Die Ästhetik des Widerstands - Thomas Krupa inszeniert Peter Weiss am Schauspiel Essen
Netz über Deutschland
von Michael Laages
Essen, 24. Mai 2012. Ob jenseits aller Dramen, größerer und kleinerer, auch wirklich ein dramatischer Text steckt im Roman? Ob sich "Die Ästhetik des Widerstands", das dreiteilige Mammut-Lesebuch, das den Schriftsteller Peter Weiss im letzten Jahrzehnt vor dem Tod vor dreißig Jahren beschäftigt hatte, auch auf der Bühne erzählen ließe? So unendlich viele Sprachen, Stil- und Spiel-Vorschläge prägen ja diesen Text jenseits jeder Form und Norm: als Geschichtspanorama des politisch linken Widerstands im Deutschland des Hitlerismus, als kollektive Biographie einer zunehmend verzweifelten, in unendliche Kämpfe auch mit sich selber verstrickten Generation, als politischer Essay über die Existenz des "anderen Deutschlands".
Nur weil die Widerständler sich todesmutig der mittlerweile unaufhaltsamen Maschinerie des Mordens im Namen von Rasse entgegen stellten, so die große These des Schriftstellers Weiss, habe das unterlegene Deutschland überhaupt das Recht behalten, wieder aufgenommen zu werden in den Kreis der Zivilisationen nach dem Ende voller Schrecken – im Finale nach über 1000 Roman-Seiten fordert der Arzt Max Hodann diese Anerkennung des demokratischen Kerns im deutschen Wesen. Das Publikum des neugegründeten Kulturbundes im Stockholm des Jahres 1944 hört diese versöhnliche Botschaft noch mit Staunen.
Herakles' Kunst-Löwenpranke
Aus knappen Szenen, szenischen Roman-Partikeln, Erzählungen und Monologen haben der Regisseur Thomas Krupa und der Dramaturg Tilman Neuffer "Die Ästhetik des Widerstands" zusammengefügt; und auch über die schier unendliche Masse des Materials darf zunächst mal gestaunt werden am Schauspiel Essen. Die Betrachtung über Kunst und Widerstand beginnt vor dem Pergamon-Altar in Berlin; der anonyme Erzähler (der vom Autor Weiss viele Bausteine und Versatzstücke der eigenen Biographie mit auf den Weg bekommt) streitet mit zwei Freunden aus der linken Jugendbewegung über die Interpretation des Altar-Bildes, und wo denn der Herakles verborgen sei, dessen Löwenpranke nötig wäre im Streit der Erniedrigten und Beleidigten gegen die neuen Götter des deutschen Vorkriegsjahres 1937.
Was ist Kunst in diesem Kampf, was kann sie leisten? Welche Rolle bleibt dem Personal der Künste im Donnern der Schlacht? Gegen Ende, nach nur fünf Jahren in Untergrund und Exil, finden die Streiter von damals zu dieser Debatte zurück; bevor viele von ihnen am Galgen enden, an Henkers Haken, wie sie noch heute zu besichtigen sind in der Gedenkstätte auf dem Gefängnisgelände in Berlin-Plötzensee. Und die Szene lässt noch einmal das Panorama-Bild vor dem Pergamon-Altar gefrieren auf der Bühne.
Frei bespielbare Fläche
Der Berliner Straßenlärm hatte den Kunst-Diskurs zu Beginn begleitet – und eine schwer überschaubare Menge Stoff, ein großes Rauschen von Namen und Details überfällt das Publikum gleich in den ersten Minuten der Aufführung. Krupa und Neuffer ringen mit der Masse des Materials, der Theaterabend zeigt schon in den ersten Szenen alle Zeichen chronischer Überforderung. Zumal dem Trio der Raum-, Kostüm- und Video-Gestalter, Andreas Jander, Jana Findeklee und Joki Tewes, kaum viel mehr übrig bleibt als ein halbwegs neutraler Raum vor durchsichtigen Zeltbahnen ringsum, die oben Spitzen tragen wie Gefängnismauern Stacheldraht. Viel kann auf diese Flächen projiziert werden.
Einmal – in einer der eindrucksvollsten Szenen dieser dreieinhalb außerordentlich herausfordernden, ja anstrengenden Stunden - entwirft der im schwedischen Exil agierende deutsche Widerständler Herbert Wehner (ja, der; Untergrund-Name: Funk!) mit Pfeilen und Kästchen samt unzähliger Namen dran und drin und drum herum ein dichtes Netz, das über Deutschland liegt. Kaum einer in diesem Netz hat (wie der wirkliche Wehner) überlebt – Weiss, der Schriftsteller, wollte erinnern an die ungezählten Namen, die vergessen sind; bis auf wenige, deren Namen Straßen tragen zum Beispiel im alten Osten Berlins in den Städten der alten DDR.
