alt

Ein Teil von jener Kraft

von Kai Krösche

Wien, 1. Juni 2012. Moskau, 1939: Der Teufel in Gestalt eines "Professors für schwarze Magie" kommt mit seiner höllischen Gefolgschaft nach Moskau, um dort seinem dämonischen Treiben nachzugehen. Das bringt den Schriftsteller Ponyrew flugs in die Irrenanstalt, wo dieser einen mysteriösen Schriftsteller kennenlernt, der sich nur noch mit dem Kosenamen "Meister" vorstellt, den ihn dessen geliebte Margarita gegeben hat. "Meister" hat einen Roman über das Verhältnis von Pontius Pilatus zu Jesus geschrieben, fiel damit aber in der sowjetisch-atheistisch geprägten Gesellschaft in Ungnade – und drehte durch. Schließlich geht Margarita, seine Geliebte, in einer Faust'schen Walpurgisnacht einen Pakt mit dem Teufel ein, um schließlich wieder mit ihrem Geliebten vereint sein zu können. Die Realitätseben fließen zunehmend ineinander über; die antike Pilatus-Geschichte vermischt sich untrennbar mit den Geschehnissen in Moskau.

Das Große, Ganze, Perfekte

Es gibt sie, diese Theaterabende, bei denen alle gestalterischen Elemente wie Zahnräder ineinandergreifen, wo jedes einzelne ästhetische Mittel bereits für sich in die künstlerische Perfektion getrieben ist und sich doch dem großen Ganzen unterordnet; wo sich schließlich die ganze ungebremste Kraft der Kunstform Theater in all ihren Ausprägungen, lebend, atmend und mitreißend demonstriert, ohne je zum Selbstzweck zu geraten. Simon McBurney gelang mit seiner Dramatisierung von Michail Bulgakows berühmtem Roman "Der Meister und Margarita" (1939) ein solcher Abend, der nun bei den Wiener Festwochen Gastspielpremiere feierte. Über drei Stunden hinweg schaffen es McBurney, sein grandioses Ensemble und sein Team aus Bühnen- und Kostümbildnern sowie Video- und Sounddesignern, einen niemals langweilig werdenden Sog der Bilder und Szenen zu entwerfen, der von Beginn bis Schluss mitreißt.masterandmargarita1 560 robbie jack u© Robbie JackEinzige Grenze ist die eigene Kreativität

Da verschachteln sich Projektionen zu überlagerten Bildern aus Schauspielern, fliegenden Wänden oder Schneeflocken, werden aus Kassenhäuschen plötzlich mittels Lichtwechsel fahrende Straßenbahnen, untermalen Bass-Schläge einzelne Worte der Akteure und verleihen ihnen damit zusätzliche Untertöne, treten von Menschen live gespielte Katzenpuppen mit rot leuchtenden Augen auf, fliegt mittels projizierter Satellitenbilder gleich das ganze Bühnengeschehen durch halb Moskau: Der Phantasie der Theaterschaffenden ist hier angesichts der perfekt beherrschten Technik nur mehr die Grenze der eigenen Kreativität gesetzt.

Aus dem durchwegs starken Ensemble sticht Paul Rhys in einer im besten Sinne virtuos verkörperten Doppelrolle heraus. Er spielt den Meister, mit allen Zwischentönen des Getriebenen, Suchenden, Ver(w)irrten; und den Teufel "Professor Voland", als eine die Worte stets selbstgerecht und genüsslich ausspuckende Mephisto-Variation im langen Mantel und rundglasiger Sonnenbrille, zerrissen zwischen sympathisch-beängstigender Überheblich- und Eitelkeit: Wie hier ein einziger Schauspieler an einem Abend gleich zwei grundverschiedene Rollen verblüffend selbstverständlich mit Leben füllt, sucht auch auf den größten Theaterbühnen seinesgleichen.

