altDie Leere nach dem Sturm

von Kai Krösche

Wien, 17. Mai 2012. Als wollte er das Theater selbst für nichtig erklären: Cornelius Obonya alias Caligula weigert sich zu Beginn schlicht und ergreifend, laut genug zu sprechen, dass ihn sein Mitspieler Hermann Scheidleder alias Helicon versteht. Mehr als einmal muss dieser die Souffleuse bitten, ihm zu wiederholen, was der acht Meter entfernte Caligula gerade noch zu ihm gesagt hat. Doch sein Herr lässt seinen Untertanen vor versammeltem Publikum auflaufen und macht sich mittels seiner Nuschelei über ihn lustig. Zumindest soweit er sich noch lustig machen kann.

Nach dem Tod seiner Schwester (und Geliebten) nämlich ist Caligula, Herrscher über Rom, der fixen (und wahnsinnigen?) Idee verfallen, die ultimative Freiheit mittels einer Umwertung aller Werte samt Schreckensherrschaft, Mord und Totschlag zu erreichen; eine Freiheit, die am Ende zwangsläufig in die völlige Leere, den (nicht nur moralisch) luftleeren Raum führen muss. Bis auch Caligula diesen Abgrund erkennt, vergehen jedoch im Wiener Burgtheater Kasino zwei spannende Stunden vor einer langen gedeckten Speisetafel – und einem riesigen Konstrukt aus mehr als einem Dutzend Schlagzeugbecken, die einmal durch einen gezielten Schuhwurf, ansonsten immer wieder wie von Geisterhand zum bedrohlichen Vibrieren und Scheppern gebracht werden.

caligula1 280 georg soulek u© Georg Soulek

Rückkehr zum Dramentext

Nach seiner in Zusammenarbeit mit der Needcompany entstandenen Performance-Trilogie Sad Face / Happy Face sowie seiner 2011 uraufgeführten Meta-Medienkritik Die Kunst der Unterhaltung nahm sich der belgische Künstler Jan Lauwers, seit Beginn der Intendanz Matthias Hartmanns sogenannter "Artist in Residence" am Burgtheater, diesmal mit Albert Camus' 1938 entstandenem und während des zweiten Weltkriegs unter dem Eindruck der Schrecken in Europa überarbeitetem "Caligula" einem fertigen Stück der Literaturgeschichte an. Ob sich Lauwers, der bisher auch textlich seine Inszenierungen größtenteils selbst entwickelte, mit dieser Wahl einen künstlerischen Gefallen tat, bleibt dabei über weite Strecken des Abends fraglich. Oft wirkt es, als wäre die Regie hin- und hergerissen zwischen der Notwendigkeit, die Stückvorlage und die daraus resultierenden erzähltechnischen Notwendigkeiten nicht aus den Augen zu verlieren, und dem Wunsch, mittels verschiedenster Ausdrucksformen der darstellenden Kunst die Thematik über die Geschichte hinaus fortzuführen.

So sehen wir starkes Schauspielertheater, das vor allem aufgrund der in seiner Präsenz, Tiefe und vielfältigen Schattierung geradewegs mitreißenden Leistung von Cornelius Obonya über weite Strecken zur (im Rahmen des Stücks plausiblen) One-Man-Show gerät. Andererseits erscheinen bestimmte inszenatorische Elemente wie Rudimente aus Lauwers' früheren Werken, so z.B. der hier überflüssige und inkonsequente Einsatz von auf ohnehin sehr kleine Fernseher übertragenem Live-Video oder die die meiste Zeit über stumme und von Lauwers hinzugedichtete Rolle der Octavia: Abgesehen von einer heftigen und stark aus dem Rahmen fallenden Vergewaltigungsszene durch eine lebensgroße Pferdepuppe mit erigiertem Penis ist ihre ständige Präsenz auf der Bühne mehr zielloses Herumirren als eine zusätzliche Ebenen eröffnende Bereicherung des Stücks.

One-Man-Show des wilden Herrschers

An der jedoch durchgehend Spannung erzeugenden Brillanz der One-Man-Show ändern auch die ästhetischen Inkonsequenzen nichts: So schaut man stets gebannt auf diesen zwischen Bosheit und Verzweiflung zerrissenen Herrscher, sieht, wie er sich bemüht, auch die letzten irdischen Werte zu vertilgen und an ihrer Statt mit Gewalt die vernichtende Logik einer weltumstürzenden Gleichheit aller Dinge und Taten zu stellen, und wie er dabei immer näher einem Nullpunkt völliger Nichtigkeit kommt, an dem schließlich nur noch die totale Banalität stehen kann.

caligula2 560 georg soulek u© Georg Soulek

Und so ist es am Ende nur konsequent, wenn Caligulas großer, verzweifelter und von dem Scheppern des Becken-Konstrukts untermalter Schlussmonolog, im Hintergrund eines gemeinsamen Schnitzelessens aller anderen (mittlerweile toten) Figuren an der langen Tafel, unterzugehen droht: Angesichts dieser bewussten Verschiebung der Aufmerksamkeit des Publikums hin zu einer der banalsten, harmlosesten und friedlichsten aller Tätigkeiten – dem gemeinsamen Essen und Trinken in Gesellschaft – wird plötzlich die endlose Leere und Einsamkeit dieser Caligula'schen Verirrung spürbar.

