Jedes Handeln ist ein Behandeltwerden

von Petra Kohse

Berlin, 7. März 2007. In Dimiter Gotscheffs Inszenierung von Tschechows "Iwanow" an der Berliner Volksbühne gibt es diesegrandiose Szene, in der Alexander Simon als Doktor in die Tiefe des bühnenfüllenden Nebels von Katrin Brack nach hinten geht, sich kerzengerade haltend, den rechten Arm und Zeigefinger nach oben reckend und mit dröhnender Stimme Warnungen ausstoßend. Er ist sich das schuldig in diesem Moment.

Obwohl er weiß, dass es für Warnungen zu spät ist. In seiner Hilflosigkeit reizt er die Haltung des Besserwissenden aus, exerziert sie in angeblichem Triumph, tatsächlich jedoch als letzten Versuch. Im Geiste dieses tragisch-lächerlichen Pathos hat Gotscheff an gleicher Stelle jetzt zwei Jahre später Nikolai Erdmans "Selbstmörder" inszeniert.

Das Stück, 1928 geschrieben, vierzig Jahre nach "Iwanow", ist eine Komödie. Vor dem Hintergrund der Sowjetisierung der russischen Gesellschaft lässt Erdman Vertreter verschiedener vorrevolutionärer Milieus aufmarschieren (den Intelligenzler, den Schriftsteller, den selbständigen Fleischer, den Priester, die  Romantikerin...), die einen arbeitslosen Kleinbürger in den Selbstmord zu drängen versuchen, um ihn als Märtyrer für ihre jeweiligen Zwecke vereinnahmen zu können. Ein witziges, auch für heutige Begriffe bissiges Stück, das sich an seinen Typen allerdings etwas zu ausführlich freut. Zu Erdmans Zeit durfte es als zu negativ nicht gespielt werden, die Uraufführung war 1969 in Göteborg, die deutsche Übersetzung von Thomas Reschke wurde erstmals 1970 in Zürich gespielt.

Gibt es ein Leben nach dem Tod?

Dimiter Gotscheff, der Grübler und Träumer, fasst die Satire als Frage auf, die die Figuren an sich selber stellen. Sind sie noch die, für die sie sich halten, und wenn ja: woran würden sie dies merken? "Gibt es ein Leben nach dem Tod? Ja oder Nein? Antworten Sie mir!" bedrängt Samuel Finzi in der Titelrolle das Publikum, als es ernst zu werden droht mit der Selbstmordfarce und man ihn zum finalen Bankett erwartet. "Ja? Oder Nein?" Lange fragt er das und mit echter Ratlosigkeit. Dann setzt er die weiße Perücke wieder auf, ein struppiges Feudalzitat, lässt die Augen dramatisch rollen und tippelt in seinen flachen weißen Damensandalen von der Bühne. Dazu trägt Finzi eine schwarze Damenstrickjacke, gestreifte Boxershorts und keine Hose. Auch Wolfram Koch als kleinkrimineller Schießbudenbesitzer zeigt viel Bein und hat über der kochfesten Herrengarnitur nur einen langen Trenchcoat an, während Axel Wandtke als Intellektueller und Kurt Naumann als Priester in Schlafanzügen auftreten, Michael Klobes Schriftsteller unter der Servierschürze ebenfalls die Hose fehlt und so weiter. Herbert Fritsch wurde überhaupt als Frau besetzt, als Schwiegermutter des arbeitslosen Podsikalnikov und zeigt in einem lachsfarbenen Chiffonhängerchen und schwarzen Lammfellpuschen exaltierte Grazie.

35 Schaukeln und eine Riesenverkleidekiste 

Es ist, als hätte die Ausstatterin Katrin Brack dem Ensemble eine Riesenverkleidekiste zur Verfügung gestellt, dazu die Andrew Sisters eingespielt und nach zehn Minuten gerufen: Schluss jetzt, so bleibts!  Und dann ihre Schaukeln aufgehängt, die diesmalige Bühnenbildidee: 35 Schaukelbretter mit bunten Seilen, die weit in den Bühnenhimmel hinauf führen und sehnsüchtige Schatten werfen an das nackte Halbrund der rückwärtigen Wand. Ein Rummelplatz, ein Tummelplatz für nächtlich Aufgeschreckte, die vergessen haben, wer sie sind, aber diese Unwissenheit überspielen, indem sie ganz laut tönen und große Gesten machen, hohl und voller Hingabe. Gotscheff lässt Melodram spielen, voller Slapstick- und Stummfilmkomik. Samuel Finzi, Gotscheff-Protagonist seit vielen Jahren, kann hier in seinen Mitteln baden. Er ist ganz Clown als kleinbürgerlicher Macho und Märtyrer und vollkommen konzentrierter Spielball der Situationen und Stimmungen. Man pustet ihn an, er hüpft zurück, das Publikum lacht. Die Getriebenheit ist das Lustige. Und das Melancholische. Dass jedes Handeln am Ende nur ein Behandeltwerden ist.

