Glaube Liebe Hoffnung - Bei den Wiener Festwochen lässt Christoph Marthaler gleich zwei Elisabeths leiden
Im Gesangsverein
von Kai Krösche
Wien, 13. Juni 2012. Einmal, zweimal kann der Mann auf der Leiter hochsteigen, um ein paar der fehlenden Buchstaben auf der Überdachung dieses in die Jahre gekommenen 50er-Jahre-Baus anzubringen, da brechen schon die Sprossen und machen jede weitere Arbeit an der Fassade unmöglich: "ANAT ... M ... INST" steht nun über dem Eingang; gerade noch genug Bedeutung, um der Sinnlosigkeit zu entgehen, um das "Anatomische Institut" für diejenigen anzudeuten, die es (noch) kennen – und doch weit entfernt von einer seine Funktion erfüllenden Beschilderung.
Was sich in den ersten Minuten in Christoph Marthalers Festwochen-Inszenierung von Ödön von Horváths "Glaube Liebe Hoffnung" in diesem absurden, kleinen Bild andeutet, ist stellvertretend für die in den darauffolgenden dreieinhalb Stunden auf der von Anna Viebrock geschaffenen Bühne entstehenden Welt: ein fragiler Zwischenort in einer zerfallenden Zwischenzeit, verlorengegangen irgendwo auf jener schmalen Grenze, die die Erinnerung an eine einstige Ordnung von der völligen Auflösung in der Bedeutungslosigkeit trennt. Scheinbar abgekapselt von einem Außen, gleichen diese trostlosen und nach allen Seiten hin verschlossenen Wände einer Art Fegefeuer – und seine Bewohner rastlosen Seelen, die sich aus Angst vor einem unbekannten Neuen hilflos festklammern an einem früheren, eine "Funktion" erfüllenden Leben: Der "kleine Totentanz", als den Hórvath sein 1932 erschienenes Theaterstück in Form eines Untertitels benannte, wird bei Marthaler zur ausgedehnten Geisterstunde.
Gestörte Radioempfänger aus einer fernen Welt
Alles an diesem Abend scheint nur in Form von Nach- und Schattenbildern zu bestehen: Zwar stehen im Orchestergraben noch Stühle und Notenständer, die Musiker selbst jedoch sind ersetzt durch Verstärker und Musikboxen verschiedener Größen, die, mal dirigiert und am Piano begleitet von einem mysteriösen Pianisten mit zurückgekämmtem Haar und Anzug (Clemens Sienknecht), oft jedoch wie von Geisterhand einzelne kurze Streicher- und Bläsertöne von sich geben und damit nur mehr die Erinnerung an bekannte Melodien wecken – allen voran Schuberts "Der Tod und das Mädchen", neben Chopins berühmtem Trauermarsch das musikalische Hauptthema des Abends; so als seien sie gestörte Empfänger von Radiowellen aus einer fernen Welt.
© Walter Mair
In dieses sanfte Purgatorium schickt Marthaler die junge, arbeitslose Elisabeth auf die von Beginn an zum Scheitern verurteilte Suche nach Arbeit, Geld und ein kleines bißchen Glück, oder besser: Er schickt gleich zwei junge, arbeitslose Elisabeths auf diese Suche, denn die Protagonistin in Horváths Stück wird an diesem Abend simultan von zwei Schauspielerinnen – Olivia Grigolli und Sasha Rau – verkörpert. Durch die Dopplung, zeitgleich unsichtbare Geistererscheinung sowie anwesende Person, wird Elisabeth zum einen zur Komplizin ihrer selbst, gerät sie selbst zu der für sie einzigen unterstützenden Kraft im ganzen Stück.
Oben und unten
Zum anderen spiegelt sich im unterschiedslosen Umgang der anderen Figuren sowohl mit der einen als auch der anderen Elisabeth deren Unfähigkeit, im Gegenüber ein Individuum zu sehen statt einer Projektionsfläche für persönliche Wunschvorstellungen. Das klingt kompliziert und verkopft, wirkt aber auf der Bühne bewegend und oft im besten Sinne des Wortes komisch: Etwa wenn am Ende, nach Elisabeths missglücktem Selbstmord aus Verzweiflung, ihr Retter gleich zweimal den bewusstlosen Körper auf die Polizeiwache tragen muss (und, als wär's noch nicht genug, im Anschluss gar noch drei weitere leblose Frauenkörper).
