Demokratie für Dödel

von Tomo Mirko Pavlovic

Stuttgart, 19. Mai 2012. Ein Handvoll Menschen vor einer schwarzen Wand. Kein Vorhang, keine Tiefe, kein Ausweg – den fünfen bleibt nur die Flucht nach vorn: hinein in die Tat. Und raus aus dem Text, aus Albert Camus' "Die Gerechten". Über ihnen die Parole: "endlich handeln". Sie leuchtet zum ersten Akt.

Gegen die Wand

Sie brüllen, sie zittern, sie umarmen sich wie tolldreiste Kinder. Matthias Kelles Woinow etwa, der sich Mut herbeikreischt, während er fiebrig am Hemdkragen nestelt, so als habe ihm dort einer Hagebuttenkerne hereingeworfen. Marco Albrechts Annenkow ist zweifelsfrei der Kopf der Bande. Das Toben liegt ihm nicht, dafür das rasierscharfe Wort. Dora? Bei Lisa Bitter ist sie keine Idealistin, keine Liebende, sondern eher ein wildes, schönes Raubtier, kurz bevor es zum Sprung ansetzt. Marcus Lerchs Stepan gibt den Harten, eine tote Seele, drei Jahre Gefängnis und Folter haben ihn das Hassen gelehrt. Den jungen Janek Kaliajew hingegen deutet Jan Jaroszek als euphorisierten Lebendflummi für die gute Sache. Zu allem, beinahe zu allem ist er bereit und hat auch schon mal einen epileptischen Anfall oder rennt gegen die Wand. Er wird es sein, der den tyrannischen Großfürsten ermorden wird.

Alle glauben sie, so verschieden sie auch erscheinen mögen, sie seien die Auserwählten. "Wir gehören nicht in diese Welt, wir sind Gerechte", sagt später Dora, die schöne Bombenbauerin. "Es gibt eine Wärme, die uns versagt bleibt." Auch im Stuttgarter Theater gibt es eine diskrete Wärme, die den Zuschauer langsam einlullt. Man sitzt im Parkett, schaut wohlig distanziert zur Bühne wie in einen Bollerofen.

 

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Unter der Parole "endlich handeln" statt immer nur zu reden: Marco Albrecht, Markus Lerch, Matthias Kelle, Jan Jaroszek und Lisa Bitter. © Sonja Rothweiler

 

Frohgemut in die Revolte

Volker Lösch mag das Indiskrete wie auch den Aktionismus, weshalb ihm Doras Worte offenbar besonders schwer zu Herzen gehen. Nach lediglich elf Minuten im ersten Akt wird es also hell. Die Schauspieler verlassen Albert Camus' 1949 uraufgeführtes Stück über fünf Menschen in der Revolte und hüpfen frohgemut hinein ins Publikum. Dorthin, wo sie die Wirklichkeit vermuten.

Nach einer Unterweisung über das aktuelle Stuttgarter Sein, soll man hier dann das Bewusstsein bestimmen – und zwar öffentlich, am besten laut und deutlich. Gehört man beispielsweise zu den "99 Prozent", die sich keine Zahnsanierung leisten können? Oder ist man einer der hunderte von Einkommensmillionären dieser Stadt? Das Ensemble moderiert. Hat jemand Lust auf ein Bekenntnis, so meldet er sich per Handzeichen, sagt "Mikro-Check", wobei seine Sitznachbarn die Aussage kräftig wiederholen.

Und tatsächlich. An "Mikro-Checks" herrscht kein Mangel. "Ich gehöre zu den 99 Prozent, weil ich auf eine Altersarmut zusteuere", sagt eine. Und eine andere aus Reihe drei (!) fühlt sich der Masse zugehörig, "weil ich eine ausgesprochen kleine Rente habe." Das Ganze erinnert an evangelikale Bibelshows, wo gern irgendeiner auftsteht und behauptet, er habe gestern beim Kartoffelholen im Keller einen Engel flattern sehen. Doch bei aller transzendentalen Obdachlosigkeit, die da im Schwäbischen offenbar wird – es lacht das Publikum und klatscht. Noch.

