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Leid und Lust der Apothekerrechnung

von Wolfgang Behrens

Berlin, 1. Juni 2012. "zum totlachen!" steht auf dem rot-weiß gestreiften Vorhang. Aha, denkt man, das ist dann ja wohl das heimliche Motto der laufenden Volksbühnen-Spielzeit, und nun ist es endlich raus! Herbert Fritschs Turbokomödien, die das Publikum wie in den allerbesten Zeiten ins Haus strömen lassen, scheinen den gesamten Spielplan infiziert zu haben: Willkommen in den fröhlichen Niederungen der Unterhaltung. Zum Abschluss der Saison und zum Auftakt der nächsten jedenfalls gilt es an der Volksbühne einem, der sich buchstäblich totgelacht hat. Oder zumindest seine Zuschauer so lange zum Lachen gebracht hat, bis er auf der Bühne tot umfiel: Die Volksbühne erkundet den Kontinent Molière.

Doch eigentlich ist das mit dem Totlachen auch nicht neu. Wann wäre man je in den letzten 20 Jahren aus Frank Castorfs Theaterlabor am Rosa-Luxemburg-Platz gekommen und hätte nicht in sein Tagebuch notiert: "In der Volksbühne gewesen. Gelacht." Ja, okay, früher hat man natürlich über den demontierten Tiefsinn gelacht, über Schillers "Räuber" und über Hebbels "Nibelungen", über Hauptmann, Brecht und Heiner Müller. Das war befreiend und hat neuen, anarchischen Sinn produziert. Aber man lachte auch schon über "Pension Schöller". Könnte "zum totlachen!" nicht das Motto der gesamten, immerwährenden Intendanz Castorfs sein?

Pressen, schnarren, kreischen

Wenn nun der rot-weiße Lappen, der einer Zirkus-Wandertruppe zur Ehre gereichen würde, hochgezogen wird und den Blick ins schön kulissenhafte, von schwarz-weißen Kassettenwänden gerahmte Domizil des "Eingebildeten Kranken" freigibt (Bühne: Bert Neumann, wer sonst?), dann ist es also irgendwie auch wie immer. Man lacht sich tot über herrlich eskalierende Schauspieler-Slapsticks, die von hier, von der Volksbühne aus, einst die deutschsprachigen Theaterlande eroberten. Nur dass jetzt Komödie draufsteht, wo Komödie drin ist. Das ist nicht verkehrt, es macht sogar Spaß. Das Befreiende allerdings und – ja, scheuen wir nicht das alte Wort: das Erkennende im Lachen ist weg. Man lacht jetzt halt so vor sich hin, das aber immerhin laut.

dereingebildetekranke1 560 thomas aurin uArzt und Zuchtmeister seiner selbst: "Der eingebildete Kranke" © Thomas Aurin

Anlass dazu ist genug da. Denn der begnadete Großschauspieler Martin Wuttke – der hier, beim ersten Teil der in Entstehung befindlichen Volksbühnen-Molière-Trilogie, auch sein eigener Regisseur ist – spielt Argan, den Kranken aus Einbildung. Und dazu zieht er alle komödiantischen Register, über die er in den letzten Jahren zu verfügen gelernt hat. Wenn Wuttke etwa im Anfangsmonolog (den er – schon das ist nicht unkomisch – auf Französisch spricht) die Apothekerrechnungen herunterleiert, dann ist da auch viel "Arturo Ui" mit dabei, jene Rolle also, die er seit 1995 so überaus erfolgreich am Berliner Ensemble verkörpert: Er krächzt und presst, schnarrt und kreischt, haspelt, winselt, fiepst, japst und keucht – facettenreicher als Wuttke brüllt wohl keiner.

Wahnwitzige Einzelaktionen

Hinzu kommt Wuttkes ureigenes Körperspiel: Unter der lächerlichen schwarzen Ohrenkappe und im nicht minder lächerlichen weißen Rüschenbademantel tapert und tänzelt er verdruckst und lauernd einher, dass es eine Augenweide ist. Und gibt es einen Schauspieler, der ähnlich virtuos seine Zunge herausschnellen lassen könnte? Wuttke würde vermutlich schon allein dieses Zungenspiel genügen, um seinen Argan als einen zutiefst haltlosen und kindisch-unkontrollierten Charakter zu zeichnen.