Die Männer indes, die Elisabeth in nur wenigen Stationen in den schlussendlichen Tod schicken, sind ihrerseits mehr Karikaturen ihrer selbst, um sich kreisende und selbstmitleidige Autisten, körperlich wie seelisch steifgeworden von tief verinnerlichten Pflichtgefühlen, die sie immer wieder reflexartig (denn nach der an erster Stelle stehenden Pflicht kommt schließlich lange Zeit erst einmal "radikal nichts") vor jegliche menschliche Regungen stellen. In ihrer geradezu lächerlichen Panik davor, einen vermeintlichen "Status" zu verlieren, in ihrer Orientierung in Richtung eines unerreichbaren Obens und der einhergehenden, kleinmütigen Abgrenzung von allem, was sie als sozial "unter sich" begreifen, sind sie dabei auch ohne aktuelle Zeitbezüge personifizierte Kommentare zur Wirtschaftskrise und ihren verheerenden Auswirkungen auf ein gesellschaftliches Selbstverständnis.
Himmelwärts
Das Interesse dieser Männer an Elisabeth ist rein egoistischer Natur: Die junge Frau, die unter ihren Anweisungen selbst noch jene Kulissenumbauten bewerkstelligen muss, die für sie die nächste Szene – und damit den eigenen Untergang – einleiten, bedeutet für sie wenig mehr als die Möglichkeit, sich ihrer eigenen menschlichen bzw. männlichen (sexuellen) Gefühle im Spiegel des Gegenübers bewusst zu werden. Auch hier hat Marthalers Regie den verborgenen Punkt in Horváths Stück aufs Schmerzlichste ausgegraben, vielleicht gar zu schmerzlich für einen Teil des Wiener Publikums, das sich bereits zum Pausenblack in lautstarke Buhrufe flüchtete – und damit wohl unwissentlich nicht nur die Inszenierung, sondern den (alles, nur sicher nicht missverstandenen) Autor des Stücks gleich mit verschmähte.
Die zwei Elisabeths © Walter MairNatürlich wird – wie in Marthaler-Inszenierungen üblich – auch gesungen an diesem Abend, doch selbst die hoffnungsvollen Augenblicke der Ruhe, des gemeinsamen Gesangs, scheinen hier nur mehr spurenartig vorhanden, drohen bisweilen gänzlich in der Stille zu versinken. Trotzdem bieten sie in ihrer Sparsamkeit Ausblicke in eine mögliche bessere Welt, in einen Ausweg aus diesem Zwischenort, diesem Abstellgleis. So stellt Marthaler ans Ende des Abends trotz der – textgetreuen – Durchexerzierung der stationsartigen Hinrichtung einer jungen Frau ein Zitat aus einem anderen, weitgehend unbekannten Horváth-Text, dem vom Autor selbst als Zauberposse betitelten Fragment "Himmelwärts": Hier ist die Rede von einem utopischen Arkadien, in dem die Menschheit in trauter Gemeinschaft ohne Staat, Stände und Gesetz ein friedfertiges und wunschlos glückliches Dasein fristet. Dass die Abwesenheit von regelnden Mächten nicht in die Anarchie führt, erklärt der Sprecher mit der Kraft der Musik: "Wir haben keinen Staat mehr, wir bilden nur mehr einen Gesangsverein!" So verblüffend humorvoll und einleuchtend hat wohl noch keiner ein mögliches Paradies auf den Punkt gebracht.
Glaube Liebe Hoffnung
von Ödön von Horváth (unter Mitarbeit von Lukas Kristl)
Regie: Christoph Marthaler, Bühne: Anna Viebrock, Blanka Radoczy (Mitarbeit), Kostüme: Sarah Schittek, Musik: Clemens Sienknecht, Martin Schütz, Christoph Marthaler, Uli Fussenegger, Licht: Phoenix (Andreas Hofer), Johannes Zotz, Regie-Mitarbeit: Gerhard Alt, Dramaturgie: Malte Ubenauf, Stefanie Carp.
