altDie Überwindung des Unmöglichen

von Kai Krösche

Wien, 24. Mai 2012. Ganesh, indische Gottheit mit Elefantenkopf, hat es satt, dass die Nazis die Swastika, im hinduistischen Glauben ein altes Symbol für Glück, zu ihren menschenverachtenden Zwecken missbrauchen – und weil er, anders als Obergott Shiva, nicht die Welt, ja das ganze Universum an sich, zerstört sehen möchte, macht er sich im Jahr 1943 auf ins Dritte Reich, das Hakenkreuzsymbol zurückzugewinnen und damit die Erde vor der Verdammnis zu retten. Auf seinem Weg zum in Berlin verschanzten Hitler führt es ihn zunächst im Konzentrationslager in die Hände von Dr. Mengele; schließlich begleitet er einen geflohenen Juden und hilft ihm bei der Flucht in die Schweiz, bis er am Ende tatsächlich auf den "Führer" stößt – und begreifen muss, dass er das Hakenkreuz zwar zurückholen kann, dieses aber auf ewig mit den Gräueltaten des Nationalsozialismus befleckt sein wird.

Auf den ersten Blick klingt es nach buntem Trash, was die australische Gruppe Back to Back Theatre in ihrem selbstentwickelten Stück "Ganesh Versus the Third Reich" in jahrelanger Probenarbeit erdachte. Holocaust und Götterwelt, Hitler gegen den hinduistischen Elefantenmenschen – wie soll das zusammengehen? Doch an diesem Abend bedarf es nicht einmal einiger Minuten, um den Betrachter davon zu überzeugen, dass es sicher hier um großes, großartiges Theater handelt; und das in keiner Weise trotz, genausowenig aber ausschließlich wegen eines – ebenso wie die Story des Stücks – nur auf den ersten Blick ungewöhnlichen Umstands: Fast alle der auf der Bühne stehenden Darsteller nämlich haben eine geistige Behinderung.

Geschichte einer Suche

Ganesh, der flüchtige Jude, SS-Soldaten und auch Hitler selbst werden gespielt von Autisten sowie Menschen mit Down- oder Tourette-Syndrom. Dass das niemals, zu keinem Zeitpunkt der hundert kurzweiligen, witzigen und trotzdem tiefgreifenden Minuten zu einer Ausstellung der Akteure wird, dass sich die Frage danach noch nicht einmal stellt, erweist sich dabei als wundersamer, weil jederzeit ganz und gar unaufgeregter und selbstverständlich wirkender Glücksfall.

ganesh2 jeffbusby 560 u"Ganesh Versus the Third Reich" © Jeff Busby

Zugegeben: Dass sich die Frage nicht stellt, liegt auch daran, dass sie bereits auf der Bühne selbst, innerhalb des Stücks, explizit gestellt wird: So folgt "Ganesh Versus the Third Reich" nämlich einem klassischen Stück-im-Stück-Prinzip, bei dem sich ästhetisch dichte Bilder und Klangflächen (mittels verschiedener halbdurchsichtiger bühnenfüllender Vorhänge werden düstere Traumwelten aus Licht und Schatten geschaffen, die von sphärischen Klangteppichen untermalt werden), die die Geschichte von Ganesh und seiner Suche nach der Swastika erzählen, mit (gespielten) Szenen der dazugehörigen Theaterproben abwechseln.

Suggestionen der Betrachter

In diesen erarbeitet ein vermeintlich "nichtbehinderter" Regisseur (tatsächlich erweisen sich dessen Aggressivität und Wutanfälle als die letztlich viel größere Behinderung) mit den behinderten Darstellern das Stück. Dabei werden immer wieder jene Fragen geäußert, die sich dem vielleicht notgedrungen skeptischen Betrachter stellen: Ob denn die Darsteller überhaupt begreifen, was sie da spielen. Ob sie nicht instrumentalisiert werden. Ja ob sie denn überhaupt Wirklichkeit und Fiktion unterscheiden könnten.

Und oh, wie ertappt man sich fühlt, wie sehr man in seiner Voreingenommenheit Lügen gestraft wird, wenn sich das vermeintliche Improvisationsspiel (das sich zugegeben durch die aufgrund der englischen Sprache nötigen, ursprünglich aber natürlich nicht zur Inszenierung gehörenden deutschen Übertitel immer wieder als feststehend verrät) durch plötzlichen Musikeinsatz als präziseste Inszenierung erweist, wenn die vierte Wand durch eine Anklage des "Regisseurs", das Publikum sei doch nur gekommen, um eine Freakshow zu sehen, durchbrochen wird – nur um mit einem bösen Augenzwinkern wieder errichtet zu werden, indem der "Regisseur" den anderen Darstellern gegenüber vermerkt, er spreche nur zu einem imaginären Publikum – die Sessel seien ja heute, bei dieser Probe, alle leer.