Verschlugene Pfade, atemloses Rein und Raus
Diese Erinnerung lohnt unbedingt, auch alle Anstrengung dieses Abends; großes, mitreißendes Theater allerdings wird eher nicht daraus. Zu detailliert und kleinteilig müssen Krupa und Neuffer den verschlungenen Geschichten ihrer Helden folgen; Untergrund und Widerstand, erst in Deutschland, dann in Schweden, schließlich wieder in den letzten Tagen von Berlin, fordern rasante Szenen-, Motiv- und Stimmungswechsel, unter denen eigentlich zumindest eine Drehbühne rotieren müsste.
Wahrnehmbar auf der Bühne im Essener Grillo-Theater ist aber vor allem das atemlose Rein und Raus und Hin und Her des obendrein gerade mal elfköpfigen Ensembles; mindestens das Doppelte wäre nötig, um dem ohnehin schon stark ausgedünnten Personal nachhaltig Gesicht und Profil zu geben, das in der Bearbeitung von Neuffer und Krupa übrig blieb vom kompletten Konvolut des Romans. An wenigen Szenerien kann die Erinnerung sich festhalten, etwa denen der historischen Wehner-Figur, aber auch denen der Familie des Ich-Erzählers, die dem Sohn auf den Spuren des Holocaust quer durch Polen folgt, um nach Schweden zu flüchten. Und der Spionage-Einsatz, der im Bauch eines Schiffes bis nach Deutschland führt, lebt von starken Bildern. Doch die verfliegen zu schnell.
"Die Ästhetik des Widerstands" wirkt in Essen letztlich leider doch nur wie ein monströser Dia-Vortrag im Geschichtsunterricht. Unbedingt verdient das Bemühen Respekt, unbedingt verdient die Überanstrengung des Essener Ensemble Beachtung und Anerkennung – aber letztlich hat sich der Roman im Kern des Erzählens der Bühne verweigert.
Die Ästhetik des Widerstands
nach dem Roman von Peter Weiss
Fassung von Tilman Neuffer und Thomas Krupa
Regie: Thomas Krupa, Bühne, Kostüme und Videografie: Jana Findeklee, Joki Tewes und Andreas Jander, Musik: Mark Polscher, Dramaturgie: Tilman Neuffer.
Mit: Matthias Breitenbach, Stefan Diekmann, Ingrid Domann, Tom Gerber, Clemens Giebel, Laura Kiehne, Melanie Lünighöner, Jannik Nowak, Bettina Schmidt, Eric van der Zwaag, Silvia Weiskopf.
www.theater-essen.de
Regisseur Thomas Krupa und Dramaturg Tilmann Neuffer hätten das Unmögliche gewagt, schreibt Martina Schürmann im WAZ-Portal Der Westen (26.5.2012). In einer dreieinhalbstündigen Theaterfassung hätten sie das Textmassiv von Peter Weiss "drastisch gekürzt, zerlegt und aus Videobildern, Sprach-Rhythmus, Musik und politischem Furor ein neues Weiss-Mosaik zusammengefügt." Trotzdem bezweifelt sie, ob das Vorhaben langfristig gelingt. "Denn so hoch die geschlossene Leistung von Regieteam und elfköpfigem Ensemble auch gerühmt werden muss, so erkennbar bleibt doch die Überforderung, die dieses spröde Ungetüm von Text für den Illusionsapparat Theater darstellt." Allerdings ist der Abend für die Kritikerin ein Beweis,"dass Theater auch im Scheitern immer noch unbedingte Stärken haben kann."
Viele, auch ermüdende politischen Diskurse hat Klaus Stübler erlebt (Emsdettener Volkszeitung, 25.5.2012). Erschütternd schildere Stefan Diekmann als namenloser "vehementer und enthusiastischer Streiter für die Zusammengehörigkeit von politischem Kampf und kultureller Revolution" eine Exekution durch Erhängen. "So viel Emotion gibt es ansonsten eher selten." Fazit: "ein langer, anstrengender, aber anregender Theaterabend".
Als "neueste Vermessenheit der immer höher schlagenden Modewelle, gewaltige Prosabrocken auf der Bühne kleinzuspülen" beschreibt aro. den Abend in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (29.5.2012). "Je weiter das geht, desto gründlicher wird das Original verfehlt." Was übrig bleibe, sei seine Nacherzählung der Handlung in groben Zügen, eine bebilderte Geschichtsstunde, die zwischen kleinteiligem Naturalismus und Vorlesung, Dia-Schau und Debatte verlaufe. Das Außerordentliche, Monströse, Inkommensurable werde unterschlagen. "Eine Anstrengung, aber kein Versuch, das Formensprengende in eine Theatersprache zu übersetzen." Ästhetisch ohne Widerstand, verfehle die Uraufführung "Die Ästhetik des Widerstands".
"Romanplot und essayistischer Diskurs wechseln bei Weiss auf eine Weise, dass der Stoff eine Fundgrube für postdramatische Berserker wäre", so Vasco Bonisch in der Süddeutschen Zeitung (2.6.2012). Leider aber bleibe Regisseur Thomas Krupa viel zu artig mit illustrativem Nacherzählen beschäftigt, statt einen eigenen Standpunkt einzunehmen. "Was als Buch epische Wucht hat, zerfällt in brav-episodische Splitter, die einen kaum kratzen. Widerstand auf Abstand."
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