In seiner größten Szene steht er mit nacktem Hintern allein im Licht und spielt den Übermut des Todesbereiten, wenn er im Kreml anruft, um denen zu sagen, dass er Marx gelesen  – aber nicht gemocht habe! Tänzelnd, stramm stehend und immer wieder vor dem eigenen Schatten erschreckend. Kathrin Angerer ist Mascha, die Frau des Bürgers Podsikalnikov. Wunderschön und auf das vorteilhafteste eingekleidet in eine tieftraurige und zugleich tüchtige Divenhaftigkeit. Und Max Hopp spielt Erdmans "fortschrittlichen junger Mann". Mit Sowjetkappe, Megafon, einem viel zu großen Mantel und einem so breiten Lächeln, als wolle er sein Gesicht zum Platzen bringen. Halb Klamotte, halb Alptraum ist dies alles, eine überbordende Suche nach der verlorenen Existenz. Aber dann gibt es noch den Chor. P14, das Jugendensemble der Volksbühne, markiert 28-köpfig die Sowjetmasse, sehr jung, zu laut und gleichfalls in Nachtkleidung. Das ist zu verspielt, um bedrohlich zu sein und hemmt das Circensische gleichzeitig beträchtlich. Wenn Ornamentales entsteht bei Gotscheff, dann eher aus der Vergrößerung des Einzelnen heraus. In der Nacht nach der Premiere träumte ich, Gotscheff habe beim Applaus ins Publikum gerufen: „Das sind hier 50 Schaukeln, zählen Sie nach!“ Tatsächlich stand der Regisseur nur einen Augenblick alleine auf der Bühne und klatschte den Schauspielern selbst.

Der Selbstmörder
von Nikolaj Erdman
Regie: Dimiter Gotscheff, Bühne/Kostüme: Katrin Brack, Musik: Sir Henry, Licht: Henning Streck.
Mit: Kathrin Angerer, Samuel Finzi, Max Hopp, Irina Kastrinidis, Michael Klobe, Wolfram Koch, Sergej Lubic, Kurt Naumann, Katharina Rivilis, Marie-Lou Sellem, Axel Wandtke.

www.volksbuehne-berlin.de

Kritikenrundschau

Niemand kann sich so recht zur Kritik an Dimiter Gotscheffs breit getretener Inszenierung von Der Selbstmörder aufraffen. Ulrich Seidler fragt sich in der Berliner Zeitung (9.3.2007) zwar, warum dieses Stück aus der Sowjetunion der späten zwanziger Jahre hier und heute, fällt sich aber gleich mit: "Was soll das Gemäkel? Der Abend leuchtet hell in Augenblicken", selbst ins Wort.

In den "vielen Arbeitslosen" in Berlin sieht Andreas Schäfer den "einzigen, vage aktuellen Bezug". Im Tagesspiegel (9.3.2007) schreibt er, Gotscheff lege diesen Abend einfach seinem Hauptdarsteller Samuel Finzi zu Füßen, "verständlicherweise", denn nichts läge dem "Aufbrauseakrobaten" mehr als das Drama der "beleidigten Leberwurst", des "Westentaschentyrannen" Semjon, der sich, "sobald man ihm schmeichelt, monströs aufbläst und für den Herrscher der Welt hält."

Ein "bleischweres, schwitzend ausgewalztes über dreistündiges Russen- Nummerndrama", sah Irene Bazingerin der FAZ (9.3.2007), das zuletzt unter "den schneidigen Pointenpiraten mit ihren Spaß-Brechstangen" kollabierte. Auch sie voll des Lobes über die "rampenfreudigen" Schauspieler und, naturgemäß, Katrin Bracks drei Dutzend Schaukeln, schmale Brettchen, die sich "majestätisch langsam" an bunten Seilen "zu Beethovens marschmäßig verfremdeter Neunter" herabsenken, und als "räumlich betörendes Nirgendwo erscheinen".

Peter Laudenbach sah sich in der Süddeutschen (9.3.2007) wahlweise in den "Kindergarten" oder unter "lauter Schlafwandler" versetzt. In Gotscheffs "Clownsspiel" stelle Samuel Finzi als Selbstmörder Podsekalnikow "in die Groteske und die schamlose Eitelkeit getriebene Melancholie-Posen" aus,  "eine überaus virtuose Parodie auf alles Virtuosentum."

Dirk Knipphals in der taz (9.3.2007) bedauert leise, dass aus der "Wiederentdeckung dieses Stücks eine Hochleistungsvorführung von Schießbudenfiguren und dramaturgischen Abziehbildern" geworden sei. Im Stück angelegt sei aber für uns auch die Möglichkeit, "den spießigen Kleinbürger in sich zu entdecken. Das wäre brisanter gewesen."

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