altNichts weiter

von Dirk Pilz

Juni 2012. Dieses Buch ist das Romandebüt einer Dramatikerin, das allseits als reif aufgenommen wurde, was allerdings nur jene erstaunen kann, die keine Dramen lesen. Es ist ja noch immer so, dass als Schriftsteller von der breiteren Leseöffentlichkeit erst wahrgenommen wird, wer Prosa (oder Lyrik) schreibt. Dass Dramatiker noch immer unter dem Verdacht stehen, bloße Spielanweisungsstichpunkte zu liefern. Dass noch immer das Drama gegen die Inszenierung (oder andersrum) ausgespielt wird. Kann ein Drama einen eigenständig literarischen Wert haben? Wer je ein Drama dieser Romandebütantin gelesen hat, wird feststellen: Es kann, oh ja.

Dea Loher also. Dea Loher hat ­– nach ihrem Prosaeinstand mit dem Erzählungsband "Hundskopf" vor sieben Jahren ­– ihren ersten Roman geschrieben: "Bugatti taucht auf". Es ist ein Buch in drei Teilen, sie entsprechen drei Handlungslinien, denen tatsächliche Ereignisse zugrundeliegen.

Zufrieden und unglücklich

Der erste Teil heißt "Aus dem Tagebuch von Rembrandt Bugatti". Das Tagebuch beginnt im Dezember 1913, es endet am 2. Januar 1916, wenige Tage vor seinem Selbstmord. Dazwischen macht man die Bekanntschaft mit dem Bildhauer Rembrandt Bugatti, dessen Bruder Ettore die berühmten Rennwagen entwarf.

Rembrandt, der vor allem Tierplastiken schuf, darunter auch einen sich aufbäumenden Elefanten, den Ettore als Kühlerfigur verwendete, dieser Rembrandt gibt sich in seinen Tagebuchnotaten als ein Künstler zu erkennen, dem das Lieben (und Leben) missglückt und von dem man nicht genau weiß, ob er deshalb in Trauer fällt oder ob die Trauerfransen ihm das Leben (und Lieben) schon vorher derart verwuchert haben, dass er sich in eine Seelenverfasstheit wieder findet, die ihn "zufrieden und unglücklich" sein lässt. "Ich bin müde. Ich wäre gern ein anderer", notiert er. Das ist der zentrale Satz, womöglich des gesamten Romans.

bugattitauchtauf

Der zweite Teil setzt an einem Februarabend 2008 ein. Er handelt von einem Verbrechen im schweizerischen Ascona. Während des Tessiner Karnevals wird ein junger Mann, Luca, von drei Jugendlichen zusammengeschlagen. Luca stirbt, und der Roman unternimmt in vielen Anläufen den Versuch, das Geschehen zu rekonstruieren. Die Zeugen widersprechen sich, die Erzählerin scheint sich aus allem herauszuhalten. Es werden Verhörprotokolle wiedergegeben, die Sätze sind lang und ausgestellt umständlich. Als gebe es ein Verbot, der Gewalt direkt ins Gesicht zu schauen.

Im dritten, längsten Teil macht sich der Schlosser Jordi, Spezialist für Unterwasserschweißarbeiten, daran, einen Bugatti Brescia Typ 22 vom Grund des Lago Maggiore heraufzuholen. Er hört von Lucas Tod und will mit seiner Autobergungsaktion dem Verbrechen, dem Tod selbst, "eine andere Handlung entgegenzusetzen, die den Ausschlag dieser Waage veränderte; etwas Schwerwiegendes, das man nicht ignorieren, nicht wegmessen, nicht verwerfen konnte; etwas gutartig Schönes, dessen Kraft einen Teil der Gewalttat überstrahlen könnte".

Am Ende des Romans wird das Auto nicht geborgen, seine Errettung aus dem Dunkel des Wassers aber versprochen werden. Es ist die Aussicht auf ein gutartig Schönes, das versöhnend wirken will.

Der ganze Aufwand

Im ersten Teil macht man also die Bekanntschaft mit einem Selbstmörder, im zweiten mit Fremdmördern, im dritten mit der Hoffnung auf Erlösung. Die Teile wirken zunächst sehr disparat, betont ungleichartig, unverbunden. Und die einzelnen Linien werden sich zwar nicht einfach verbinden, aber zu einen gemeinsamen Fluchtpunkt finden: dem Versprechen auf die Erlösungskraft eines (alten, verwitterten) Schönen, das seine Schönheit aus der Zwecklosigkeit bezieht. Mehr noch als das Auto wird seine Bergung zum Symbol dieser Schönheit.

Warum dieses Auto aus dem See holen, wird Jordi einmal gefragt. "Ein ertränktes, versenktes Auto für einen erschlagenen, zu Tode getretenen Jungen. Nichts weiter? Nichts weiter. Und dafür der ganze Aufwand? Dafür der ganze Aufwand." Das ist der Fluchtpunkt des Erzählens, dieses "nichts Weiter" des Schönen, der Literatur, der Kunst. Man begreift es als Leser mit großem Aha, und Dea Loher legt großen Wert auf diesen Effekt. Fast ist es, als würde sie sich vor allem an der Souveränität, mit dem sie ihn herstellt, ergötzen.

Im Frost

Das gutartig Schöne, die Kunst, scheint dabei einer Erlösungslogik zu folgen, die durch Tragik erkauft werden muss. Als ob sie (die Kunst) durchs Fegefeuer des Elends müsste, um erhaben zu sein, als ob es (das gutartig Schöne) erst in die Verderbnis des (bösartig) Schändlichen müsste, um als Hoffnung aufzuerstehen. Die Strenge und Unerbittlichkeit solcher Logik erinnert an das Gewölbe einer katholischen Dogmatik.

Als es vor einigen Jahren einmal dazu kam, dass ich in einem Schwung mehrere Stücke von Dea Loher las, schien mir eine pulsierende, wärmende Traurigkeit die Schlüssel-Erfahrung beim Lesen von Loher-Stücken zu sein. Denn ihre Dramen sprechen nicht nur fortwährend vom fernen Gott und der großen Liebe, dem Tod und der Sehnsucht nach Erfüllung, sie sind auch immerfort damit beschäftigt. In jedem Satz, so meinte ich, schwingen als Basso Continuo die letzten Fragen und ersten Dinge mit, jedes Wort scheint sich gen Himmel und zur Hölle zu strecken. Und wo die Sprache derart unverfroren nach dem Absoluten greift, rührt sie unweigerlich an die "allem endlichen Leben anklebenden Traurigkeit", wie Schelling schrieb, ein Geistesverwandter von Dea Loher – sie beide sind Philosophen im Fachbereich Metaphysik, Spezialgebiet Traurigkeitsforschung.

Auch dieser Roman ist in Trauer getränkt, hat mit dem großen Gott und den großen Gefühlen zu tun. Aber die Schönheit dieses Buches macht frösteln, nichts weiter.

 

Dea Loher:
Bugatti taucht auf. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012, 207 S., 19,90 Euro

 

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