Strahlende altWanderin in dieser Welt

von Christian Desrues

Wien, 12. Mai 2012. Muss man ein Stück von Botho Strauß nach Australien exportieren, um es dann in den europäischen, deutschsprachigen Raum zurückzuholen, noch dazu auf Englisch? Muss man nicht, es befremdet zunächst sogar ziemlich, aber wenn jemand wie Benedict Andrews sich der Sache annimmt, Cate Blanchett so wie hier die Lotte spielt, dann sollte man das öfter machen.

"Groß und klein" ist die Geschichte, in zehn Bildern dargestellt, der Reise von Lotte Kotte. Die ist "nicht jung, nicht alt, nicht groß, nicht klein", sieht eigentlich gut aus, will Gutes tun mit sich, sucht Harmonie und eine gewisse Ordnung für sich und, wenn es sich ausgehen sollte, auch noch für alle Anderen, denen sie auf ihrer Reise begegnet. Nach der Trennung von ihrem Mann Paul "lebt sie in Scheidung", damit hat sie sich auf eine ihr eigene Art irgendwie abgefunden. Aber eben doch nicht wirklich.

Amazing Sehnsüchte

Sie ist unglücklich, aber noch nicht verzweifelt, will in ihrem persönlichen Drama die Möglichkeit eines Neuanfangs sehen, hat aber keine Ahnung wie das gehen soll. Sie ergeht sich in schlichten philosophischen Überlegungen, geistigen und sexuellen Sehnsüchten, merkt aber bald, dass es sich nur um Klischees handelt, die sie sich vor- und aufsagt, und "amazing" findet. Sie will andere bewundern, sucht die Nähe von Fremden, belauscht durchs Fenster Ehepaare in ihrem Saarbrückener Elend, schmeichelt ihnen. Die gehen auch kurzfristig darauf ein. grossundklein3 560 lisa tomasetti uCate Blanchett in "Groß und klein" © Lisa Tomasetti

Aber Lotte löst nur kurz Interesse aus, sie entfacht etwas für einen kleinen Moment und wird dann zurückgestoßen, ignoriert und muss weiter ziehen. Von Marrakesch nach Saarbrücken, Essen, Leppen, Sylt. Sie würde so gerne teilhaben an der Existenz der Anderen, sich an ihnen festhalten, mit ihnen teilen und sich ihnen mitteilen, mit ihnen sein. Es geht nicht, gar nicht. Gar zu groß ist die Apathie, die Lethargie, das Desinteresse und das Falsche um sie herum. Aber diese Frau hat beeindruckendes Durchstehvermögen. Sie ist ausgesprochen ehrlich, auch wenn sie versucht sich selbst zu täuschen, überzeugend in ihrer Menschlichkeit.

Perfekte Besetzung

Cate Blanchett ist schlichtweg die perfekte Besetzung für die Rolle der Lotte. Die Kritiken in Sydney und London waren überschwänglich, das heißt, dass man in Wien schon vorweg etwas skeptisch war. Man geht halt einmal "Weltstar auf der Bühne" schauen, in der Halle E des Museumsquartiers. Wird schon ganz interessant sein, sind ja auch alle gekommen. Ausverkauft, alle Vorstellungen! Na dann!

Ja, und dann... erlebt man eine "Weltschauspielerin" in einer Rolle, die für sie geschaffen wurde. Unglaublich was Cate Blanchett hier in über zwei Stunden, ständig auf der Bühne, im wahrsten Sinn des Wortes, "aufführt"! So erschütternd, verletzlich, zerrüttet und dennoch stark und humorvoll eine Figur, nicht nur die einer Frau, sondern die eines Menschen, zu geben, nicht bloß zu spielen, das ist wirklich große Schauspielkunst. Allein wie sie ihre Stimme und ihren Körper einsetzt ist absolut bewundernswert, unendlich liebenswert und berührend sowieso.

Alle weiteren Darsteller der Sydney Theatre Company, es sind ja nicht wenige, Robert Menzies als jammernder, gemeiner Ehemann Paul, Sophie Ross in mehreren Rollen, Chris Ryan als einsames Schachklubmitglied, Richard Piper, um nur sie zu nennen, spielen ganz wunderbar mit Cate Blanchett, nicht für sie oder um sie herum. Sie verkörpern die ewig gleichen Charaktere der Scheinheiligen, der Schnösel, der zynischen Selbstgerechten. Aber dieses Stück ist nun einmal Lottes großer Auftritt.