Die Stimmung kippt

Beim nächsten Ausstieg aus dem Stück wird es einigen zu bunt. Sie wollen nicht einen, sagen wir mal altbacken, herrschaftsfreien Diskurs über das Verbot von Rüstungsexporten aus dem Ländle inszenieren und zwar mit Hilfe der Zeichensprache aus der Occupy-Bewegung. Jemand beschwert sich lauthals: "Ich würde gern wieder Camus sehen!" Eine Dame fühlt sich gar manipuliert. Unter den Stühlen warten Schreibblöcke, darauf soll man Vorschläge zur Gestaltung einer besseren Welt kritzeln. Eine Zuschauerin will einen Flashmob vor dem benachbarten Landtag organisieren, für mehr Kita-Plätze. Ein anderer will mehr Freizeit. Jemand will Bier. Antrag angenommen. Es kommt Bier. Kastenweise. Prost. Trotzdem, die Stimmung kippt. Die ersten verlassen den Saal.

Die anderen fragen sich murmelnd, was dieser ganze "selbschtgerechte Quatsch" mit Camus zu tun habe. Reichlich, möchte man ihnen zuraunen. Gewiss, zu großer Schauspielkunst reicht es an diesem bemerkenswerten Abend kaum. Doch der Regisseur und sein Dramaturg Jörg Bochow stellen unbequeme Fragen, die sich auch Camus' Figuren gestellt haben. Umsturz oder Reform? Terror oder legaler Protest? Niemand im Saal hat den Tod eines "Großfürsten" gefordert, beispielsweise den eines Politikers oder Vorstandsvorsitzenden. Albert Camus jedenfalls schwankte, wie weit er gehen würde und wurde dafür von seinem existenzialistischen Weggefährten Sartre als Verräter an der linken Sache scharf angegangen.

Die Bombe zündet

Anders als in früheren Inszenierungen präsentiert auch Volker Lösch diesmal keine Antworten. Lieber lockt er mit seiner jugendfreien, von Occupy inspirierten Demokratie-für-Dödel-Veranstaltung das gemäßigte Publikum erstmal aufs ambivalente Glatteis. Was dabei rumkommt? Keine Veränderung der Verhältnisse. Vielleicht ein Flashmob. Oder ein demokratisches Trostbier. Amüsant, das.

Am Ende aber überlässt die Regie dem hassenden Stepan das Wort. Bei Camus ist das anders, regiert die zartfühlende Seelenschau. Doch Markus Lerch darf sich nun lustig über das Gesehene machen. Er parodiert mit Ekel im Gesicht das Verschränken der Arme, den Mic-Check, das zustimmende Winken, das an seinen Händen wie das manische Ausschrauben von Glühbirnen ausschaut. "Komm, eh" sagt er – ein wirklich erlösender Augenblick, weil er in seiner plötzlichen Prolligkeit wahrhaftig radikal ist. Man weiß nun, dass er wenig von jenen hält, die glauben, man könne das System von innen heraus revolutionieren. Dann geht das Licht aus. Und die Bombe zündet.

Dröhnende Buhs und tosender Applaus.

 

Die Gerechten / Occupy
nach Albert Camus
Deutsch von Hinrich Schmidt-Hinkel
Regie: Volker Lösch, Dramaturgie: Jörg Bochow, Bühne und Kostüme: Cary Gayler.
Mit: Lisa Bitter, Marco Albrecht, Jan Jaroszek, Matthias Kelle, Markus Lerch.

www.schauspiel-stuttgart.de

 

 Alles über Volker Lösch auf nachtkritik.de im Lexikon.

 

Kritikenrundschau:

In der Stuttgarter Zeitung (21. Mai 2012) ist sich Roland Müller sicher: "Es gibt in der ganzen Republik keinen zweiten Regisseur, der mit seinen zwischen Agitation und Kunst schwankenden Arbeiten die Zuschauer so polarisiert wie der Berserker aus Stuttgart." Doch die Occupy-Show drohte durch die Ablehnung einiger Zuschauer zeitweise zu kippen, überstehe jedoch dank des "perfekten Handwerks" von Lösch. "Indem er die Verfahrensregeln der Occupy-Bewegung eins zu eins, ohne Ironie, ohne Distanz, ohne Brechung ins Theater holt, macht er diese Regeln theatralisch fruchtbar." Und so gehe das Konzept schließlich wieder einmal auf.

