unter der Sonne des Geldes" ab. "Dazu Barockmusik, Pantherfauchen, Blues und Pop." Die Claire von Caroline Peters sei "kein düsterer Racheengel", sondern selbst eine "Zerstörte: Medea im Olymp des Geldes". Im Ganzen gebe es an diesem Abend "Theater mit Anspruch. Zu recht! Starker Premierenbeifall."

Marc von Hennig habe Dürrenmatts Stück "auf subtile Weise neu belebt", schreibt Dietrich Pätzold in der Ostseezeitung (14.5.2012). Er hat "den Dürrenmattschen Mordspreis von einer Milliarde verzwanzigfacht, hat aus den klassischen drei Akten einen skurrilen epischen Bilderbogen mit sieben Kapiteln gemacht, in denen jedes noch so banale Ereignis unter huldvoller Anteilnahme von Fernsehteams verläuft". So biete der Abend "keine schrille Farce, sondern eine Art makabren Realismus, der das Groteske Dürrenmatts tiefer auf uns bezieht".

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