Mit: Olivia Grigolli, Sasha Rau, Ueli Jäggi, Jean-Pierre Cornu, Ulrich Voß, Bettina Stucky, Irm Hermann, Josef Ostendorf, Thomas Wodianka, Clemens Sienknecht, Sophie Zeuschner, Elisabeth Werdermann und Sophia Maria Keßen.
www.festwochen.at
"Glaube Liebe Hoffnung" sei "vielleicht sogar Horváths gewichtigstes Werk", meint Bernhard Doppler im Deutschlandradio Fazit (13.6.2012). "Christoph Marthaler hat ihm jedenfalls eine solche Bedeutung wiedergegeben, wohl auch schon allein dadurch, dass die Aufführung sich auf vier Stunden ausweitet." Im Bühnenaufbau von Anna Viebrock mit seinen hölzernen Wänden und Täfelungen, Bürotischen und ausziehbaren Betten, mit seinen Glastüren, werde die Geschichte nicht nachgespielt, sondern erzählt und immer wieder in Musik und Gesang, in Lachgeräusche oder in verzögerte, genau choreografierte Bewegungen aufgelöst. "Auch wenn zu Glaube und Liebe auch noch einige Texte - ausschließlich von Horváth - hinzugefügt worden sind, hier scheint die in der Regel unsinnige Bezeichnung einer 'werktreuen' Aufführung zuzutreffen."
"Es ist als hole Christoph Marthaler gleich alle Horvathschen Fräuleins auf die Bühne und stelle sie zugleich in eine völlig pervertierte Umgebung", beobachtet Sven Ricklefs für den Deutschlandfunk (14.6.2012). Selbst noch den eigentlich 24 Jahre jungen Schupo habe Marthaler mit dem 57-jährigen Ueli Jäggi besetzt, "da zeigt sich ein System lemurenhafter Funktionsträger, die sich lendenlahm zwar, aber dennoch den Zugriff auf den weiblichen Nachwuchs offenhalten". Es sei kein schönes Bild, was Marthaler da mit Hilfe von Horvath von der Geschlechterwelt entwerfe. "Natürlich dauert dieser Abend lang, gute dreieinhalb Stunden, doch anders als bei seinen letzten Arbeiten bei den Wiener Festwochen, die wie etwa das 'Subpolare Basislager plus minus Null' im letzten Jahr eigene Projekte waren, hat man bei diesem Horvath nun wieder das Gefühl, dass das Marthalerische Theater des Zerdehnens der Zeit, das Singen und Summen, einen Gegenstand hat." Marthaler zeige, was für ein starkes und zugleich monströses Stück das sei: dieses "Glaube Liebe Hoffnung".
Christoph Marthaler ziehe den Stoff aus wie Strudelteig, reichere ihn mit Zusätzen an, schreibt Norbert Mayer in Die Presse (14.6.2012). "Die Hülle zeigt Horváths Haltbarkeit, die Fülle zeigt, dass der Regisseur sein bewährtes Rezept der Marthalerei beherrscht, egal, welches Hochamt er gerade zelebriert." Marthalers Team zähle zu den Besten in kleinen Gesten. "Das kann so spannend sein, dass sogar Festwochen-Intendant Luc Bondy als Zuseher der Premiere darauf vergisst, mit dem Handy zu hantieren." Am stärksten sei das Ensemble beim sattsam bekannten Musizieren, "da werden Bach und Berg und Lehár faschiert zum großen Schweizer Ragout". Doch letztendlich wirkten die Gags dazwischen nur wie bedächtige Varianten von "Monty Python's Flying Circus". "Wer möchte davon wirklich eine doppelte Portion?" Nicht nur Elisabeth bleibe auf der Strecke, sondern Wesentliches von Horváth – das Lakonische. "Seine traditionellen Liebhaber mag das schmerzen, aber was zählt dies bei der Ekstase der Eingeweihten?"
Anders Ronald Pohl im Standard (14.6.2012), der von einer "Meisterinszenierung" spricht: "Mitten im tiefsten Frieden sind diese Menschen - Elisabeths natürliche Kontrahenten - bis an die Zähne bewaffnet. Sie stecken in zerknitterten Adenauer-Anzügen und Arbeitskitteln. Sie blicken pikiert und sprechen die Horváth-Sentenzen, diese Zeugnisse unendlicher Dummheit, wie abschließende Werturteile." Marthaler schenke Tätern wie Opfern "den lindernden Trost der Musik". Zwar besitze er "vielleicht keine Hypothese darüber, warum Menschen, kaum dass sie in Not geraten, einander wie Bestien an die Gurgeln fahren", aber doch "ein sehr klares Bild vom kleinen Glück, das sich beim nahen Hinschauen als wahre Katastrophe entpuppt".
