Presseschau vom 21. Juni 2012 – Die Berliner Zeitungen nehmen die neue HAU-Chefin Annemie Vanackere in Augenschein

Intelligente Sinnlichkeit

21. Juni 2012. Die beiden Berliner Blätter Der Tagesspiegel und die Berliner Zeitung nehmen heute die neue HAU-Chefin Annemie Vanackere in Augenschein, per Porträt und per Interview.

"Wie viel es in Berlin gibt", ruft die designierte HAU-Intendantin Annemie Vanackere im Interview mit der Berliner Zeitung aus. Aber die Stadt ändere sich rasant, das Terrain sei mittlerweile vermessen, alles werde teurer und künstlerische Freiräume ließen sich immer schwerer finden. "Was fehlt in Berlin?" fragt Dirk Pilz, "ein Haus, das Interdisziplinarität in der DNA hat", antwortet Annemie Vanackere. Das HAU solle "auf jeden Fall" noch interdisziplinärer werden, "zumal für mich spannende aktuelle Konzepte per se interdisziplinär sind." In dem Zusammenhang beschäftige sie die Frage nach Produktionsgeldern. "Die bräuchte man, um Künstler in ihrer Entwicklung noch besser unterstützen zu können und nicht immer in diese Tretmühle zu kommen: Stück machen, spielen, nächstes Stück usw." Mit Kulturstaatssekretär André Schmitz sei sie im konstruktiven Dialog, "und er weiß, wie wichtig mir adäquate Bedingungen für künstlerisches Arbeiten sind" (Aktueller Stand ist, dass das Budget des HAU bei 4,6 Millionen Euro im Jahr bleibt).

Zum Stamm der Künstler, mit denen sie regelmäßig arbeiten wolle, gehörten Meg Stuart, Laurent Chétouane, Kornél Mundruczó, Kris Verdonck und Miet Warlop sowie Gob Squad und She She Pop. "Die erste Frage sollte immer sein: Ist jemand ein guter Künstler?" Sie wolle mit einer Selbstverständlichkeit kulturell diverse Künstler ans Haus binden und sich auf diese Weise mit dem multikulturellen Berlin auseinandersetzen. Das sei natürlich ein Thema: "Wie bette ich das Theater in die konkrete Lokalität ein?" Eine Fixierung auf den migrantischen Hintergrund der Künstler und des Publikums lehnt Vanackere aber ab – das mache die Gräben nur noch tiefer. "Sie stellen sich damit sehr deutlich gegen das, was am Ballhaus Naunynstraße versucht wird. – Wir haben unterschiedliche Perspektiven, ist doch gut." Unterschiedliche Perspektiven sowie der Wettbewerb um Aufmerksamkeit halten sie nach eigenem Bekunden nicht davon ab, (auch Berlin-interne) Kooperationen anzustreben und zu realisieren – im Herbst werde man zum Beispiel zusammen mit den Berliner Festspielen ein Projekt von Fabian Hinrichs koproduzieren.

Auf die Frage, als was sie sich eigentlich versteht, antwortet Vanackere: "In meinem Vertrag steht: künstlerische Leitung und Geschäftsführung." Aber sie arbeite im Team, eng mit ihren beiden künstlerischen Mitarbeitern Aenne Quiñones und Ricardo Carmona zusammen. Und im nicht-organisatorischen Sinn? Glaubt sie an Kunst? "Vielleicht ist es Zeit, den Begriff der Kunst wieder positiv aufzuladen? Warum nicht zugleich die Begriffe Sinnlichkeit und Schönheit?" Sie möge diese Trennung zwischen Sinnlichkeit und Rationalität nicht. "Das gehört für mich immer zusammen. Sinnlichkeit kann auch sehr intelligent sein." (sd)

"Schöner wird es nicht mehr", befindet Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (20.6.2012), Matthias Lilienthal habe alles gegeben. Aus seiner Sicht eine "glänzende Ausgangsposition" für Annemie Vanackere. Schaper sieht "behutsame Veränderungen" sich abzeichnen, einen Osteuropa-Schwerpunkt beispielsweise, aber er betont auch die Notwendigkeit, einen Weg aus der "Durchformatierung der Szene" zu finden. Aktualitätswahn und mediale Getriebenheit sollten sich nicht in der Art wiederspiegeln, wie man mit "wertvollen Produktionen" umginge – Schaper gibt hier offenbar eine zwischen den Zeilen seines Gesprächs von Vanackere zur Sparache gebrachte Kritik am gegenwärtigen HAU-Profil wieder. Annemie Vanackere meide Begriffe wie "nachhaltig" und "Entschleunigung". Es sei ein sinnliches Theater, das die neue HAU-Chefin liebe und suche, lesen wir auch. "Etwas, das in der Intellektualität des kuratorischen Eifers oft verloren geht.“  (sle)

 

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