altSteigere Deinen Wert!

von Dina Netz

Dortmund, 15. Juni 2012. Nördlich des Bahnhofs wird es in vielen Städten schmuddelig, so auch in Dortmund. Hier ziehen die Bahngleise sogar so etwas wie die rote Linie, die man besser nicht überschreitet, schon gar nicht als Frau und abends. "Offener Konsum von Alkohol und Drogen bestimmen die Wahrnehmung des Viertels ebenso wie illegale Prostitution und die kaum zu lenkende Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien", heißt es im Programmheft zu "Crashtest Nordstadt. mach mein Spiel" von matthaei & konsorten. Die Gentrifizierung, die sich in zentrumsnahen Vierteln von Großstädten in den letzten Jahren vollzogen hat, ist an der Dortmunder Nordstadt weitgehend vorbeigegangen, trotz Gründerzeitbaubestand und gutem Willen.

Crashtest hoch Edi-Szekely hWie steht Dein Kurs?  © Edi-SzekelyJeder Zuschauer ist eine Aktie

Regisseur Jörg Lukas Matthaei und sein Team haben sich nun die Aufgabe gestellt, Kunst in dieses Viertel zu bringen, und zwar Theater, das die Bewohnerinnen und Bewohner einbeziehen soll. In der Dortmunder Nordstadt wohnen besonders viele jugendliche Arbeitslose, besonders viele ALG II-Empfänger, die Verschuldung ist hoch – kurz: der Wert des Geldes ist rund um den Nordmarkt ein anderer. Und aus dieser Beobachtung heraus haben matthaei & konsorten eine Art Börsenspiel entwickelt: Jeder Zuschauer ist eine Aktie, das Publikum wird in Gruppen eingeteilt, auf das die "Checker" spekulieren, während sie es per Handy durch einen Stadtteilparcours jagen – wenn die Gruppe ihre Aufgaben schnell löst, steigt ihr Wert, was sogleich per SMS mitgeteilt wird (so die Technik funktioniert).

Eine der Stationen ist das Ehepaar Pohl in der Gronaustraße, eine wahre Trouvaille: Die Pohls haben den Bahndamm gegenüber ihrer Wohnung und die Verkehrsinsel liebevoller als jeder Landschaftsgärtner bepflanzt. Und sie lassen ihre Theatergäste daran teilhaben, indem sie im Eiltempo Pflanzaufträge erteilen. Im "Lebensveränderungszentrum" Eagles Church bekommen die Besucher zuerst eine neue Frisur verpasst und müssen dann in weiten blauen Gewändern einen "Halleluja"-Choral ins Mikro singen. Der Chaostreff Dortmund e.V. hat für seine Gäste auf einer raketenförmigen Platine ein Spielchen programmiert, bei dem Gedichtzeilen in die richtige Reihenfolge gebracht werden müssen.

Theatertouristen als Fremdkörper

Man kommt aus dem Staunen nicht heraus, was sich hinter den mitgenommenen Nordstadtfassaden alles abspielt. Und würde gern auch die Stationen aufsuchen, die die anderen Gruppen ansteuern. Doch ohnehin ist "Crashtest Nordstadt" schon ziemlich lang, zumal das anfängliche Einchecken und Aufteilen in Gruppen bei der Premiere noch nicht so recht klappte. Auch sonst lief nicht alles reibungslos, das abschließende Rating der Gruppen blieb nebulös – aber wenn sich alle ein bisschen eingespielt haben, wird es sicher ein durchweg amüsanter und aufschlussreicher Abend.

Solche Stadtteilprojekte gibt es inzwischen fast in allen Großstädten, und sie sind meistens verdienstvoll, weil sie helfen, ein Viertel und seine Bewohner mit anderen Augen zu sehen. Für "Crashtest Nordstadt" wurden die zu besuchenden Stationen und die Beteiligten mit besonders viel Sorgfalt ausgewählt. Und es werden Begegnungen herbeigeführt, die sonst wahrscheinlich nie stattfinden würden.

