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Von wegen Kunsttransport

von Dieter Stoll

Nürnberg, 21. Juni 2012. In Bayern beginnen die Sommerferien traditionell erst Ende Juli, also kommt dieser angenehm unkorrekte Trip von zwei Vierzehnjährigen mit dem geklauten Auto ins erreichbar platzierte Abenteuer nun am Gostner Hoftheater in Nürnberg wie ein zwinkernder Wink mit dem Zaunpfahl – und auf alle Fälle wie gerufen. Wolfgang Herrndorfs Roman "Tschick", durch "Jugendbuch"-Belobigungen zunächst mal etwas seitlich in die Zielgruppen-Ecke geschoben, thront inzwischen auf zentralem Bestseller-Platz in der aktuellen Literatur-Szene und hat die Herzen der Erwachsenen erobert. Zumindest solange deren Sprösslinge die Anarchie der Freiheit, die da auf denkbar amüsante Weise proklamiert wird, nicht gleich für die eigene Realität einfordern. Aber das konnte die Eltern-Generation, die der Premiere im wichtigsten Alternativtheater Frankens nach 90 Minuten so lange zujubelte, ganz entspannt sehen – für den wahren Alltag darf es ein bisschen weniger sein als in der regelfreien Phantasie.

Fun oder Gun, das ist die Frage
Robert Koalls Bühnenfassung, nach der Dresdner Uraufführung auch in Nürnberg die (allerdings stark bearbeitete) Vorlage, holt ja aus dem Buch vorrangig das Lebensgefühl, wobei die Adaption sich auf die gedruckte Sprache als blitzende Spiegelung der O-Töne verlassen und sie quasi in den Urzustand zurückschicken konnte. Der Nürnberger Regisseur Thomas Stang geht noch weiter, indem er eine spielerische Versuchsanordnung zwischen den Leuchtschriften "Fun" und "Gun" organisiert und den beiden Hauptdarstellern diverse Hindernisläufe über Transportkisten verordnet. Es sind auch welche aus dem Besitz des Germanischen Nationalmuseums dabei, also lagerte kürzlich womöglich ein echter Dürer in der Luke, die jetzt mit wenigen Handgriffen zum rumpelnden Lada-PKW wird. Die Ur-Beschriftung von zwei solcher Kisten ergibt auf offener Bühne das Wort, an das die Aufführung nicht im schlimmsten Traum denken lässt: "Kunsttransport".

tschick1 560 gostnerhoftheater uSommerferien einmal anders: "Tschick" © Gostner HoftheaterEs beginnt im Disco-Flackerlicht mit Breakdance-Duo, was neben den beiden Akteuren wohl auch manchem Fan der feinsinnigen Herrndorf-Ironie den ersten Schweißausbruch des Abends bringt. Keine Bange, es geht eben nicht um Show-Einlagen, sondern um die Aushebelung der gesteuerten Glücksgefühle. Tschick und Maik, die aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht dazugehören, wenn Party ist, haben eigentlich keine Perspektive als ziemlich beste Freunde. Der Stille aus dem "guten" Elternhaus mit Mutter auf Entzug und Vater auf latentem Fremdgang ist so blasiert und einsam, dass er sogar den kurzzeitigen Spitznamen "Psycho" als Zuwendung empfindet. Sein ungebetener Kumpel Andrej, der auch in der Schule ausgegrenzte Russland-Deutsche mit der schweren Zunge und der unvernichtbaren Überlebenstaktik, bestaunt das Luxusproblem kichernd – und holt den seltsamen Grübler aus der Schmoll-Ecke. Vom ADAC kann er dafür keine Ehrennadel erwarten, denn die zwei Vierzehnjährigen fahren kreuz und quer über poetisch ausgeleuchtete Episoden-Stationen durch die Republik, ehe die Polizei eingreift. Der clevere Tschick hat da den furchtsamen Maik längst mit den Segnungen des deutschen Strafrechts bekannt gemacht: Strafunmündig, unter 15 kann nichts passieren!