Wie Müdigkeit nach einer spannenden Reise

Sicher, diese Flut an Assoziationen, diese stetigen Sprünge in der Handlung und den Erzählebenen – das läuft natürlich Gefahr, unterm Strich den Betrachter zu ermüden. Aber es ist hier die Müdigkeit nach einer spannenden Reise, das Gefühl der Erschöpfung nach einer positiven Überforderung; einer Überforderung, die exakt jene dünne Linie trifft, die die übermäßige Reizüberflutung von dem drohenden inszenatorischen Leerlauf trennt – und die somit zwar nie Zeit zum Verschnaufen, immer aber genügend Raum zum Nach- und Mitdenken bietet.

Dieser Theaterabend beschwört die ganz großen Themen, vergisst dabei dennoch nicht auf die kleinsten Details und gerät gerade dadurch zur wunderbaren Theaterparabel auf das Streben des Menschen nach Höherem (stets spürbar in Form der ständig schnaufenden Bühnen- und Lichtmaschinerie) – und, sichtbar im fragilen und feinsinnigen Schauspiel der Akteure, sein Scheitern am ganz und gar Irdischen.

The Master and Margarita
nach dem Roman von Michail Burgakow
Inszenierung: Simon McBurney, Bühne: Es Devlin, Kostüme: Christina Cunningham, Licht: Paul Anderson, Sound Design: Gareth Fry, Video: Finn Ross, 3D-Animation: Luke Halls, Puppen: Blind Summit Theatre.
Mit: David Annen, Thomas Arnold, Josie Daxter, Johannes Flaschberger, Tamzin Griffin, Amanda Hadingue, Richard Katz, Sinéad Matthews, Tim McMullan, Clive Mendus, Yasuyo Mochizuki, Ajay Naidu, Henry Pettigrew, Paul Rhys, Cesar Sarachu, Angus Wright.

www.festwochen.at


Kritikenrundschau

Simon McBurney gelinge mit "The Master and Margarita" "ein Triumph des Theaters", meint Norbert Mayer in der Presse (4.6.2102). Das Festwochen-Gastspiel sei "zu Recht mit stehenden Ovationen bejubelt" worden, denn hier sehe man, "wie 16 Darsteller, Puppenspieler des Blind Summit Theatre, Musiker, Licht- und Videokünstler (Finn Ross) ein Gesamtkunstwerk entstehen lassen, das den Roman tatsächlich bereichert." Für die Aufführung würden "aufwendige Videos, fetzige Musik und auch einfache Requisiten so intelligent verwendet, dass sie sich immer perfekt funktional einfügen. Diese Schau mit ihren rasanten Bildfolgen (...) ist ästhetische Raserei." Entscheidend für den Erfolg sei aber "nicht das kongeniale Beiwerk, sondern das überragende Charisma der Schauspieler".

"Ein großer Abend!" jubelt Thomas Trenkler im Standard (4.6.2012). Wie McBurneys Team "die Geschichte um den Teufel illustriert, der als Professor Voland für schwerste Irritationen im stalinistischen Moskau 1939 sorgt, ist schlichtweg atemberaubend." Selten stifte "der Einsatz von Video derart viel Sinn wie in dieser bejubelten Aufführung". Die Handlungsstränge habe McBurney "extrem klar herausgearbeitet und jede Figur unverwechselbar konturiert." Zudem bediene sich McBurney, "als Gegenstück zur passgenau (in die Fensterleibungen) eingesetzten Hochtechnologie, einfachster theatralischer Mittel".

Gerhard Stadelmaier bezweifelt in der Frankfurter Allgemeinen (4.6.2012) ganz grundsätzlich die Theatertauglichkeit von Bulgakows "Der Meister und Margarita": Dieser Roman gewinne "an Gestalt nur auf Kopfbühnen. Weil er körperlos ist. Dafür aber überwältigend geistreich. Seine Figuren bestehen aus Feuer, Luft, Phantasie, Schmerz und Witz und reiner, grenzensprengender erzählerischer Vorstellung. Schauspielerhäute taugen ihnen nichts, lassen sie lächerlich wirken." Und auch bei Simon McBurney werde "aus dem satirischen Welt-Roman Bulgakows" nur "die schick aufgedonnerte, mikrophon- und videounterstüzte Boulevardfassung der Beziehungstragödie zweier erschöpfter Paare, die zueinander nicht kommen können – außer im Tode, der prompt auch gleich die Videohausmauer zum Einsturz bringt. McBurney unterteufelt die Welt Bulgakows – und übersentimentalisiert sie." McBurneys Aufführung ist für Stadelmaier vor allem eines: "Keine Welt."