Das Theaterpublikum wirkt rund um den Nordmarkt wie ein Fremdkörper oder in seinen Turnschuhen und Regenjacken doch zumindest wie eine Touristengruppe. Die wenigsten von ihnen würden normalerweise die Bahngleise zum Dortmunder Norden überqueren. Und die Jungs, die an den Häuserecken lehnen, gucken zwar weiter stoisch, aber doch auch ein bisschen irritiert.

Läufer an der Hauswand

Wie so häufig sind es am Ende die Kinder, die die sozialen Grenzen überwinden: "Hannibal Battle" ist angesagt, ein Spiel, das Jugendliche im Hinterhof des Hannibal-Hochhauses organisieren. Dabei treten zwei Gruppen gegeneinander an, und die Aufgabe besteht darin, auf ein Zeichen aus der zwölften Etage des Hochhauses hin möglichst weit quer über den Hof zu laufen und sich dann wieder so zu verstecken, dass man von oben nicht gesehen wird.

Die Kinder haben den Trick längst raus: Sie schicken die Theaterläufer an der Hauswand entlang, wo sie vor Blicken geschützt sind, und geben ihnen Zeichen, wenn sie weiterlaufen dürfen. Aber noch lieber, als zu helfen, würden die Kinder eigentlich mitspielen. Sie fragen, ob die Leute vom Theater morgen wiederkommen.

 

Crashtest Nordstadt. mach mein spiel
von matthaei & konsorten

Inszenierung: Jörg Lukas Matthaei, Ausstattung: Dorothea Ronneburg, Video-Art: Daniel Hengst, Game-Design: Daniel Boy/Jörg Lukas Matthaei/Sebastian Quack, Dramaturgie: Michael Eickhoff, Koordination, Akteure und Orte: Lis-Marie Diehl, Spieltraining: Till Stauffer, Checkerassistenten und Quartiersmanager: Cengiz Alacali, Benjamin Ameyidor, Anna Hauke, Annike Heikes, Julia Hülsken, Ulf Klinkhammer, Julia Knies, Angela Krause, Miriam Kröger, Simon Krumm, Sascha Olbrich, Nadine Richter, Eva Schlömer.

Mit: Waissi Aizein, Sinem-Cigdem Aktas, Attila Aslantürk, Jamila Auuam, Mustafa Ay, Samir Bajra, Dominik Bay, Michael Bernhard, Ismail el Benamari, Sila Ekiztas, Hendrik Fellerhoff, Benedikt Fiola, Dirk Föllmer, Maria Gomez Mojeda, Gerhard Alfred Grohmann, Gabi Gross, Gürhan Güler, Saleh Gümus, Mark Anthony Hall, Samira Hasnaoui, Mohamed Hemsing, Nicole Herber, Burkhard Hinz, Heike Hundeiker, Günter Jackat, Tabitha Jackat, Eva Jekel, Kay Jütting, Asmaa Kachout, Hanan Kirdiou, Kai Kostian, Daoud Kremer, Yeliz Kus, Christian Lenzian, Daniel Myska, Nazha Ouladeljadj, Merve Özdemir, Brigitte Pächer, Dieter Pätzold, Lukas Pless, Edeltraud Pohl, Abdel Reddahi, Jan-Erik Rediger, Thomas Roemer, Erika Römer, Julia Rumi, Stefanie Rutz, Nina Stroebele, Nora Thari, Adolf Timpe, Metin Turan, Yasemin Ucar, Fatma Ulutopcu, Jan-Philipp Warmers, Laurens Wältken, Gerd Wilbers, Zana Yehta.

www.crashtest-nordstadt.de
www.theaterdo.de

 

Mehr von matthaei & consorten? In Bremerhaven veranstaltete die Truppe im Frühjahr 2011 in einem alten Nobelhotel das Stadtspiel Verzögerte Heimkehr.