"Früher war alles besser, raunzt der Theaterbesucher gerne. Der Befund stimmt selten", schreibt Ulrich Weinzierl in der Welt (15.6.2012). "In unserem Fall ist er leider angebracht." Denn Christoph Marthaler bereite dem Publikum mit seiner Version von "Glaube, Liebe, Hoffnung" eine herbe Enttäuschung. "Marthaler inszeniert nicht mehr das Original, er inszeniert Marthaler, dessen oft großartige Manierismen." Textlich stamme zwar alles aus der schon vom Autor einst unnötig aufgeblähten Volksstückfassung, aus Vorarbeiten dazu sowie aus Nachlassbänden. "'Glaube, Liebe, Hoffnung' bedarf indes keinerlei Aufbesserung, es ist perfekt." Wer hinzufüge, und sei es auch ungemein kenntnisreich, der zerstöre die heikle Balance, das beglückende innere Gleichgewicht dieses grausam harten, zarten Gebildes. Wie auch die Bühne von Anna Viebrock – "wieder einmal eins ihrer tristen Raumwunder" – verweise die Aufführung insgesamt nicht über sich hinaus, sondern köchele in ihrer musikalischen Ursuppe dreieinhalb Stunden vor sich hin. Das Stück gehe dabei vor die Hunde: "Kein Glaube. Keine Liebe. Keine Hoffnung. Nur Gesangsverein." Zum Schluss erklärt der Rezensent seinen Austritt aus dem Marthaler-Fanclub. "Zumindest bis zu seiner nächsten Premiere. Ich lasse den Kopf nicht hängen."
Marthalers Umgang mit der Musik im Schauspiel habe sich verändert, konstatiert Uwe Mattheis in der taz (15.6.2012). "War das, was die sentimentale Hausapotheke von Schubert bis zur Kulturindustrie bietet, bisher oft dramaturgisch pointierte Nummer, wachsen die Klangzitate hier zu einem weit komplexeren Gebilde zusammen, einer Art von musikalischem Essay, der den Abend mitdenkt." Aus Horváths Sätzen habe Marthaler noch das letzte psychologische Bindemittel entfernt. "Wirtschaft als irrationaler Selbstzweck und gesellschaftliche Repression bringen nur noch Zombies hervor." Ein großartiges Ensemble werfe die Sätze ohne menschelnde Verstellung geradewegs auf die Bühne, wo sie auf halbem Weg unversöhnt ausklängen. Es gebe einige Buhs zur Pause von denen, die in Wien glaubten, die Sprache Horváths in der Wiege oder schlimmer noch im Blut zu haben. "Marthaler ist nicht mehr nett, und das ist gut so."
Christoph Marthaler traue Olivia Grigolli offenbar nichts mehr zu, meint Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.6.2012). Er mache sie als Elisabeth zum doppelten Lieschen. "Man sieht nicht mehr von ihr, wenn man sie doppelt sieht. Man sieht nicht mal die Hälfte." Das Ganze sei, so Stadelmaier, wenig mehr als ein etwas schal gewordenes Theater im Theater. Ohne Weltanschluss. Man nehme, sozusagen leidlich an den Ohren gekitzelt, an einer Art Betriebsausflug des Marthaler-Gesangvereins ins Anatomische Institutsfestspielhaus teil. "Marthaler drückt sich um das Stück herum. Er lässt es beschallen. Aber er dringt nicht zu ihm vor."
Auf Christopher Schmidt wirkt an diesem Abend alles zu süß. Vor dem Zentrum des Stücks weiche Marthaler auf Nebenschauplätze aus, schreibt Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (15.6.2012). Slapstick-Einlagen und zartkomische Gags gelängen ihm mit links – "doch die Rechte, welche die Zügel in der Hand halten müsste, lässt er schleifen – was der mit vielen Passagen aus anderen Horváth-Texten und früheren Fassungen des Stücks angereichterten Spielfassung empfindliche Längen und einen stockenden Rhythmus beschert." Zerdehnt und zergähnt wirke der Abend. "Kein Totentanz, sondern eine pumperlgesunde Regie-Tänzelei." Das Zentrum der Inszenierung sei eine Leerstelle:"Wenn bei einem Stück, das dermaßen auf die Hauptfigur abgestellt ist, das Epizentrum der moralischen Erschütterung austauschbar erscheint, dann fehlt es an jener Empathie, die alle Betriebsamkeit an der Peripherie nicht wettmachen kann." Immerhin: Anna Viebrocks Bühne sei ein "wundersamer Zauberkasten", und ab und zu blitze auch Marthalers Genie auf, "wenn etwa Ueli Jäggi vor seinem Vorgesetzten mit der Tücke des Objekts hadert." Insgesamt aber sei die ganze Inszenierung kopflos: "Marthaler bringt nicht den Geist des Stücks zur Aufführung, sondern nur seine mehr oder weniger lustig zappelnden Glieder."