Um sich herum lässt Komik-Hohepriester Wuttke ein Hochamt der Albernheit zelebrieren: Da wird mit Riesenklistieren operiert, die hinten hineingejagten Flüssigkeiten spritzen munter vorne wieder raus, und einmal findet gar der Auswurf Argans durch die allseits beliebte Verwechslungsmechanik den Weg auf die Suppenteller der speisenden Familie. Immer wieder scheint es einzelne Figuren zu überkommen: Sie agieren sich dann in wahnwitzige Einzelaktionen hinein (besonders irre sind Lilith Stangenberg, die beide Töchter Argans spielt, Maximilian Brauer als Möchtegern-Schwiegersohn und Margarita Breitkreiz als Zofe Toinette mit ironischem Brachialcharme), die von den anderen mit weit aufgerissenen Augen bestaunt werden.

Von Antonin Artaud durchschossen

Das Ganze ist aber auch ein Fest des Epigonalen: Als Regisseur hat Martin Wuttke im Grunde nie zu einer eigenen Handschrift gefunden, sondern er hat sich immer – mit mitunter stupendem Geschick und kleinen Akzentverschiebungen – fremde Stile anverwandelt. Wenn jetzt im "Eingebildeten Kranken" die Dialoge von Antonin Artaud-Texten durchschossen und zentrale Szenen per Live-Handkamera auf eine Leinwand projiziert werden, wenn insgesamt die Dramaturgie einige offene Diskursenden in den Abend einfädelt, ohne dass diese am Ende stimmig vernäht werden sollen, dann schimmert überdeutlich das Modell Castorf durch.

Apropos Castorf: Der wird nun schon in der nächsten Woche mit "Der Geizige" nachlegen. Und zu Beginn der nächsten Spielzeit soll – man höre und staune! – der ewige Selbstinszenator René Pollesch "Don Juan" inszenieren. In den Hauptrollen jeweils: Martin Wuttke. Das könnte lustig werden. Wenn wir uns bis dahin nicht totgelacht haben.


Der eingebildete Kranke
nach Molière, Textfassung von Martin Wuttke und Anna Heesen unter Verwendung der Übersetzungen von Doris Distelmeier-Haas und Simon Werle sowie Texten von Antonin Artaud
Regie: Martin Wuttke, Bühne: Bert Neumann, Kostüme: Nina von Mechow, Musik: Sir Henry, Licht: Lothar Baumgarte, Dramaturgie: Anna Heesen.
Mit: Hendrik Arnst, Maximilian Brauer, Margarita Breitkreiz, Jean Chaize, Brigitte Cuvelier, Lilith Stangenberg, Abdoul Kader Traroré, Martin Wuttke.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.volksbuehne-berlin.de

Kritikenrundschau

"Es kann noch lustiger werden", resümiert Patrick Wildermann im Tagesspiegel (3.6.2012). Wuttke lade seinen Molière "mit Auslassungen des psychischen Grenzgängers Antonin Artaud auf. Was die Lebenskomödie in die existenzielle Verunsicherung kippen lässt. Was erst mal passt." Allerdings interessiere die Molière-Handlung Wuttke "nicht sonderlich. Vor die Situationskomik setzt er den Artaud. Was allmählich die Spielfreude bremst. Wuttke ist einfach ein besserer Schauspieler als Regisseur. Die Inszenierung wirkt zunehmend zusammengestoppelt."

Es sei "schier phänomenal, was Martin Wuttke an komödiantischen Mitteln zu Gebote steht", meint Eberhard Spreng auf Deutschlandfunk (3.6.2012). "Er fuchtelt gefährlich mit seinem Stöckchen, duckt sich zuckend vor jedem vernünftigen Gedanken seiner Kammerzofe Toinette, stiert mit leeren, glühenden Augen wie ein verlorenes Kind. Er wird im Rüschenmorgenmantel und alberner Kappe zum Fabelwesen, dessen Zunge wie die eines Chamäleons herausschnellen kann." Wuttke sei der "Mittelpunkt eines Ensembles verrückter Karikaturen". Allerdings würden die eingeschobenen Artaud-Texte das Stück "beim besten Willen nicht erhellen oder vertiefen, sondern den Rhythmus der komödiantischen Mechanik stören". Wo "der Schauspieler Martin Wuttke am Elend des Wahnsinns" kratze und "die Metaphysik der Komik" auslote, ziele "der Regisseur Wuttke auf Konformität mit den Gewohnheiten an der Berliner Volksbühne und überhöht das Spiel mit philosophischem Gerede".