 

Kritikenrundschau

Maike Rellecke vom Online Portal der WAZ-Gruppe derwesten.de (19.6.2012) sah "ein provoziertes Aufeinanderprallen von Nordstadt-Realität und fantasievollem Spiel. Ist das noch Theater?" Die Autorin erzählt von ihren Mitspiel-Erlebnissen bei einem improvisierten Tatort-Dreh: "Ich bin kein anonymer Theatergast, ich bin Teil der Inszenierung." Da die Zuschauer in Scharen kommen, scheint die raue Gegend niemanden abgeschreckt zu haben.

Für ruhrnachrichten.de (19.6.2012) schreibt Kai Uwe Brinkmann: "Crashtest-Mastermind Jörg Lukas Matthaei bringt Theater und Publikum mit Anwohnern zusammen. Die soziokulturelle Dimension wird deutlicher, je mehr Menschen wir treffen." Er erzählt von den Erlebnissen seiner Gruppe und resümiert: "Gesichter und Facetten der Nordstadt, zu erleben in einem wunderbaren Projekt, das den Alltag zur Kunst erhebt."

Kommentare  
Crashtest Nordstadt, DO: in Kontakt kommen
Eine erste Charakterisierung des Spiels außerhalb nachtkritik de.s liefert Christiane Enkeler in einem etwa 4 minütigen Beitrag für Deutschlandradio Kultur.
Was die Gruppenstärke angeht, ist von Fünfen die Rede; wie viele Gruppen es gab/gibt, entnehme ich allerdings weder ihrem Beitrag noch der Nachtkritik.
Auch ist von "Regenjacken und Turnschuhen" die Rede: Sind die BesucherInnen vornehmlich mit diesen zum "Set" gekommen ("Set" stimmt irgendwie, denn ein Live-Stream begleitet die Sache) oder, so hört es sich fast an, tragen die diversen Gruppen vom Veranstalter gestellte "Uniformen", "Leibchen" etcpp. ?
Auch das bleibt mir bislang ein wenig unklar, ein wenig auch, daß "man" sich dort mit Regenjacken und Turnschuhen ansonsten wirklich "abheben" könnte.
Wurden "TheaterkritikerInnen" in eigene Gruppen eingeteilt oder durfte gar eine Gruppe nicht mehr als eine(n) KritikerIn enthalten - ich finde schon, daß zum näheren Verständnis eines solchen Abends auch ein paar Details, Feedbacks, Gefühls-Eindrücke gehören (auch solche, die in Nachgesprächen mit anderen Gruppen sich erst ergeben (könnten) oder ist jedermann mit Abpfiff schnurstracks und schnellstens daheim ??).
Mich interessieren solche "Projekte" sehr (freilich reicht oftmals die Mitnahme eines Schachbrettes und geeignetes Wetter, um vielfältige Kontakte zu Menschen in einem solchen Stadtteil aufnehmen zu können; ich weiß, wovon ich rede, da ich seit meiner Rückkunft von den "Hundsprozessen" regelmäßig Schach beim Gaardener Vinetaplatz spiele (Gaarden könnte man gewiß ein wenig mit der Nordstadt vergleichen)): die Vorstellung, zum vermutlichen Spiel Polen-Deutschland am 22.6.an einem projektfreien Tag (aber etwa einen Tag nach dem Besuch des Projektes) ausgerechnet in der Dortmunder Nordstadt zu sitzen, siehe Piszek, Lewandowski, Cuba !!, reizt irgendwie nochmal besonders.
Daß es ansonsten kaum zu "Kontakten" der "Gruppen" (TheaterbesucherInnen und Nordstadt-BewohnerInnen) kommen würde, stimmt natürlich nachdenklich (und soll es gewiß auch), auch wenn freilich dieser "Tatbestand" mit befragt werden müßte, schließlich besucht die ("illegalen") Prostituierten etcpp. auch jemand, und vielleicht kommt jetzt nur das Publikum, das tatsächlich sonst nicht kommt (aus anderen Gründen)..
Crashtest, Dortmund: Hinweis
Ein etwas ausführlicherer Bericht von der Premiere (16 Gruppen - 24 Stationen, für jed Gruppe 5 Stationen als Eckdaten) findet sich auf der Seite "Die Ruhrbarone".