Ästhetische Schärfe, erzählerische Dichte

So werden wir Zeugen eines einzigartigen, weil auf frische, so noch nicht gesehene und deshalb noch verblüffende Weise selbstreflexiven Theaterabends, der nicht nur alle möglichen Vorurteile mit einem humorvollen Wisch wegzufegen weiß – sondern dabei auch noch den Eindruck vermittelt, dass jedes durch die Akteure vielleicht aufgrund ihrer Behinderung, genauso vielleicht aber auch mit bewusster Absicht zu lang gezogene Wort, jede zu große Pause zwischen den Sätzen kein Fehler, sondern im Gegenteil: die einzig richtige inszenatorische Möglichkeit ist.

Zusammen mit dem perfekten Tempo, der ästhetischen Schärfe und erzählerischen Dichte, in der das stattfindet, wird "Ganesh Versus the Third Reich" gerade durch seinen Verzicht auf ohnehin langweilige, weil undurchlässige und unbrüchige Perfektion zum eigentlich-perfekten Theaterabend – voll Lebendig- und Wahrhaftigkeit.

Ganesh Versus the Third Reich
vom Back to Back Theatre
Inszenierung: Bruce Gladwin, Konzeption: Mark Deans, Marcia Ferguson, Bruce Gladwin, Simon Laherty, Sarah Mainwaring, Scott Price, Kate Sulan, Brian Tilley, David Woods, Bühne: Alice Fleming, Kostüme: Shio Otani, Licht: Andrew Livingston, Bluebottle, Musik/Sound Design: Lachlan Carrick, Komposition: Jóhann Jóhannsson, Set-Design und Konstruktion: Mark Cuthbertson, Design und Animation: Rhian Hinkley, Maske: Sam Jinks, Paul Smits.
Mit: Mark Deans, Simon Laherty, Scott Price, Brian Tilley, David Woods, Georgina Naidu.

www.wienerfestwochen.at

 

Mehr zum Back to Back Theatre: Im November 2011 zeigten sie beim No Limits Festivals Food Court.

 

Kritikenrundschau

Aus Sicht von Christian Gampert in der Sendung "Kultur heute" beim Deutschlandfunk (25.5.2012) ist der Abend verkrampft lustig, nicht ganz vom Kitsch-Verdacht befreit, und hat "auf Dauer doch Leerstellen." Zu Gamperts Bedauern wird die Geschichte außerdem "immer wieder untermalt von süffig-bombastischen Synthesizer-Sounds, und leider stehen auch die hergebrachten Zuschauerprovokationen auf dem Programm: Gebt doch zu, so wendet sich der Regisseur ans Publikum, ihr schaut uns an wie im Zoo, ihr wollt ein bisschen Freak-Porno gucken. Nein, das will man eigentlich nicht."

"Große, berührende Momente" gibt Andrea Heinz im Wiener Standard (26.5.2012) zu Protokoll. Auch gelingt dem Ensemble aus ihrer Sicht "mühelos ein unverkrampfter Umgang mit der durchaus verfänglichen Materie, mit der eigenen Behinderung ebenso wie mit der Frage nach lebenswertem Leben, die die Figur des Dr. Mengele aufwirft." Trotzdem fragt sich die Kritikerin am Ende, welche Erkenntnis ihr dieser Abend bringen soll: "Das Thema ist Macht: die der Symbole ebenso wie jene der Hierarchien oder der Mehrheitsgesellschaft. Klarsichtig wird menschliches Verhalten in der Gruppe dargestellt. Über eine kluge Sektion der Bedingungen gesellschaftlichen Zusammenlebens aber kommt der Abend nicht hinaus."

Von einer "ergreifenden Vorstellung" spricht Norbert Mayer in der Wiener Tageszeitung Die Presse (26.5.2012), von "100 Minuten intensiver Bemühungen", Macht und ihren Missbrauch szenisch umzusetzen. "Bei diesem Versuch werden die Bedingungen und Grenzen des Theaters ebenfalls ausgetestet. Die Truppe mit ihren Handicaps, mit Autismus, Tourette- oder Downsyndrom und von außen weniger deutlich erkennbaren Behinderungen, ist mit heiligem Ernst bei der Sache. Immer wieder stellt sich die Frage: Wird er das spielen können? Immer wieder aber fragt man sich: Wird nicht auch der Spielleiter überfordert, wenn ihn seine Mitspieler durch ganz einfache Mittel des Widerstands austricksen?"

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