Nach der Premiere an der koproduzierenden Volksbühne am 27. September 2012 schreibt die Berliner Presse:
Über die Logik tröstender Tricks macht sich Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung und online bei der Frankfurter Rundschau (29.9.2012) anlässlich dieses Theaterabends Gedanken. "Na, uns Theaterzuschauer und die Theatertrickser auf der Bühne wird die jetzt grassierende Wirtschaftskrise schon nicht ganz so schlimm erwischen. Und wenn doch, dann sind die Sorgen von heute sowieso sinnlos. Verharren wir also noch ein wenig in dieser Utopie, in der begnadete, vor langer Zeit schon liebgewordene Schauspieler mit Gesang und Begleitung durch ein gespenstisches Lautsprecher-Orchester in einem Wunderraum von Anna Viebrock fast schon wie gewohnt herrlichste Marthaler-Kunst vorführen."
Nachvollziehbar, aber "gewöhnungsbedürftig" findet Christine Wahl vom Tagesspiegel (29.9.2012) Marthalers Idee, durch die Doppelbesetzung der Elisabeth den plotgemäßen "Abwärtstrend einerseits zu entindividualisieren und andererseits zu vervielfachen". Doch durch die "Verallgemeinerung der zentralen Figur" entstehe eine "leere Stückmitte". Und "so sehr es einleuchten mag", dass die beiden Elisabeth-Varianten "betont projektionsflächenhaft und profilarm agieren, so real sind dann eben auch die Endloswiederholungen, Längen und kalkulierten Leerläufe, denen man sich als Zuschauerin und Zuschauer an diesem dreieinhalbstündigen Abend ausgesetzt sieht." So sei unter den Horváth-Inszenierungen, die der "Entschleunigungskünstler Marthaler" bisher vorgelegt habe, diese "sicher" die "am radikalsten entschleunigte, leiseste und spaßärmste".
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Aber warum muss man in Wien immer das Gefühl vermittelt bekommen, zu debütieren?
Auch Eure Wiener Kritiker sind in der Beschreibung dessen, was geschieht, so schrecklich verschnarcht.
Etwas ratlos verzweifelte Grüsse
und Glückwünsche an das Ensemble
(Werter Wiener,
der muss uns heute in der Kritikenflut durchgerutscht sein und wird morgen nachgereicht. Absicht steckt keine dahinter.
Beste Grüße
Georg Kasch für die Redaktion)
Alle die Darsteller zeigten Ihr unbestreitbares Können - nur wem zeigten Sie es? und warum? Der Eindruck einer leidenschaftlosen, selbstgenügsamen Probe mit Christoph Marthaler als freundlichem Begleiter dieser Petitessenzuckergußrevue wurde über die Dauer immer dringlicher. Dringlich war leider nicht das was da angeblich passierte, auch - und das verwundert - weil die rhythmische Struktur wenig überraschendes oder aktivierendes bot. Das geht dann alles so seinen sozialistischen Gang und ein Publikum gluckst so angesichts eines fröhlichen Kabarettringelreihen ohne jegliche Schärfe.
Von wegen Kabarettringelreihen. Das habe ich sehr anders empfunden. Klarerweise gibt's lustiges bei Marthaler, aber dass das einfach nur fröhlich vor sich hin orgelt, das stimmt einfach nicht. Es gibt sehr, sehr intensive Momente, die der Lächerlichkeit der Ostendorfs, Cornus etc. ganz bewusst entgegengesetzt sind. Da ist einmal die Zeitlupenszene zwischen Olivia Grigolli und Ueli Jäggi (also zwischen Elisabeth und Schupo), die ein unfassbar warmherziger Moment ist, eine ausgemalte Sehnsuchtsutopie, auch wenn die Sehnsucht nur auf etwas ganz kleines geht. Da ist all die alberne Umwelt auf einen Schlag weg. Und natürlich der musikalische Kommentar, der auf den Punkt trifft: Grigolli und Rau singen Bachs "Wer hat Dich so geschlagen?". Dann antworten die anderen mit "Ich hatt' einen Kameraden". Schlagender geht's doch gar nicht: "Will mir die Hand noch reichen, Derweil ich eben lad. Kann dir die Hand nicht geben, Bleib du im ew’gen Leben Mein guter Kamerad!" Das ist genau die Mentalität der Gesellschaft: Sie gibt sich christlich-human-sozial, aber sobald ein Sterbender die Hand ausstreckt, heißt es: "Kann dir die Hand nicht geben!" Allein in so einem Moment erreicht Marthaler mehr Schärfe als die meisten politischen Theatermacher.