Crashtest Nordstadt, Dortmund: verdient Feedback
Rein von den Zuschauerreaktionen auf nachtkritik de. her gesehen wie nicht existent- dieses allemal zu empfehlende und in der nächsten Spielzeit in die zweite Runde gehende Stadtteil-Spiel, "DortmunderInnen" regt Euch, von Erlebnissen zu künden:die Angelegenheit verdient ein Feedback, das eine erstaunliche Vielzahl an Mitspiel- und auch Nicht-Mitspiel-Perspektiven bietet. Wer sich -wie ich es getan habe- für einige Tage in der Nordstadt einmietet (zB. im "Hotel Adrija" in der Zimmerstraße 6 -25 Euro das Einzelzimmer-) und zunächst auf eigene Faust das Nordstadt-Land vermißt, sich Begegnungen mit dem Spiel sowohl von einer Außenperspektive als auch Innenperspektive (als Aktie) her gönnt, kann -unabhängig von seinem Kurs im Spiel-
in der Tat um eine nachhaltige Erfahrung bereichert aus der Sache hervorgehen. Dem Spiel für die kommende Spielzeit "Glück auf" !!
84-68-10 (hierzu gibt es auch in der WDR-Mediathek einen weiteren Kurzeindruck)
Crashtest Nordstadt, Dortmund: zweite Staffel endet
Und heute und morgen läuft nunmehr auch die zweite Staffel des Spieles aus. Ich hoffe sehr, daß dieses Wochenende noch einmal richtiger Zulauf zu verzeichnen ist, denn nach wie vor hat das Spiel seinen anfänglichen Reiz nicht eingebüßt, wenngleich sich hier und da schon ein wenig Routine einschleicht (so mein Eindruck, was nicht nur negativ für meine Begriffe ist im übrigen) beziehungsweise einige Ermüdungserscheinungen (auch hinsichtlich der Spielideen bei den einzelnen Stationen) zu verzeichnen sind. Ich denke aber, daß den "Checkern des alltäglichen Straßenbildes" hier dauerhaft solche des projektiv-theatralen Spielsinnes hinzugesellt wurden und Blüten des Crashtests sich noch lange hier und da werden einstellen können.
Gewiß werden einige Spielerinnen und Spieler "Stationen" auch noch später (unabhängig vom Spiel) anlaufen, und sicherlich sind einige Beziehungen geknüpft worden (nicht zuletzt auf der Checkerebene und Stationen-BetreiberInnenseite),
welche auch damit zu schaffen haben, was das alles überhaupt für ein Basaltheater war ! "Haben wir nicht gespielt und sind auf manch Ernsthaftes erst so frisch, fromm, fröhlich, frei gestoßen und noch dazu auf offene Ohren ??", so oder ähnlich dürften die Fragen hier und dort lauten. Es gibt natürlich angesichts der einen oder anderen Spielidee auch Fragen wie "Aber, hat die Familie, welche uns in ihrer Wohnung ein "Familiendrama" vorgaukeln wollte, nicht doch nur wieder das Klischee bedient im Spiel ?", aber daß und mit welcher Leidenschaft gespielt wurde, und zurück zur obigen Frage gewendet, was Spiel auch sein kann/könnte, würde gewiß auch hierbei ein Prä behalten. Leider sind "Manöverkritiken", schon auch wegen der Ermattung gen "Abendmahl", zumeist in den Kinderschuhen steckengeblieben und zB. nachtkritik de. zu wenig genutzt, um allerlei Spielerfahrungen durchaus der Analyse etwas zuzuführen. An dieser Stelle aber auf jeden Fall noch einmal ein Dankeschön gen Nordstadtspiel"gemeinde": nach zwei Spielstaffeln und einer Woche Norstadtaufenthalt habe ich hier durchaus einen Ort gefunden, den ich persönlich auch späterhin gewiß anlaufen werde (so nichts dazwischenkommt)..
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