Menschliche Behausung

Die Bühne von Johannes Schütz ist ein wahres Meisterwerk. Mit scheinbar einfachsten Mitteln wird hier die große Leere der menschlichen Behausungen in wenigen Augenblicken auf das bedrückende der Wohnung eines einsamen Wesens zusammengestaucht, durch bloßes Verschieben der Wände, das Zurückziehen einer Gardine, schließt der Eine den Anderen aus, sperrt ihn ein. Weiße Fahrbahnstreifen führen ans hintere Ende der Bühne, also ins Nichts.

Regisseur Benedict Andrews hat mit der Textübersetzung des englischen Dramatikers Martin Crimp nicht bloß eine angelsächsische Adaptierung des Werks von Botho Strauß inszeniert, er hat dem Stück eine neue, zeitgemäße Dimension gegeben. Es ist tieftraurig und man muss trotzdem sehr viel lachen. Schön ist das. Und Cate Blanchett hat Lotte neu erfunden.

Groß und klein (Big and Small)
von Botho Strauß
Englische Neuübersetzung von Martin Crimp
Regie: Benedict Andrews, Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Alice Babidge Musik und Sound Design: Max Lyandvert Cate Blanchett, Lynette Curran, Anita Hegh, Belinda McClory, Josh McConville, Robert Menzies, Katrina Milosevic, Yalin Ozucelik, Richard Piper, Richard Pyros, Sophie Ross, Chris Ryan, Christopher Stollery, Martin Vaughan.

www.wienerfestwochen.at

 

Kritikenrundschau

Margarete Affenzeller schreibt in der Wiener Zeitung Der Standard (14.5.2012), dass ein "rätselhaftes Stück" wie "Groß und klein" des "konservativen und heute weitgehend aus der Mode geratenen Autors Botho Strauß plötzlich wie frisch getrimmt daherkommt", stimme "froh". Der "hohe Ton" des Botho Strauß verflüchtige sich in dieser englischsprachigen Fassung "einigermaßen", weil "Übersetzer Crimp" auf "fast provokante Art zeitgenössisches Vokabular" eingeschmuggelt habe. Trotz dieser "Hilfestellungen" werde man dieses Stücks und seiner "zeitlosen Hauptfigur" nicht "so recht habhaft". Dennoch lasse Cate Blanchett "viel Licht" erstrahlen. Sie tänzele wie ein "fast schelmischer Clown", zugleich stecke in dieser "scheinbar leichthändigen Darstellung Blanchetts auch Tragik". Der Einsatz "exquisiter" Technik und insbesondere der von Blanchett "bestechend" beherrschte "Körper- und Stimm-Slapstick" weise die "auf Distanz bleibende Inszenierung" als "außereuropäisches Produkt" aus.

Barbara Petsch schreibt in der Wiener Presse (14.5.2012): Beim Lesen wirke das Stück "etwas behäbig, langatmig und rätselhaft". Das Zeitdrama habe sich weiterentwickelt. Trotzdem triumphiere "die Substanz des Werkes" über seine "gemächliche Dramaturgie". Martin Crimp habe "klug übersetzt, mit britischem Wortwitz und kleinen Aktualisierungen", "Das Beste: der skurrile angelsächsische Humor", über Strauß' "allzu vertrackte Kompliziertheiten" brettere die Aufführung einfach hinweg. Cate Blanchett erweise sich als "trittsichere Theaterschauspielerin". Sie gebe der Lotte-Kotte ein "Pathos wie von Shakespeare", verströme aber auch "Herzenswärme" und erweise sich "als versiert im Pointenservice". Manchmal orgele sie "ein wenig zu laut", meistens aber halte sie den Zuschauer mit "einer Aura in Atem, die Filmstars keineswegs angeboren ist". Die 13 Personen, "die sonst noch mitspielen", seien "guter bis sehr guter Durchschnitt". Bei Benedict Andrews entstehe ein "nicht gerade flottes, ... doch recht zügiges 'well made play' ".

