altMein größter Wunsch

von Leopold Lippert

Wien, 30. Mai 2012. Als Árpad Schilling und seine Theatertruppe Krétakör 2005 zu den Wiener Festwochen eingeladen waren, stand Tschechows "Die Möwe" auf dem Programm. Doch die Zeiten, in denen sich der ungarische Regisseur mit klassischem Dramenmaterial zufrieden gegeben hat, sind vorbei. Krétakör sieht sich nun als pädagogische Institution, die mitten in der Gesellschaft verankert sein will. Ihr Theater soll ein öffentliches Forum sein, das den demokratischen Austausch über soziale und kulturelle Problemstellungen ermöglicht.

a papno 560a matetothridovics-kretakor xSchüler und Lehrer in "A papnő – Die Priesterin" © Máté Tóth Ridovics / KrétakörDer dritte Teil der Krisentrilogie "Die Priesterin" (Teil I ist der Film "jp.co.de", Teil II die Kammeroper "Undankbare Biester") zeigt exemplarisch, wie Schilling sich ein solches Theater vorstellt. Das Stück handelt von der Schauspielerin Lilla (Lilla Sárosdi), die mit ihrem Sohn aus Budapest in ein kleines, nicht näher bezeichnetes Dorf auf dem Land zieht, um dort an der Schule Theater zu unterrichten. Ein Dutzend Schülerinnen und Schüler sind auf der leeren weißen Bühne dabei, um von diesem Lernprozess zu erzählen.

Selbstverwirklichungskitsch des Theaters

Unterstützt werden sie von Filmeinspielungen, die das Dorf in sehr bewusst gesetzten Rahmungen visuell erfahrbar machen. Der Programmtext bezeichnet das als "Doku-Fiktion". Schillings Ästhetik speist sich auch aus dem Reduktionismus des Authentischen: die kurze, kaum 90-minütige Inszenierung wirkt die meiste Zeit stolpernd improvisiert, unfertig.

Der Grundkonflikt ist schnell (und durchaus holzschnittartig) gezeichnet: der barsche Drill des Sportlehrers gegen die basisdemokratischen Konfliktlösungsstrategien der Theaterpädagogin. Die Obrigkeitshörigkeit der Kirche gegen den Selbstverwirklichungskitsch des Theaters. (Während die Jugendlichen beim strengen Pfarrer (Lóránt Bartha) zur Beichte antreten müssen, dürfen sie bei Lilla auch einfach mal nur am Boden rumliegen und halbfertige Sätze wie "Mein größter Wunsch ist..." zu Ende denken.) Die soziale Verwahrlosung des ländlichen Raums gegen die feine Sensibilität der Budapester Kreativschicht.

Flucht nach vorn

Dazwischen geht es um Krisen aller Art: Generationenkonflikte, den offen zur Schau getragenen Rassismus gegen die Roma-Bevölkerung, das Wegbrechen des Agrarsektors und den Alltag des Erwachsenwerdens. Und immer wieder um die Möglichkeit der Flucht, des Weglaufens in die sogenannte Freiheit.

Eigentlich kann ein derart selbstgerechtes, beinahe missionierendes Konzept gar nicht gut gehen. Doch Schillings Inszenierung entscheidet sich für die Flucht nach vorn. Mitten in einer pädagogisch bestimmt unglaublich wertvollen Reflexionsübung tritt ein Schüler aus der Gruppe und wendet sich ans Publikum. "Was passiert hier auf der Bühne?", fragt er, von einer Live-Dolmetscherin übersetzt. "Welche Rollen spielen die jungen Menschen in diesem Stück?" Die Frage nach der Echtheit, nach dem Inhalt und Wert des Dokumentarischen, wird ans Publikum zurückgespielt. Die zaghaften Antworten einiger Zuschauer zeigen: Sie kann wohl so einfach nicht beantwortet werden.

Schillings Inszenierung fragt aber auch nach dem großen Versprechen des Theaters, nach dem lustvollen Ausprobieren von Rollen, die keine endgültige Festlegung brauchen und immer in der Schwebe bleiben. Mit seinen enthusiastischen Jungdarstellern macht er den Möglichkeitsraum des "als ob" transparent. Es ist nie ganz klar, wer gerade spricht: Schüler vom Land? Schauspieler? Weltreisende? Demokraten? Menschen auf der Suche nach Gemeinschaft? Die ständige Uneindeutigkeit, die permanente Persönlichkeits-"Krise" wird hier zur Grundvoraussetzung für Theaterarbeit im weitest möglichen Sinne. Wenn das der Kern von Árpád Schillings Pädagogik ist, dann kann man an diesem Abend viel lernen.

Krízis – trilógia, III: A papnö / Krise – Trilogie, III: Die Priesterin
von Árpád Schilling / Krétakör
Text und Inszenierung: Árpád Schilling.
Mit: Lóránt Bartha, Kálmán Bíró, Lilla Sárosdi, Sándor Terhes. Márta Bajka, Sándor Bartha Levente, Emese Boldizsár, Annamária Daró, Jolán Dobondi, Kati Gábor Kinga, Kata Imre-Munteanu Kikerics, Eszter Incze, Attila Komán, Janka Korodi, Erika Lukács, Erzsébet Maksai, Ágnes Márton, Tímea Mónika Tankó.

www.festwochen.at
www.kretakor.eu

 

Kritikenrundschau

An erster Stelle gehe es für Schilling darum, Konfliktlösungen anschaulich zu machen, solche, die einer Gesellschaft von heute unmittelbar eine Lehre sein können, beschreibt Margarete Affenzeller im Standard (1.6.2012) seine Arbeit. Mit seinem semidokumentarischen Theater-Projekten, die dezidiert pädagogische Arbeit leisten, stehe das Krétakör-Theater heute ziemlich singulär da. Auch in der bei den Wiener Festwochen gastierenden "Krisen"-Trilogie geht es um das Prinzip des Erprobens und Abwägens von Möglichkeiten. "Der Abend bleibt in seiner Formatierung zwar diffus, aber genau so vermag er außerordentlich frei und unverbraucht über gegenwärtiges Leben in Europa zu erzählen."

Kommentare  
Krise–Trilogie, Wien: Fragen stellen
Was man von dem Abend wirklich lernen kann: Wenn sich ein großartiger Regisseur ganz unzynisch - und das ist ohnehin schon selten genug -, mit wirklichem Interesse, eines wichtigen Themas annimmt und sich traut, auf der Bühne Fragen an seine MItstreiter zu stellen, anstatt immer gleich Antworten zu suchen - dann kann Theater tatsächlich ganz direkt und brutal mit Wirklichkeit zu tun haben. Das glaubt man, zumindest ich, manchmal gar nicht mehr. Ich hatte selten so viele Fragen an mich und meine Welt im Kopf, als nach diesem beeindruckenden Stück!
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