altRevolte in der Wohnküche

von Susanne Zaun

Frankfurt am Main, 21. Mai 2012. Wenn bei ihm nicht nur die Frisur, sondern auch der Anzug perfekt sitzt, bei ihr das Kleid farblich mit dem Küchenmobiliar harmoniert und dann auch noch die Garderobe von beiden aufeinander abgestimmt ist, dann sollten bei all dieser perfekten Oberflächlichkeit sämtliche Warnsignale blinken: Vorsicht, Abgründe!

In Lily Sykes Inszenierung von "Edgar und Annabell" in der Box des Frankfurter Schauspiels tragen eben diese Elemente dazu bei, dass von der ersten Sekunde an Alarmbereitschaft herrscht. Viel zu fröhliche 50er-Jahre-Schlagermusik tönt aus der viel zu hübschen 50er-Jahre-Einbauküche, in der ein viel zu nettes 50er-Jahre-Pärchen einen viel zu banalen (zeitlosen) Ehestreit ausficht.

Orwell oder Pleasantville?

Dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt, wird spätestens klar, als Edgar (Johannes Kühn) auf eine Frage antwortet, die Annabell (Henrieke Johanna Jörissen) noch gar nicht gestellt hat. Während der Dialog im zuckersüßen Tonfall weitergeführt wird, werfen sich die Zwei böse Blicke zu und beginnen in ihren unvermittelt gezückten Textbüchern zu blättern.

edgarannabel 560 karolinback u© Karolin Back

Nach und nach enthüllt sich, dass hier ein Täuschungsmanöver von statten geht. Edgar und Annabell, die in Wahrheit Nick und Marianne heißen, sind Teil einer politischen Verschwörung. Sie leben in einem retrofuturistischen Überwachungsstaat, der irgendwo zwischen George Orwells "1984" und den Mediensatiren "The Truman Show" und "Pleasantville" angesiedelt zu sein scheint. In dem 2011 in London uraufgeführten Stück der britischen Autorin Sam Holcroft lauert der Lauschangriff überall. Und zu allererst in der heimischen Küche: Jedes Wort wird abgehört. Das erklärt natürlich die klischiert langweiligen Dialoge von Edgar und Annabell über Mülltrennung und Wok-Gemüse. Alles Scharade, ein perfekt inszenierter Alltag voller Banalitäten, der davon ablenken soll, dass hier eigentlich der Aufstand geprobt wird.

Ablenkung vom Bombenbasteln

Dieses komplizierte Konstrukt führt zu der reizvollen Bühnensituation, dass Sprache und Körper stets auseinander driften. Was in der ersten Szene noch für leichte Irritationen sorgt, weil zunächst nur kleine Details und Verschiebungen darauf hindeuten, dass hier etwas nicht stimmt, wird mit zunehmender Deutlichkeit der Handlung immer grotesker. Vor allem sorgt die merkwürdige Wort-Bild-Verschiebung aber unentwegt für Situationskomik. So zum Beispiel, wenn das Karaokeduell mit einem befreundeten Ehepaar (Henriette Blumenau und Mario Fuchs) nur als lautstarke Ablenkung für das gemeinsame Bombenbasteln dient.

Lily Sykes überspielt die Schwächen des einfachen Handlungsverlaufs, der leider all zu früh vorhersehbar ist, mit subtiler Schauspielerführung: Der offensichtliche Widerstreit zwischen den Worten, die zur Aufrechterhaltung des Scheins gesagt werden müssen, und dem, was sich die Verschwörer nur durch Mimik und Gestik zu verstehen geben können, entwickelt einen großen Reiz.

Auch weil sich Sykes trotz der temporeichen und farcenartigen Wortgefechte Zeit nimmt für Zwischentöne und sie immer wieder kleine Irritationen einbaut: So kann der Zuschauer via Videoleinwand verfolgen, wie "Edgar" und "Annabell" über komplizierte unterirdische Geheimgänge zu Miller (Joachim Möller), dem Kopf der Widerstandsbewegung, gelangen. Auch hier schleicht sich schnell das unbestimmte Gefühl vom Anfang ein, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht.

Wer spielt hier wem etwas vor?
Im Gegensatz zu allen anderen Handlungsvorgängen wird das atmosphärische Unbehagen, das diese Szenen ausstrahlen, nicht erläutert, ihr Metatext wird nicht offengelegt. Obwohl Miller wahrscheinlich die einzige Figur im Stück ist, die nicht vorgibt, jemand anderes zu sein, wirken die Videoaufnahmen von ihm seltsam, und gerade diese Seltsamkeit ist eine der Stärken der Inszenierung. Millers Stimme wurde gezielt nachlässig nachvertont, so dass eine merkwürdige Asynchronität entsteht – auch hier wieder sind Körper und Stimme auf irritierende Weise voneinander getrennt. Und vor allem: Miller wurde als einziger nicht mit einem professionellen Schauspieler besetzt. Joachim Möller ist Inspizient am Schauspielhaus, seine Stimme hörbar nicht ausgebildet. Möllers ungeformter Sprachduktus bildet einen deutlichen Gegensatz zu den Schauspielerstimmen, so dass man sich einmal mehr fragt, wer hier eigentlich wem was vorspielt.

So viel ist klar: Diesem Schauspiel ist nicht zu trauen! Und darin liegt sein ganzer Spaß. Sykes ist ein lustiger Abend gelungen, der durch gutes Timing und einen intelligenten Umgang mit dem Dispostiv Theater überzeugt.

 

Edgar und Annabel
Deutschsprachige Erstaufführung
von Sam Holcroft
Deutsch von Sophie Waal
Regie: Lily Sykes, Bühne: Friederike Meisel, Kostüme: Dorothee Joisten, Video: Hannes Weiler, Dramaturgie: Henrieke Beuthner.
Mit: Henriette Blumenau, Henrike Johanna Jörissen, Mario Fuchs, Johannes Kühn, Joachim Möller.

www.schauspielfrankfurt.de

 

Kritikenrundschau

Lily Sykes, schreibt Sylvia Staude in der Frankfurter Rundschau (23.5.2012), ermögliche mit "Edgar und Annabel" die "Entdeckung einer offenbar raffinierten Stückeschreiberin". Das Stück sei ein "Spaß mit einiger Tiefe". Sam Holcroft scheine ihre Figuren "quasi in Versuchsanordnungen zu setzen". Es bleibe offen, ob die "Agenten" unter Verfolgungswahn leiden oder tatsächlich von einer Art Polizeistaat umgeben sind. Das Publikum werde auf "schwankendem Boden gehalten", aber dort befinde es sich in diesem Fall gut.

Da gerate eine Szene schon mal ein wenig lang, so Shirin Sojitrawalla im Wiesbadener Kurier (23.5.2012), so wie man der Inszenierung ohnehin ein strafferes Zeitmanagement gewünscht hätte, aber die Kritikerin erwähnt das nur am Rande. Denn, so das Fazit, "'Edgar und Annabel' entpuppt sich nämlich als kleines böses Stück, das schön mit den Ängsten und Sehnsüchten unserer Gegenwart spielt."

 

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