Und genau diese "feinsinningen" Kommentare für den eingeweihten Bildungsbürger bleiben meiner Meinung nach im Abnicken und sich am eigenen Wissen freuen stecken. Ich kann leider nicht viel mehr erkennen, als dass hier offene Scheunentore der Kleinbürgerkritik durchschlendert werden. Interessant ist ja wirklich, dass einige Berufene von einer werkgetreuen Inszenierung sprechen - so werkgetreu war es für mich, dass ich kaum etwas entdeckt hätte, was ich nicht sonst so an Vorurteilen über die Porträtierten Figuren kennen würde.
Bei der Zeitlupenszene haben Sie mich allerdings erwischt, die hat wirklich etwas verdichtet und neu und kreativ auf den Punkt gebracht. Das war sehr schön zu beobachten, wie da eine Welt aufging und eine Haltung zum Stück entstand. Aber leider war das für mich nur ein kleines Lichtlein im Dämmerschein. Danach verlepperte es dann inklusive des Kameraden etc.
Ob die Opposition zu sogenannten politischen Theatermachern etwas bringt, erscheint mir zweifelhaft. Ich glaube da werden dann Äpfel mit Birnen verglichen. Dennoch finde ich es wichtig sich Gedanken über das eigene Publikum zu machen. Und hier kam es mir so vor, als würde ein sehr einfacher Weg gewiesen, um nichts mit den Dringlichkeiten des Stückes zu tun zu haben. A la die sind ja doof die possierlichen Figuren und wir sind ja schlau, die wir hier unten sitzen.
Komplette Kritik: stagescreen.wordpress.com/2012/09/29/endstation-gesangsverein/
ich hoffe Sie haben es noch ohne bleibende Schäden nach Hause geschafft. Dieser Horváth ist tatsächlich eine kleine Liebhaberei von Marthaler. Es steckt da viel mehr aus den Fragmenten drin, als nur der erwähnte Auszug aus Himmelwärts. Marthaler zelebriert hier förmlich den Totentanz. Er zeigt eine erstarrte, verfaulende Gesellschaft ohne Illusionen, ohne Utopie. Da kann das Individuum Elisabeth nicht einmal in doppelter Ausführung gegen an. Auch verheißt der Schluss nun nicht gerade ein utopisches Arkadien, dass tut es ja schon bei Horváth nicht. Die Säufergesellschaft, die da unterwegs ist, bleibt lieber unter sich, um ja nicht teilen zu müssen. Da ist die Gründung eines Gesangsvereins auch nur Marthalers ironischer Kommentar auf die begrenzte Wirksamkeit seines eigenen Schaffens. Die Volksbühne hat es zur Zeit mit den Memento Mori. Man reflektiert sich selbst in einer Art Rückschau. Das kann man mögen oder ablehnen, dazwischen gibt es nichts.
bitte gehen sie noch einmal hinein herr flohbär.
Lieber Flohbär,
"Marthaler, einst innovativ".
Worin sahen Sie einst das Innovative?
Für mich war das Innovative, typisch Marthalerische seit "Murx" und "Sturm" die Einführung exakt jener Schnarch- und Singgesellschaft, der Woolworth-Existenzen und Endlosschleifen auf die Bühne. Er war, seit je (also, seit er selbst Theater machte und nicht Theatermusik in Zürich und Basel) der Tolstoi des Kleinbürgertums (alpenländischer Prägung), der Shakespeare der Sozialtristesse. Exakt dasselbe sehe ich jetzt in "Glaube Liebe Hoffnung", die im Übrigen sehr an "Kasimir und Karoline" erinnert.