McBurney sei "im europäischen Theater eine gut gehandelte Spitzenmarke", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (4.6.2012). "Und tatsächlich erfüllt er mit seiner Bulgakow-Show alle Erwartungen." Man lande "in einer Welt technisch aberwitziger Projektionen, bevölkert mit vielen Schauspielern, die alle nur die Oberflächen ihrer Figuren verkörpern." Und "ein fast lückenloser, zunehmend nervenaufreibender Soundtrack" besorge "symphonisch das, was die Aufführung per se nicht leistet: Empathie. Phantastischer Mummenschanz, völlig sinnlos. Und Bulgakows irre Kritik am Sowjetsystem, seine Idee, aus Stalin könnte ein Pilatus werden, der die Macht abgibt und die Menschen in die Freiheit entlässt, versickert in einem handwerklich stupenden, doch leider seelenlosen Golgatha-Varieté."

Zur Eröffnung des 66. Festival d'Avignon wurde McBurneys Arbeit im Ehrenhof des Papstpalastes gezeigt. Der Inszenierung habe man zu Recht vorgeworfen, "mehr gut geölter Zirkus Bulgakow zu sein als Auseinandersetzung mit dem Buch: viel Wirkung, wenig Ursache", schreibt Johannes Wetzel in der Welt (12.7.2012). "Aber: Welche Wirkung! Christus, Pilatus und der Teufel im Hof des mittelalterlichen Papstpalastes in Avignon!"

"Simon McBurney ermüdete im Ehrenhof des Papstpalasts mit einer oberflächlich betriebsamen Adaptierung von Michail Bulgakows Roman "Der Meister und Margarita", schreibt Marc Zitzmann in einer Avignon-Zwischenbilanz in der Neuen Zürcher Zeitung (20.7.2012).

Kommentare  
The Master and Margarita, Wien: überall Event
Ich möchte ja die allgemeine Freude über die Aufführung von McBurney nicht trüben, empfehle aber doch noch die Kritik in der Süddeutschen Zeitung von heute. Es ist schon so wie es Egbert Tholl beschreibt, und da hat dann auch mal Gerhard Stadelmaier nicht so Unrecht, ein „seelenloses Golgatha-Varieté“, eine perfekt durchinszenierte Bühnenshow ohne Ecken und Kanten. Die Truppe muss ja damit auch noch durch halb Europa touren und die immensen Produktionskosten wieder einspielen. Das Anliegen des Autors stört dabei nur. Die Handlung ist so dermaßen vereinfacht dargestellt, das sie noch jeder Depp kapiert und nicht mehr zum Buch greifen braucht. Es ist natürlich nicht so, dass das Gezeigte kein gutes Theater wäre, auch die Schauspieler sind großartig, aber es regt mich auch nichts mehr daran zum Nachdenken an. Ein schöner Theaterabend, der bald wieder vergessen ist. Ähnlich ging es mir bei Luca Francesconis Heiner-Müller-Veroperung von „Quartett“. Müllers Text wird so eindeutig klar in einfaches englisches Libretto gegossen und der Rest ist zugegebener Maßen eine klanglich und optisch perfekte Bühnenshow, nicht umsonst hat man Álex Olé von La Fura dels Baus mit der Regie beauftragt. Die Video-Performer überdecken aber so überdimensional das Darstellerische, dass man sich fast erschlagen fühlt und sich nach einfachem Handwerk sehnt. Die großen Multimedia-Events machen eben Festwochen auch aus, aber so eine experimentelle und uneigennützige Herangehensweise wie bei Árpad Schillings „Priesterin“ tut da trotz aller Unfertigkeit oder gerade auch deswegen, einfach mal gut. Aber vielleicht blüht uns ganz im Sinne der Kulturinfarkt-Autoren bald überall der große Theaterevent. Viele Grüße aus dem leider etwas verregneten Wien, ein Event steht ja morgen noch an und dann geht’s wieder zurück in Heimat.
Kommentar schreiben