"Wuttke droht als Regisseur und Hauptdarsteller in Personalunion alle anderen an die Wand zu spielen", sagt Alexander Kohlmann in der Sendung "Fazit" im Deutschlandradio Kultur (1.6.2012). "Die Szenen, in denen er – stets im Mittelpunkt – fast alle Aufmerksamkeit auf seine Person vereinen kann, erinnern an Kenneth Branagh in seinen durchaus selbstsüchtigen Shakespeare-Verfilmungen". Daraus resultiere, "dass außer guter Laune nicht viel von dieser Inszenierung im Gedächtnis bleibt, die in ihrer dramaturgischen Schlichtheit durchaus an das vorpsychologische Theater der Molière-Zeit anzuknüpfen weiß".

"Wahrlich, es sind so viele Angstfressen und Peinigervisagen und Dummhirne und Befehlskomiker und Käferseelen. Viele, viele, viele. Und doch sind sie alle nur einer, denn nur ein einziger Schauspieler treibt und wühlt sich da durch sämtliche Spielarten der Unsympathie: Martin Wuttke." So schreibt es Hans-Dieter Schütt im Neuen Deutschland (4.6.2012) und setzt hinzu, dass Wuttkes Spiel "goldbarrenglänzende Schmiere" sei und "ganz große Metamorphosenchose. Ist Verwurstung, aber erhoben in den Adelsstand der Verhanswurstung." Herauskomme "Molière nicht schaurig, aber doch sehr wohl zum Schauen." Und auch wenn die Inszenierung "nicht außergewöhnlich tief" ziele – "eine Gelegenheit, diesen bestechend komödiantischen Wuttke versäumen zu wollen, die muss erst noch erfunden werden."

Ein Lachwelle habe die Volksbühne erfasst – meint Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (4.6.2012) –, in deren Folge die "freigespülten und durchbluteten Hirnwindungen des Volksbühnenzuschauers nun wieder begehrlich" zuckten, aber vorerst auch noch "etwas kurz gehalten" würden "mit ein bisschen Artaud-Text-Zuspeise zu ganz viel Gauklerkunst". Das mache "gar nichts, denn wer sagt denn, dass man, bevor man langsam wieder ins Grübeln hineinkommt, aus dem Lachen heraus muss? Die Wonne hat Wuttke dem Lachen allerdings abgeschnitten. Schwarz, hoffnungslos und von garstiger brutaler Kasperhaftigkeit ist die Freude, die einen erfasst und die selbst den Genuss von Wuttkes Virtuosität mit hinabzieht." Zum "farbechten Kinderalbtraum gerundet" werde das Ganze "mit Sir Henrys Gespensterfilm-Musik und Bert Neumanns beinfarben getäfeltem Renaissance-Wohnkästelchen".

Wuttkes Inszenierung, die Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen (16.6.2012) mit Castorfs "Geizigem" im Doppelpack bespricht, begnüge "sich mit derb-routinierter Komik". Den "Rest dieser harmlosen, schwergängig-grellen Grand-Guignol-Hanswurstiade, die als längliche Reihe von losen Solonummern verkümmerte, machten eingeschobene Texte von Antonin Artaud nicht beschwingter".

Wie Wuttke Molières "genuss-unfähige Lebensfeinde" (neben dem "Eingebildeten Kranken" auch den "Geizigen" in der Regie Castorfs) spiele, gleiche "einer höhnischen Hinrichtung seiner Figuren", meint Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (16.6.2012). "Nicht Einfühlung, sondern Groteske, also ein Ineinander von Komik und Schrecken, Grimasse und Überzeichnung sind seine mit Hochleistungsvirtuosität abgerufenen Stilmittel. Als eingebildeter Kranker ist er ein röchelnder Hysteriker, um den das übrige Personal kreist wie kleinere Satelliten." Regisseur Wuttke interessiere sich "vor allem für den Hauptdarsteller Wuttke. Die übrigen Figuren bleiben konturlos, was leider für einen gewissen Leerlauf der Veranstaltung sorgt."

 

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