altProfessor Unrats Coming Out

von Shirin Sojitrawalla

Frankfurt, 24. Mai 2012. So öde wie in der ersten halben Stunde dieses Abends war uns in der gesamten Schulzeit selten. Professor Immanuel Rath steht in der zart hohläugigen Verkörperung von Michael Goldberg auf der Bühne und spielt Schulstunde mit den Zuschauern, die nicht so rechte Lust zum Mitmachen haben. Zum Glück befinden sich aber drei seiner Schüler unter ihnen; die beugen sich den Mätzchen ihres Lehrers und machen ihn dann im Blaskugelhagel mundtot. Als das geschafft ist, zelebriert Cornelius Schwalm im weißen Tüllrock und mit roter Nase im einfältigen Gesicht kleinteilige Clownerien in der Bühnenmitte.

Mit dem ersten Auftritt Lolas, denkt man, komme der Abend in Schwung, doch das tut er leider so richtig nie. Jorinde Dröse inszeniert "Der blaue Engel", und alle, die das gesehen haben, müssen sich fragen, wozu? Dabei ist ihre Idee, die ganze Geschichte aus dem längst nicht mehr verruchten Nachtlokalmilieu in die Stricherszene zu verlegen, gar nicht mal so schlecht. Professor Unrat erlebt sein Coming Out. Und auf einmal funktionieren die alten Tabus wieder.

Melancholisch gefallene Frau

Dass Lehrer Rath eine Tingeltangel-Sängerin heiratet, rockt heute keinen mehr, aber knutschende und sich von hinten nähernde Männer taugen hier und da noch als Bürgerschreck. Der Schauspieler Mathis Reinhardt spielt die schwule blonde Lola und gerät so gar nicht erst in Gefahr, auf den Spuren von Marlene Dietrich zu wandeln, die im weltberühmten Film an der Seite von Emil Jannings brillierte. Während sie eher auf Kerl machte, gibt Mathis Lola als melancholischen gefallenen Engel, der sich auf durchtrainierten Beinen mehr nach vorne schiebt als dass er geht. blauerengel3 birgithupfeld 560 u"Der blaue Engel" © Birgit Hupfeld

Lieder haucht diese Lola ins Mikrofon, die, wenn überhaupt nur mit Fragmenten von Friedrich Hollaender spielen. Neues kommt hinzu, mal Pop, mal Schmus, mal Marsch, wobei viel Überflüssiges gesungen wird. Eine kleine mobile Live-Combo wandert mit auf der Bühne, untermalt und übertönt die Szenen und stimmt immer wieder zirkus-selige Musik an. Doch ebenso wenig wie die Musik sich zu einem stimmigen Ganzen fügt, wollen die einzelnen Szenen sich zur Stringenz aufraffen.

Zum Affen gemacht

Hier ein Späßchen, da ein nackter Arsch, hier Gefummel, da ein Pimmel, viel eindeutig Zweideutiges. Ficken, Fuck und Tusch. Das ist bunt, derbe und fade, auch weil die einzelnen Gags oft nicht zünden und/oder um einiges überdehnt werden. Während im Film, der dem Abend näher steht als der Roman, Rath als Kikeriki krähender Hahn auf der Bühne zum Affen gemacht wird, was der Gipfel der Demütigung für ihn ist, muss sich Rath erst ein Ei in den Hintern stecken lassen und bekommt obendrein noch diverse rohe Eier auf den Kopf geschlagen.

Und erst dann, als Goldberg gelb bekleckert und mit letzter Kraft ärmliche Kikeriki-Laute absondert, stellt sich der King-Kong-Effekt ein: Man empfindet Mitleid mit dem lächerlich gemachten Lehrermonster. Doch auch das (unter)hält nur einen kurzen Moment. Am Ende gehört Schüler Lohmann die Welt. Nils Kahnwald spielt den Vatermörder als überheblich glatten Besserwisser. In einer letzten Bewegung stöckelt Lola ihm in eine dunkel lockende Zukunft hinterher.