Was unterscheidet für Sie und Gustav Ente den späten Marthaler vom Mittleren?
ich bin kein Marthaler-Kenner. Schon aus Selbstschutzgründen haben ich mir nur fünf seiner Inszenierungen angesehen. Das Innovative war für mich eben das Zögerliche, Gedehnte. Eine Inszenierung von ihm ist ja unverwechselbar. Aber mittlerweile ist da keine künstlerische Weiterentwicklung mehr zu erkennen. Tolstoi, Shakespeare: das sind schwere Kaliber, die Sie da auffahren. Geht es nicht eine Nummer kleiner oder wollen Sie Marthaler emporhieven?
Liebe isabel,
Sie haben recht: das Kontemplative liegt mir nicht, abgesehen vielleicht von der Literatur (Krishnamurti habe ich früher gern gelesen). Wissen Sie, ich habe als Student unter anderem als Aufpasser in einer Spielhalle gearbeitet, obwohl ich mich vielleicht eher für einen Rausschmeißer in einem Sexclub geeignet hätte. Deshalb fehlt mir auch die Kraft zur Versenkung, zur intensiven Beschaulichkeit. Esoterisch veranlagte Kräutertee-Fraktionen, deren Biografien mit konzentrativen Bewegungstherapien und Meditationskursen angereichert sind, haben bei Marthaler da einen gewissen Vorsprung. Möglicherweise sind mir die feinen Figurenzeichnungen, die von Ihnen entdeckten feinen Verästelungen entgangen. Sofern ich zu subtilen Figurenstudien aufgelegt bin, muss ich die woanders machen. Nun, das Knorrige, Ungeschlachte und Ekstatische liegt mir mehr. Deshalb würde ich mir eher noch mal eine der drei Molière-Sachen ansehen, mit Wuttke in Dauerpräsenz. Dennoch, wenn Marthaler Sie zu einer gelungenen Organisierung ihrer Sensitivität befähigt hat, hat er auch seinen Zweck erfüllt.
Lieber Flohbär,
ich sehe: Sie haben die ironische Hyperbolä bemerkt.
Aber warum beschweren Sie sich, dass Marthaler wie Marthaler aussieht?
Dafür wird er doch bezahlt, dass er nicht wie Pollesch, Pucher, Stemann oder Hermanis inszeniert.
Wenn Sie Marthaler nachvollziehbar kritisieren wollen, müssen Sie das schon werkimmanent tun. Aber - "Bulletts over Broadway" in allen Ehren - der Leserschaft einfach kundzutun, dass Sie von jetzt ab genug von der ganzen Masche haben und eine andere bevorzugen, ist - pardon - so interessant wie die Mitteilung, ob sie lieber Schokoladenpudding oder Rindersteak essen.
(Der "Bulletts"-Verweis bezieht sich auf die Einblicke in Ihre interessante Biographie, die Sie uns gewähren.)
ich fand auch, dass ein ziemlich Niveau-Unterschied zwischen den beiden Elisabeths war.
Was mich aber fasziniert hat, war, dass man immer 2 Inszenierungen derselben Szene hintereinander sah: einmal die Lesart Grigolli, einmal die Lesart Rau. Wenn hat man das sonst im Theater?
Am deutlichsten war das im 5. Bild, der Bettszene mit Alfons: Erinnern Sie sich an das "Küsschen", das in der einen Version realiter, in der anderen als Ferrero verabreicht wurde?
Das ist schon ein Fund, den der Marthaler da gemacht hat.
Ganz im Gegenteil! Große Ruhe und Langsamkeit, gute, mutige Besetzung (auch vor dem Hintergrund knapper Kassen kein Jugendwahn) und ein Beleg dafür, dass die Volksbühne nach Kill Your Darlings und der Spanischen Fliege aufgrund ihrer Vielseitigkeit im Moment eine der innovativsten und vielseitigsten Bühnen Berlins ist. Ein inspirierender Theaterbesuch. Danke! (*schreibt ein Hanseat).
Die Doppelung der Elisabeth-Figur wird mir auch nicht ganz klar. Sie zeigt höchstens auf, dass und wie die Zeit vergeht. Und sich scheinbar wenig verändert in den Geschlechterverhältnissen. Im Alter gibt's statt des leidenschaftlichen Kusses ein Ferrero-Küsschen als Betthupferl. Und wer kocht den Kaffee? Ob am Ende nun die Frauen oder die Männer die Hosen anhaben, bleibt offen. Vielleicht können sogar eher die Frauen punkten. Weil sie gegenüber den vernunftbestimmten Männern die emotional Stärkeren sind.