altUnterm Brennglas

von Georg Kasch

Berlin, 19. Mai 2012. Irgendwie hat es der aktuelle Theatertreffen-Jahrgang mit dem Glaskasten-Blick. Eben noch Hate Radio und Before Your Very Eyes, jetzt "Platonov" aus Wien: Keine Scheibe, sondern die vierte Wand trennt das Publikum vom Landhaus der Generalswitwe Anna Petrovna, ein hyperrealistisches Jahrhundertwende-Wunderwerk Monika Pormales. Selbst die Scheuerleisten im Haus wirken abgewetzt, an den Türen blättert die Farbe, die Tapete wellt sich dezent und trägt Wasserflecke. Ein Interieur, abgewirtschaftet wie die Gesellschaft in Anton Tschechows frühem Dramenfragment.

Was sich hier abspielt, wirkt auch deshalb wie unter Glas, weil sich niemand ums Publikum zu scheren scheint. Zwanglos verlagert sich die Handlung vom schräg aufgeschnittenen Salon auf die angrenzende Veranda oder ins Esszimmer, nur halb oder gar nicht sichtbar, angeregt plaudern die Schauspieler in Zimmerlautstärke, zuweilen alle zugleich – ein abgeschlossener Kosmos, von dem oft nur ein großes, polyphones Raunen bleibt. Wie schon in Wien führt das auch in Berlin zu Protesten. Dabei versteht man das Wesentliche doch. Der Rest ist schon bei Tschechow Gequassel und Atmosphäre.

platonov 560 georg soulek uSelbst die durch's Laubwerk gefilterten Lichtflecke auf dem Boden stimmen: "Platonov" aus Wien
© Georg Soulek

Dennoch glüht diese naturalistische Gleichzeitigkeit radikal: Unter Alvis Hermanis' Brennglas zappeln die Menschlein vergrößert, klar erkennt man ihre Ausweglosigkeit, ihren Stillstand, ihren Selbstekel, und doch ist der Blick auf sie unendlich liebevoll. Dass wir es sind, die sich da in Cul de Paris und Zylinder abstrampeln, macht auch das Fehlen des Pferdediebs Ossip deutlich, der beim Eindampfen des Mammutwerkes (aus knapp acht Stunden wurden hier fünf) gleich mitgestrichen wurde. Diese bürgerliche Gesellschaft braucht niemanden von außen, um sich zu demontieren. Das schafft sie ganz allein.

Wobei das durchweg hinreißende Burg-Ensemble dann doch enorm hilft. So einen Naturalismus muss man erst mal können: klar und verschwitzt, tränennass und pathosarm zugleich! Unbedingt bemerkenswert.

 

Hier geht's zur Nachtkritik der Premiere am Wiener Burgtheater am 7. Mai 2011.

Kommentare  
Platonov, TT 2012: Frage
Weiß jemand, ob Johanna Wokalek tatsächlich schwanger ist oder ob das ein "Kostüm" war? Wäre für die Interpretation der Rolle ja durchaus interessant, wenn Sofia ihren Mann trotz Schwangerschaft verlassen würde.
Platonov, TT 2012: echt
echt schwanger.
Platonov, TT 2012: was es geben soll
...ob echt oder nicht echt : es soll auch frauen geben , die ihren mann wegen einer schwangerschaft verlassen
Platonov, TT 2012: elektrisch verstärkt
Angeblich sollten die Stimmen wegen der Grösse des Raumes elektrisch verstärkt werden. Ist dann aber doch nicht passiert, oder? Weiss da jemand was drüber?

Gaiman
Platonov, TT 2012: ein Kostüm
ernsthaft? ich dachte es wär ein kostum, teil der rolle.. würde mich ja auch mal interessieren.
Platonov, Tt 2012: hyperrealistisches Geisterballett
Die Farbe blättert, die Tapeten halten sich nur noch mühsam an den Wänden, die Decke ist schmutzig-verwaschen: Dieses Haus hat seine besten Tage hinter sich, und das gilt auch für die groteske Gesellschaft, die sich hier trifft. Eine Witwe, die vom Ruhm ihres verstorbenen Gatten zehrt, ein einst hoffnungsvoller Intellektueller, der es nur zum Dorfschullehrer gebracht hat, die Alten, die der Vergangenheit nachtrauern, die Jungen, die keine Zukunft haben, Reiche ohne Zuneigung, Arme, deren einziger Lebensinhalt das Erbetteln von ein paar Rubeln ist. Und doch: Wenn die alten Kronleuchter einen Hauch von Festlichkeit vorgaukeln, spielt man noch einmal die adlige Festgesellschaft, die man vielleicht einmal wahr, spielt sie mehr sich selbst vor als den anderen. Alvis Hermanis hat Platonov als atemberaubend hyperrealistisches Geisterballett inszeniert, als großen letzten Rausch einer sterbenden Gesellschaft, nach dem nichts bleibt. Und wir, das Publikum, schaut ihnen dabei zu, jenen seltsam strampelnden Verzweiflungskünstlern in ihrem fade glänzenden Aquarium, wie Voyeure, die doch den Blick nicht lassen können von diesem faszinierend morbiden Tanz, der da aufgeführt wird. Hermanis verortet diesen Platonov im lägst und vielleicht immer schon Vergangenen, verweigert sich jeder Übersetzung ins jetzt und Hier und lässt gerade dadurch die Universalität dieser Untergehenden, dieser Krisenbewohner aufscheinen.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com
Platonov, TT 2012: ja oder nein?
ist sie nun wirklich schwanger oder nicht? muss doch irgendwer gesehen haben..
Platonov, TT 2012: ECHT
Mein Gott , Kinder !
Sie ist ECHT schwanger !
Und jetzt ist mal langsam gut.
Platonov, TT 2012: wirklich
Ja, wirklich schwanger.
Platonov, TT 2012: Technik macht's möglich
@gamian: die stimmen wurden in der tat "elektrisch" verstärkt! aber eben so, dass sie einem nicht ins gesicht springen. die technik macht's möglich.
der typ von nebenan
Platonov, TT2012: tolle Inszenierung
wundert mich nur, dass sich so "tolle" magazine wie die bunte noch nicht drauf gestürzt haben..

naja, war aber auf jeden fall eine tolle inszenierung.
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