Jandls Humanisten - Philip Tiedemanns Inszenierung aus dem Jahr 2000 wird am Berliner Ensemble neuaufgenommen
Kunstschutz auf dem hohen Sockel
von Sophie Diesselhorst
Berlin, 25. Juni 2012. 70 Minuten, keine Pause, das klingt kurz und knackig. Kurz und knackig wie zum Beispiel ein Gedicht von Ernst Jandl. Und mit einem solchen wird die Show auch eröffnet auf der Probebühne des Berliner Ensemble. Aus der Wand, auf die vor Beginn in Ernst Jandls Handschrift das Wort "humanistä" projiziert worden war, dringen von unten Nebelschwaden. Dann, oh Theaterzauber, fährt sie hoch und macht Raum für vier angestrengt grimassierende Schauspieler, die abwechselnd und zusammen Jandls Gedicht "talk" sprechen. Das besteht aus den Elementen "blaa" und "bäb", wobei das "bäb" manchmal auch noch ein oder zwei "b"(s) mehr am Ende trägt.
Jedes dieser "b"s wird hörbar gemacht. Wie auch später jedes der "a"s und "o"s und "l"s in der Zerdehnung von "napoleon", die Jandls "ode auf N" ist – in Sachen Sprechkunst statuiert dieser Abend, der Jandls kurze Farce "die humanisten" mit Gedichten des österreichischen Großmeisters der kurzen Form durchsprengselt, sowieso ein Exempel, immerhin.
Lautmalerische Professoren
"die humanisten", das sind, kurz und knackig, zwei Männer, die im Geiste der Eitelkeit zusammenfinden und schließlich, nachdem sie sich als "bruderen" erkannt haben, jagd auf "terroristä" machen, was böse endet. "ich sein ein professor / was du sein? – ich sein ein kunstler / was du sein?" – ich sein ein universitäten professor / was du sein? – ich sein ein groß kunstler / was du sein?", so stellen die beiden sich vor – natürlich nicht einander, sondern jeweils einem Publikum, das in ihren narzisstisch gestörten Köpfen existiert.
Originalbesetzt mit Krista Birkner, Veit Schubert, Markus Meyer, Michael Rothmann.
© Marcus Lieberenz
Im Theater gibt es ja dann auch noch ein reales Publikum. Diese Tatsache könnte das Ganze zu einer doppelbödigen Angelegenheit machen. Was Philip Tiedemann in dieser Inszenierung aus dem Jahr 2000, die das Berliner Ensemble jetzt wieder aufgenommen hat, aus dem "Konversationsstück in einem Akt" macht, ist allerdings nur selten doppelbödig. Und wenn, dann wohl unfreiwillig. Zum Beispiel, wenn es zum Thema Kunst kommt: "viel kunst heut nicht viel gut sein", beginnt da der universitäten professor eine Tirade; "sein viel – schmutzen", bestätigt der groß kunstler, der es da wissen muss. "du sein und ich sein kunst schutzen", beschließt der professor anschließend. Und man kommt nicht umhin, daran zu denken, wie Claus Peymann beim Theatertreffen 2010 im Anschluss an die Festivalpremiere von Herbert Fritschs Schweriner Biberpelz seinen alljährlichen großen Kunstschützer-Bähmann-Auftritt hatte, als er Fritsch durch den Applaus zubrüllte, er solle doch die Hände bitte vom Regiehandwerk lassen und zum Schauspiel zurückkehren, das könne er schließlich.
Denkmal und Sprachwitzeln
Warum eigentlich? Fritsch hätte doch wohl, hätte man ihn hier rangelassen, das auf die Spitze getrieben, was Philip Tiedemann nur halbherzig macht. Nämlich: Jandl jegliche Interpretationsebene zu ersparen und stattdessen die Figuren zu hysterisierenden Knallchargen hochzujazzen. Anscheinend verlässt man sich am BE darauf, dass das Publikum auf Peymann hört und nicht in die Volksbühne geht – mit Fritsch-Filter ist dieser Abend jedenfalls ein schales Bier. Was den Theaterzauber angeht, so erschöpft sich der mit dem anfänglichen Hochgehen der Wand. Den Rest des Abends stehen die Darsteller wie Denkmäler einer vergessenen Zeit auf ihren vier Sockeln und reduzieren Jandls Texte virtuos auf flachen Sprachwitz – was beim Premierenpublikum ganz gut ankam. ottos mops würde kotzen.
Jandls Humanisten
nach Ernst Jandl
Regie: Philip Tiedemann, Ausstattung: Franz Lehr, Stephan von Wedel, Dramaturgie: Hermann Beil, Musik: Ole Schmidt, Pascal Comelade, Ennio Morricone.
Mit: Veit Schubert, Markus Meyer, Michael Rothmann, Krista Birkner.
www.berliner-ensemble.de
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Aber ich gehöre wohl zu dem dummen BE-Publikum, das sich von flachem Sprachwitz begeistern lässt.
Zum Glück gibt es da die Nachtkritik-Kritiker, die den Durchblick behalten und (BE-)kritisch bleiben!
hier im österreichischen
lassen uns vom flachen sprachwitz
eines ernst jandl kaum noch begeistern
auch nicht von bernhard, handke und jelinek
warum wohl
wir kennen das alles viel zu gut
weil die Rede beständig zwischen Sichgehenlassen und Sichzusammennehmen, hin und her spielt, und so einen besonderen Reichtum der Stimmungswiedergabe erlaubt.
Nun hatte Österreich in Relation zur Größe des Landes - anders als die Schweiz - schon immer überproportional viele gute Autore.
Schön öfter war die "Verösterreicherung" der Deutschem Literatur in der Rede.
Wieso bringt das kleine Österreich eine so große Zahl beachtlicher Schriftsteller hervor?
Beschäftigung mit der "unheimlichen Heimat" und eine ausgeprägte Individualität,
die sich darin zeigt, wie auf Traditionen geantwortet, mit ihr gespielt oder gebrochen wird.