Entfesseltes Chaos

Fast als wäre es ihm die ganze Zeit schon selbst bewusst gewesen, setzt sich dieser eben noch aus dem Tiefsten seiner Seele schreiende Caligula schließlich selbst an die speisende Runde, hebt das Rotweinglas, um zu trinken – das Bild eines möglichen Friedens, einer zurückgewonnenen Ordnung. Wären da nur nicht die laut dröhnenden Klänge des live eingespielten Schlagzeugsolos, das immer wilder, immer ungehemmter den Raum erfüllt, selbst dann noch, nachdem bereits das Licht ausgegangen ist: von außen eindringende Unruhe, unumkehrbar seiner Fesseln beraubtes Chaos.

So schließt Jan Lauwers' in weiten Strecken konventionelle Inszenierung letztlich doch in einem ästhetisch starken, packenden und bestürzenden Bild des Widerspruchs – und gibt dem Betrachter die grässliche Ahnung mit auf den Weg, dass an diesem Abend und in diesem geschützten Raum des Theaters zwar vielleicht nur gespielt worden sein mag – dass aber die fiktive Wirklichkeit des Stücks jederzeit und auf schauerliche Weise real werden kann: um uns herum oder, viel schlimmer noch, in uns.


Caligula
von Albert Camus
Regie, Bühne, Kostüme, Licht: Jan Lauwers, Musik/Klanginstallation "The Shimmering Beast": Nicolas Field, Dramaturgie: Florian Hirsch (Burgtheater), Elke Janssens (Needcompany)
Mit: Cornelius Obonya, Maria Happel, Hermann Scheidleder, Hans Petter Dahl, André Meyer, Falk Rockstroh, Anneke Bonnema, Nicolas Field.

www.needcompany.org
www.burgtheater.at


Kritikenrundschau

"Vor diesem Ungeheuer müssen Shakespeare-Könige erbleichen." Barbara Petsch verneigt sich in der Wiener Presse (19.5.2012) besonders vor Titelheld Cornelius Obonya und berichtet von langen Ovationen am Ende. Aber auch Jan Lauwers Inszenierung ließ die Kritikerin alle Mängel des Textes vergessen, der ihr hier als Sprachoper den Atem raubte. Auch wenn der Abend ihrer Einschätzung zufolge "nichts für schwache Nerven und zarte Seelen ist" und einem "bei diesem 'Caligula'" die Haare zu Berge stünden und der Magen sich zusammenzöge.

Von einer "vorzüglichen Produktion" spricht Ronald Pohl in der Wiener Tageszeitung Der Standard (19.5.2012) der besonders an den brachialeren Scherzen des Abends seine Freude hat. Lauwers' Inszenierung bewege sich ebenso elegant wie lapidar durch das zerklüftete Feld eines spielerischen Exzesses. Das Stück enthalte, so Pohl,  "eine bezwingend klare Totalitarismusdeutung". Camus habe in dem "Scheusal auf dem Herrscherthron nicht den pathologischen Blutsäufer" erkannt, sondern den "vom Trübsinn geplagten Philosophen."

Christine Dössel weist in der Süddeutschen Zeitung (22.5.2012) darauf hin, dass Lauwers schon einmal 'Caligula' inszeniert habe. Als "performative Lesung und Denkübung" 1997 im Rahmen der Documenta. Angesichts der aktuellen "lauen, laut, aber hohl tönenden 'Caligula'-Performance im Burgtheater-Kasino" entstand bei ihr der Eindruck, dass hier ein "Klassiker der Theateravantgarde" stehen geblieben sei oder stagniere. "Von der künstlerischen Lässigkeit und Autonomie" früherer Lauwers-Arbeiten" sei "wenig zu bemerken." "Müdigkeit" mache sich breit und "Überdruss" an den "bekannten, hier mit so wenig Dringlichkeit eingesetzten Performing-Arts-Mitteln von gestern". Erst im letzten Drittel des Abends gelinge es Cornelius Obonya, das Steuer doch noch "Richtung Theater herum- und einen hinzureißen".

"Theater kann sehr lästig sein", konstatiert Ulrich Weinzierl in der Welt (29.5.2012) – diese Erkenntnis verdankt er der Erfahrung von Jan Lauwers "Caligula". Lauwers, sonst dem Bühnenexperiment zugeneigt, führe es dem Publikum im Kasino des Burgtheaters als "tierische Sexualklamotte" vor Augen. Mehr möchte Weinzierl dann auch nicht drüber schreiben.

mehr nachtkritiken