Nicole Golombek schreibt auf der Webseite der Stuttgarter Nachrichten (21.5.2012):
Einige Zuschauer, "die keine Lust hätten, von den Sorgen ihrer Sitznachbarn zu erfahren", seien aus dem Theater geflohen. "Die meisten bleiben, einige machen mit. Reden drauflos, ... Zumindest den Kirchgängern unter den Zuschauern fällt die Einübung leicht: Was einer zu sagen hat, sprechen die Umsitzenden laut nach ...". Manche wollten "aber immer noch kein Occupy-Sprech" lernen, "noch sich zu Sozialrevolutionären ausbilden lassen" und gäben das "mit den alten Theatermitteln kund. Applaus oder Buh". So "banal" die Mitmachidee sich in der praktischen Umsetzung in Teilen erweise, so "unterhaltsam und plausibel" sei sie doch: Spielend verschafften die Akteure "dem Occupy-Grundkurs" weitere Diskussionsnahrung. Nur der "Hardcore-Revolutionär" aus dem Camus-Stück habe "keine Lust auf Konsensgetue und "Open-End-Laberei". Entsprechend enttäuscht sei er, als das Publikum bei der nächsten Mitmachaktion zum Thema Waffenexport der baden-württembergischen Firma Heckler und Koch zwar mehrheitlich abstimme, dass man überhaupt "gegen deutsche Waffenexporte" sei, aber sich insgesamt "nur Reformen wünscht und Bier, um sich Aktionen einfallen zu lassen". "Revolution, neue Gesellschaftsordnung, Gewalt" fordere keiner. Schließlich zuletzt: "Eine Explosion und Ende. Und ein schöner Tumult. Buh und Bravo für die Regie, Stürme von Applaus für die Schauspieler. Der Regisseur nimmt das Tosen sichtlich erfreut zur Kenntnis."

Martin Halter kann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (23.5.2012) Volker Lösch immer noch nicht viel abgewinnen: "Volker Lösch wollte schon immer den öffentlichen Raum besetzen und das Theater in ein Occupy-Protestcamp verwandeln." Der "Wutbürgermeister" bediene sich bei den "Gerechten" "natürlich nur", um "Aporien revolutionärer Praxis im bürgerlichen Theater vorzuführen". Dafür sei ihm "wieder mal jedes Mittel recht": vorab verteilte "Suggestivfragebögen", "radikal heroische Slogans", "Bierausschank und demokratisches Mitmachtheater nach Occupy-Regeln". Für manche Zuschauer "offenbar ein Anlass, wie beim Pfingstlergottesdienst mit ihren Sorgen herauszurücken, für andere ein Ärgernis". Wenn am Ende die Bombe platzt, die den Großfürsten tötet, habe das Agitprop-Theater seinen Zweck erfüllt: "Gerechtigkeit und Freibier für alle".

In einer Doppelbesprechung mit Martin Heckmanns Stück "Wir sind viele und reiten ohne Pferd", schreibt Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (1.6.2012), dass Lösch nur das mache, was "seinem expliziten Agitprop-Theater dient". Deswegen bleibt von Camus nicht viel übrig an diesem Abend. Vielmehr werden die Zuschauer zu Camp-Aktivisten und sollen Vorschläge zur Verbesserung der demokratischen Lage machen. Fazit: "Irgendwie war Lösch auf Umwegen also doch in die Nähe des Themas vorgestoßen, das er verhandeln wollte. Viel schwerer aber wiegt, dass er fahrlässig mit einem Text umgegangen ist, der das Nachdenken über heutige Formen des Widerstandes wesentlich mehr hätte beflügeln können als zwanghafte Mitmachspielchen."

 

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