Gelegenheit zum Rollen-Jumping
Das Besondere an der Gostner-Produktion ist ihr Spiel mit den Möglichkeiten. Mit Boris Keil (Tschick) und David Schirmer (Maik) sind zwei begabte Darsteller aus Theater-Jugendprojekten in den Nachbarstädten Fürth und Erlangen im Einsatz, die "authentisch" spielen können, also keinen größeren Umweg über Stilisierungen brauchen. Man nimmt es ihnen ab, wenn sie im Schnelldurchlauf von Harry Potter bis zum beliebigen Videokracher alles durchspielen und auch das Publikum unter Wasserbeschuss nehmen. Ihnen wird  dazu die Gelegenheit zum Rollen-Jumping geboten, indem sie die Randerscheinungen ihrer Tour der kauzigen Begegnungen selber mit knappen Komödien-Attacken abbilden und sofort wieder in ihre Grundposition zurückschnalzen. Live-Partner ist Vadim Samarsky (mit Ziehharmonika zur Soundkulisse und technischer Hilfestellung für Szenen-Turbulenzen), während die Frauen nur per Video auftauchen. Die Verführerin (Kathrin Griesser) und die stets auf luxuriösen Entzug gepolte Beautyfarmerin mit den hellen Momenten (Patricia Litten), die den Flachbildfernseher als Wohlstandsmüll in den nächstbesten See entsorgt. Ein starkes Bild, das live denn doch etwas kostenungünstig gewesen wäre.

Klug ist die Regie, wie sie mit russischem Gemüt und schlurfender Sprache nur so lange spielt, bis die Zuschauer über den Klischeeberg hinweggelacht haben. Angekommen beim Kern der Story. Dann freilich am Ende nicht ganz standfest gegenüber der unterschwelligen Betulichkeit, die in Wolfgang Herrndorfs Buch kaum zu bemerken ist, uns auf der Bühne über die positiven Roadmovie-Erfahrungen zweier Chaoten jedoch etwas penetrant mitgibt, dass die Menschheit entgegen allen negativen Nachrichten des Deutschen Fernsehens nicht verloren ist. Dem Erfolg der Aufführung, die jetzt schon für eine zweite Serie 2013 geplant wird, schadet das nicht. Zum Profil des Gostner Hoftheaters, das in drei Jahrzehnten zunehmend zu Gegenentwurf und Ergänzung des Staatstheater-Betriebs wurde, passt es sowieso. Hier werden Nis-Momme Stockmann und Martin Heckmanns gepflegt, Jan Neumanns "Fundament" gab es kürzlich in modellartig geglückter Aufführung, Neil LaBute steht immer wieder im Plan, und einen Star hat das kleine Haus zuverlässig jede Saison. Vor zwölf Jahren brachte Nicolas Stemann hier zwei Produktionen heraus und mit einer davon, dem multimedialen Goethe-Solo "Werther", kommt Philipp Hochmair seither jedes Jahr – sei es aus Wien, Berlin oder Hamburg – mit einer Serie von drei bis vier Vorstellungen. Für März 2013 hat er bereits zugesagt.

Tschick
von Wolfgang Herrndorf, Bühnenfassung von Robert Koall
Regie/Bühne/Film: Thomas Stang.
Mit: Boris Keil, David Schirmer, Vadim Samarsky, dazu im Video Patricia Litten und Kathrin Griesser.

www.gostner.de


Mehr Tschick? Die Uraufführung des Erfolgsromans inszenierte Jan Gehler am Dresdner Staatsschauspiel – hier die Nachtkritik.

 

Kritikenrundschau

Thomas Stang, den man als Schauspieler am Nürnberger Theater Mummpitz kenne, hat erstmals Regie geführt "und man merkt seiner Inszenierung die hohe Kindertheater-Schule an. Er hat gelernt, wie man aus Nichts und Fantasie tolle Bilder macht", schreibt Katharina Erlenwein in den Nürnberger Nachrichten (22.6.2012). Es stehen nur ein paar hölzerne Frachtkisten auf der Bühne, die mal Eistruhe, mal Auto und mal Leinwand seien. Auf der Bühne ist "Tschick" eine Aneinanderreihung von Episoden, "dennoch bleibe man dran am Geschehen", und das liegt vor allem an den beiden jungen Darstellern. Der russisch-stämmige Boris Kein "ist mit Witz und Charme omnipräsent". David Schirmer gibt den unsicheren Maik, der sich als gar nicht so langweilig und vor allem als sehr sensibler Freund entpuppt. Fazit: "Tschick" ist Bühnenspaß und berührende Pubertätsgeschichte zugleich.

 

Kommentare  
Tschick, Nürnberg: verdiente Aufmerksamkeit
Das ist wirklich ein großartiger Abend. Gut, dass dieses tolle Theater mal die verdiente Aufmerksamkeit bekommt. Manchmal sind sie dreimal mutiger als das Staatstheater...
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