Gerhard Stadelmaier schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (14.5.2012): Botho Strauß' "Groß und klein" sei das Drama der bundesdeutschen siebziger Jahre gewesen und Lotte Kotte damals zur "bundesrepublikanischen Ikone des Frauenleidens" geworden. Jetzt begeistere Cate Blanchett als "ausgelassene, schräg elegante Clownin". Das "alte deutsche Gesellschaftsdrama" werde zur "Screwball Comedy, Strauß zum Well-made-Player im globalen Gelächterspiel". Jeder "mögliche Schmerzensanklang" werde bei Blanchett zur "fröhlichen Ungeniertheit ... als ob sie mit jedem Wort tänzele, leicht in der Luft." Den Dialog mit dem "unsichtbaren Gott" tanze sie wie eine "der besten Ballerinen aus dem Pina-Bausch-Stall", und mit der Hochhausfassade und den Klingelschildern flirte sie, als sei "der Beton auch nur ein großer versteinerter Mann". Man lache hier nicht über "die Leiden einer Frau", man lache darüber, "was sie sich traut". " ... kein Niedergang", sondern ein "leichtfüßiger, unter- und oberschwellig lässig sexualisierter Slapstick-Gang von Pointe zu Pointe".

Helmut Schödel schreibt in der Süddeutschen Zeitung (14.5.2012): Strauß habe eine "engelhafte Frau" erfunden, die innerlich an ihrer Sehnsucht nach Menschlichkeit zerbreche. In Wien sei der Abend ein "einziges furioses Solo" für Cate Blanchett: "Wenn der Optimismus an seine Grenzen stößt und es für Pessimismus schon zu spät ist, bleibt die Psychose." Blanchett "sitzt an der Rampe ... , den Mund dickrot überschminkt, das blonde Haar gescheitelt, als hätte sie die Rolle ihres Lebens schon erkannt: die Clownin." Es werde "viel gelacht", denn Blanchett "scheint sich auch mit der Verstellungskunst beginnender psychischer Erkrankungen zu beschäftigen und blendet, wo es nur geht".

Stephan Hilpold in der Frankfurter Rundschau (14.5.2012) findet "Groß und klein" sei ein "Dokument theatraler Gesellschafts- und Konsumkritik der 70er- und 80er-Jahre". Eigentlich habe Luc Bondy Regie führen wollen. Eine Krankheit habe dieses Vorhaben vereitelt. Unter Benedict Andrews Regie werde die Inszenierung zu einem "rasanten Bilderreigen einer durch und durch komischen Beckett'schen Endzeitfigur". Wie Cate Blanchett diese mit Leben erfülle, sei "schlichtweg phänomenal". Glück und Unglück, Komik und Tragik, so eng beieinander, dass sie kaum voneinander zu unterscheiden sind, das sei das Konzept, die Schauspieler allesamt "formidabel". In Kurzszenen entwürfen sie "ein präzise umrissenes Figurenarsenal, halb Satire, halb Karikatur". Die Lotte der Cate Blanchett wage ein "ekstatisches Tänzchen am Abgrund", ein grandioser Auftakt der Festwochen.

Kommentare  
Groß und klein, Wien: Mangel?
"So erschütternd, verletzlich, zerrüttet und dennoch stark und humorvoll eine Figur, nicht nur die einer Frau, sondern die eines Menschen, zu geben, nicht bloß zu spielen, das ist wirklich große Schauspielkunst."
Könnte mir bitte jemand erklären, was dieser Satz sagen will? Dass die gemeine Frau doch noch einen Mangel hat, im Gegensatz zum Mann, der immer auch schon universeller Mensch ist? Und das es Cate Blanchett hier - als Ausnahmefall quasi - gelingt die Frau irgendwie zum Menschen zu vervollständigen?
Groß und klein, Wien: Kein Kritikenwatch
@iska
Ich denke, hier ist Christian Desrues im Überschwange der Bewunderung für die Schauspielerin einfach der Satz verunglückt. Da fehlt etwas, so in der Art: ... eine Frau, mit tief menschlichen Zügen. o.ä. Das kann man schon so sagen, ohne diskriminierend zu wirken. Denn die Rolle ist die einer Frau und nicht die eines Mannes. Und biologisch ein Mensch zu sein, heißt noch lange nicht auch menschlich zu handeln, egal ob Frau oder Mann. Mann/Frau kann aber auch jedes Wort auf die Goldwaage legen und "Kritikwatch" spielen. Dann lese ich aber irgendwann diese Seite nicht mehr.
Groß und Klein, Wien: nicht Leppen, sondern Lennep
Lol lol lol, das ist nicht *Leppen*, sondern Lennep, ein Ortsteil von Remscheid im Bergischen Land, wo Lotte her kommt.
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