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Das kontrasexuelle Geschlecht

von Dina Netz

Recklinghausen, 1. Juni 2012. Der kleine Thilo und seine siebenjährigen Freunde im Internat wollen Sex mit Hefeteigfiguren haben. Nur haben Thilos Freunde welche mit einem Dreieck unten gekauft (das einen Rock darstellt), Thilo aber eine männliche Figur, in die er ein Loch gebohrt hat. Obwohl er der Meinung ist, "es muss sich doch nur gut anfühlen", verspotten ihn die anderen von jetzt an als "kleine schwule Dreckschwuchtel" (und schlimmer). Davon hat Thilo einen Knacks weg, und deshalb hat er später als Erwachsener den umstrittenen Bestseller "Das kontrasexuelle Geschlecht" geschrieben, in dem er das Arschloch als eigentliches Lustzentrum postuliert.

Sarrazin und Schimpanse nach Volksbühnen-Art

Thilo heißt übrigens mit Nachnamen Sarrazin, was man nur daran merkt, dass er sich als dieser vorstellt – denn auf der Bühne bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen ist Thilo eine junge Frau im weißen Kleid (Carolin Haupt). Diese erste Viertelstunde der Gemeinschaftsarbeit von Wolfram Lotz und Martin Laberenz "Zerschossene Träume" ist schon ein erster Höhepunkt: Das Thema wird eingeführt – Identität, speziell der Geschlechter. Und der Ton wird vorgegeben: humorvoll, ruhig auch mal albern oder derb.

Es treten noch weitere rätselhafte Figuren auf, zum Beispiel der erste Schimpanse, der in den Weltraum flog, Ham, und sein junger Ausbilder Jeffrey Schaefer. Allerdings spielt beide Benjamin Lillie, und das stellt ihn vor gravierende Probleme, denn wann ist er Jeffrey, wann Ham? Und wann am Ende er selbst? Und "was soll das sein, ich selbst"? Diese theaterologischen Überlegungen sind ziemlich banal und unoriginell, Castorf und Pollesch winken freundlich aus Berlin. Als die Schauspieler später in einem Kasten verschwinden und ihr Tun per Kamera nach außen übertragen wird, nimmt das Volksbühnen-Epigonentum dann überhand.

zerschossenetraeume3 560 reiner kruse uLotz'scher Brachial-Humor, angerichtet nach Volksbühnen-Art   © Reiner Kruse

Brachialer Klodeckel-Humor

Witziger ist die Persiflage auf die Schauspielerin Lindsay Lohan, die einen Anruf von einem Filmproduzenten bekommt und die Hauptrolle in einem Film über ihr eigenes Leben spielen soll – so kann sie beweisen, dass sie "mehr als nur eine Projektionsfläche" ist. Lindsay Lohan wird – natürlich – von einem Mann gespielt (Günther Harder), und alle zusammen spielen diese Sequenz immer und immer wieder, diskutieren wie in der Theater-AG, welche Herangehensweise nun die richtige sei. Lohan bittet auch darum, ihr den "Nucleus xxx" im Hirn vereisen zu lassen, weil der für ihre Alkoholsucht zuständig sei und die Operation außerdem schon im Drehbuch stehe.

Zwischen den Szenen gibt es trashige oder scheinbar harmlose Songs von Friederike Bernhardt (da winkt auch noch Studio Braun aus Hamburg herüber), die das Bühnengeschehen zudem live mit einem Soundtrack versorgt. Immer wieder fällt der Klodeckel herunter; eine Frau hat sich Autoteile anbauen lassen, wird jetzt mit einem Auto verwechselt und ärgert sich darüber, dass man ihr immer noch die Frage nach dem Geschlecht stellt – vor brachialem Humor haben Wolfram Lotz und Martin Laberenz sichtlich keine Angst.

Gnadenlos topisch

Trotz allen Einwänden ist "Zerschossene Träume" ein amüsanter Abend. Die Dramaturgie stimmt, die Texte verbinden geschickt philosophische Betrachtungen mit situativem Witz. Für eine der poetischsten Passagen über den utopischen Körper haben Lotz und Laberenz sich von Michel Foucault anregen lassen: "Mein Körper ist eine gnadenlose Topie" – was für ein Satz! Und ganz wesentlich tragen die Schauspieler dazu bei, dass der Abend nicht an Spannung verliert, denn alle sechs spielen rasant und mit sichtlichem Spaß.

Thilo Sarrazin tritt übrigens später noch einmal in Erscheinung und treibt die pseudo-philosophischen Gender-Blödeleien auf die Spitze: Er hat sich überall reizempfindliche Zonen hin operieren lassen und ist nun "am ganzen Körper mein eigenes Geschlechtsteil".

 

Zerschossene Träume (UA)
von Wolfram Lotz und Martin Laberenz
Regie: Martin Laberenz, Konzeption: Wolfram Lotz und Martin Laberenz, Bühne: Oliver Helf, Kostüme: Aino Laberenz, Musik: Friederike Bernhardt.
Mit: Anna Blomeier, Sarah Franke, Carolin Haupt, Günther Harder, Christian Kuchenbuch, Benjamin Lillie.

www.ruhrfestspiele.de
www.schauspiel-leipzig.de


Kritikenrundschau

Gender- und Identitätsproblematiken stünden im Zentrum von "Zerschossene Träume", schreibt Britta Helmbold in den Ruhrnachrichten (4.6.2012). Der Abend erinnere "stark an das Diskurs-Theater von René Pollesch – wie auch Ausstattung und Umsetzung ebenfalls von der Berliner Volksbühnen-Ästhetik inspiriert scheinen". "Spaßig-humorvoll bis albern, auch mal recht deftig in der Wortwahl", werde das Stück von Laberenz und seinem "gut aufgelegten Ensemble" umgesetzt.

"Was soll das denn sein – ich selbst?", so laute die "rhetorische Leitfrage" dieses Abends, schreibt Vasco Boenisch in der Süddeutschen Zeitung (5.6.2012). Dabei "surft" die Aufführung zwischen der "Sinnfrage" und dem "Spott" über sie "lässig hin und her". Die Schauspieler lieferten eine "diskursive Identitätsrevue mit prominenten Protagonisten". Autor Lotz und Regisseur Laberenz "zelebrieren hier Theater als lustvolles Spiel mit (sozialen) Rollen und (Geschlechter-)Identitäten. Das ist intelligent und witzig wie ein guter Abend von René Pollesch – an dem man sich sichtlich orientiert, bis hin zu hysterischen Filmzitaten, BackstageLivevideos und einer Souffleuse auf der Bühne."

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