Professor Unrat indes bleibt sagenhaft allein. Bis es soweit ist, vergehen in Frankfurt beinahe zwei pausenlose Stunden, die manch ein absonderlich attraktives Bild gebären. Da stehen dann zu dicke Frauen in unmöglichen Kleidchen in der Gegend herum wie Kunst im öffentlichen Raum, oder Sascha Nathan zwingt als schwuckige Puffmutter seinen Speck in einen hautengen Strampelanzug. Ansonsten aber ist der Abend – mit Verlaub – für'n Arsch.

Der blaue Engel
Nach dem Roman "Professor Unrat" von Heinrich Mann und dem Film "Der blaue Engel" von Josef von Sternberg unter Verwendung des Drehbuchs von Carl Zuckmayer, Robert Liebmann und Karl Gustav Vollmoeller
Regie: Jorinde Dröse, Ausstattung: Susanne Schuboth, Musikalische Leitung: Rainer Süßmilch, Musik: Norma Bek, Dramaturgie: Alexandra Althoff.
Mit: Michael Goldberg, Mathis Reinhardt, Katharina Hackhausen, Mareike Hein, Christian Erdt, Nils Kahnwald, Sascha Nathan und Cornelius Schwalm. Band: Karsten Süßmilch, Rainer Süßmilch und Matthias Schmidt.

www.schauspielfrankfurt.de

Kritikenrundschau

Bestnoten vergibt Dieter Bartezko in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.5.2012) an den Abend. Manchmal will die Inszenierung seinem Eindruck zufolge zwar "ihre Aktualität etwas krampfhaft erzwingen, schwankend zwischen Melodram und Tragödie, Studenten- und Stadttheater." Doch wenn sie "nichts erzwingen will, trifft sie ins Zwingende. So zum Beispiel, als Lohmann, den Nils Kahnwalds zwischen Frühlingserwachen, Abgebrühtheit und kindgreiser Trauer irisierendes Spiel zum Zentrum der Aufführung macht, im edlen Zweireiher bei dem verluderten Paar auftaucht." Neben großem Schlussapplaus werden dem Abend Lachsalven und eine "Stimmung wie bei Mario Barth" ebenso bescheinigt, wie Jorinde Dröse eine sehr genaue Lektüre des Romans.

"Bravo!", sagt Marcus Hladek in der Frankfurter Neuen Presse (26.5.2012), der diese Neudeutung ebenso überzeugend findet, wie ihre ästhetische Übersetzung. Zentral sei die Besetzung Lolas mit Mathis Reinhardt. "Weil Travestie noch Halbseidenes transportiert, schafft dies ein Pendant zur Kabarett-Hure, die von Kopf bis Fuß auf spezielle Liebe eingestellt ist." Das ist aus Sicht dieses Kritikers ebenso konsequent, "wie Schüler Lohmann zur Marilyn-Manson-Kopie mit bleichem Gothic-Antlitz und Munsters-Outfit nachzurüsten". Nils Kahnwald "träumt und singt runderneuert von Lola", Reinhardts Lola-Auftritt als blonde Lola im blauen Kleid und Trockeneisgewaber "wird vor allem wunderschön instrumentiert." Das Trio Rainer Süßmilchs stelle überhaupt einen Höhepunkt dar.

Von einem kleinen Theaterabend "mit einer gewissen Zahl" funktionierender Einfälle spricht Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (26.5.2012). Manches scheint der Kritrikerin aber auch reichlich pompös und anderes "mithilfe von viel Musik, Zeit und Raum auf die entsprechende Größe gepumpt. Der "aufgejugendlichte Text" präsentiere das Skelett der Originalhandlung. An einem Erzähltheater, das viele Regisseure in Roman- und Filmadaptionen suchen, zeigt Dröse dem Eindruck der Kritkerin zufolge kein Interesse. Doch die wenigen Erzählmomente zögen sich an diesem Abend manchmal sehr in die Länge. "Das Unverbindliche der Augenblicke macht den Abend unwesentlicher, als es mit dieser Besetzung logisch ist."

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