altDer Mensch und sein Monster

von Christian Baron

Jena, 12. Juli 2012. Es ist vorbei. Zunächst verhaltener Applaus schwillt an und kulminiert schließlich in stehenden Ovationen für die Akteure, denen der Kraftakt einer mehr als zweistündigen Freiluft-Aufführung von Mary Shelleys Klassiker "Frankenstein" gelungen ist. Das gesamte Ensemble des Theaterhauses Jena und gut sechzig Statisten haben den Theatervorplatz dafür in eine bunte Freakshow verwandelt.

frankenstein1 280hDr. Frankenstein (Sebastian Thiers) vor dem Schöpfungsakt    © Theaterhaus JenaFrankenstein? Wer ist das?

Regisseur Moritz Schönecker erzählt diese neben Bram Stokers "Dracula" wohl bekannteste aller Gruselgeschichten mit dem von Katharina Raffalt bearbeiteten Text nah an der literarischen Vorlage entlang. Eine Vorlage, die jedoch kaum jemand kennt. Geläufiger sind wohl eher die zahlreichen Verfilmungen der Story, die den Stoff nicht selten trivialisiert und seines tiefgründigen Kerns beraubt haben. Ein Umstand, der oft bereits zu Namensverwechslungen führte. Ist Frankenstein nun der Name des Monsters oder des Schöpfers? Wie an diesem Abend deutlich wird, scheint die Antwort beinahe gleichgültig, zumal beide Figuren nicht nur in ihrer Hassliebe vereint sind, sondern trotz vordergründiger Gegensätzlichkeit geradezu verschmolzen wirken.

Den vom Ehrgeiz zerfressenen Viktor Frankenstein spielt Sebastian Thiers so inbrünstig und bald auch von tiefer Angst erfüllt, dass dem Betrachter nichts anderes übrig bleibt, als sich in ihn hineinzufühlen. Als er das von ihm erschaffene Wesen brüsk verabscheut, offenbart sich in seinem morbiden Charakter auch eine allzumenschliche Kunst der Verdrängung, die nahezu jeder aus dem eigenen Leben kennt und weiß, wie brutal sie sich rächen kann. Ein durch und durch widersprüchlicher Bursche also, den Thiers famos darzubieten versteht. Sein Antagonist wiederum erscheint rein phänotypisch anders als erwartet, weil der nicht allzu hoch gewachsene Yves Wüthrich einen krassen Kontrapunkt darstellt zu dem im Romanoriginal 2,44 Meter messenden Monster. Und doch wirkt er nicht nur dank einer hervorragenden Maske, sondern auch aufgrund seiner Fähigkeit zum nahezu perfekten Spiel auf der stimmlichen Klaviatur, einem Talent zu gruseliger Mimik und einem Hang zu feinsinnigem Gestenspiel nicht als seelenloser Unhold, sondern als aufrichtig fühlendes, nur äußerlich entstelltes menschliches Wesen.

Die ganze Welt ein Zirkus

"Weine, weine, Bestie Mensch!" ist die Jenaer Spielzeit überschrieben, die mit diesem Event zu Ende geht. Kaum ein Stoff hätte dieses Motto treffender auf die Bühne übertragen können. Frankenstein und seine Kreatur verletzen und brauchen einander, um überhaupt lebensfähig zu sein. Trotz der anfänglich auf der Suche nach Liebe versehentlich geschehenen und erst danach aus verschmähter Anerkennung in brutale Berechnung umschlagenden Morde bleibt die Bestie doch menschlich; während der Mensch Frankenstein in seinem tückischen Wahn stets auch etwas Bestialisches besitzt.

frankenstein 560 theaterhausjena xDas Gesamtszenario vor dem Theaterhaus © Theaterhaus Jena
Atmosphärisch hilfreich für das ambivalente Gefühl ist bereits der äußere Rahmen. Schon vor Beginn der Aufführung tollen Statisten umher, was das Gefühl vermittelt, Voyeur auf einem Filmset voller wunderlicher Gestalten zu sein. Aufwendig produzierte und äußerst ansehnlich geratene Kostüme tragen ebenso zu diesem Eindruck bei, wie das kreativ gestaltete Bühnenbild, in das vom sterilen Labor bis zur prachtvollen Alpenlandschaft alles Nötige eindrücklich integriert ist – und all das in Kombination mit brillanten Videotricks des Kollektivs "Impulskontrolle". Auch wenn sich nicht immer erschließt, warum die Rahmenhandlung als pompöser Zirkus daherkommen muss. Das ist zwar spektakulärer als sie, wie in Shelleys Roman, von einem Expeditionsschiff am sinisteren Nordpol aus zu schildern. Stimmig ist es aber nicht.

frankenstein3 280© Theaterhaus JenaWas darf der Mensch?

Überflüssig erscheinen auch einige klamaukige Einschübe, durch die sich der Abend manchmal in Gefahr begibt, nicht mehr ernst genommen zu werden. Womit hat man es zu tun? Mit Groteske oder Grusel, Sozialdrama oder Science-Fiction? Aber Gottseidank bleibt genüg Raum zum Nachdenken. Wie es sich für große Literatur gehört, werden bereits in Shelleys Werk die großen Fragen der Philosophie gestellt: Was ist der Mensch? Wo sind die Grenzen der Vernunft? Die Inszenierung beantwortet keine davon eindeutig.

Tim Burton lässt grüssen

Und so sehen am Ende alle in bester Brecht-Manier "betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen". Doch bei aller verbleibenden, sich mit diffuser Hoffnung paarenden Düsternis hat sich bis dahin eine wesentliche Erkenntnis herauskristallisiert: Sollte Tim Burton jemals der Idee verfallen, "Frankenstein" zu verfilmen, dann wird die Umsetzung höchstwahrscheinlich so aussehen. Ein gewagtes Maximallob für eine Inszenierung in einem nicht gerade üppig finanzierten Schauspielhaus mitten in der thüringischen Provinz? Vielleicht. Doch hier traut man sich etwas – und setzt es trotz enger materieller Grenzen auch noch im wahren Wortsinne phantastisch um.

 

Frankenstein
Sommerspektakel nach Mary Shelley
Regie: Moritz Schönecker, Text: Katharina Raffalt, Dramaturgie: Jonas Zipf, Musik: Joachim Schönecker, Bühne/Kostüme: Veronika Bleffert, Benjamin Schönecker, Video: Impulskontrolle.
Mit: Bella Asonganyi, Ella Gaiser, Natalie Hünig, Tina Keserovic, Caspar Laute, Benjamin Mährlein, Kristian Philler, ThomasSchnackenberg, Sebastian Thiers, Lena Vogt, Yves Wüthrich, Mathias Znidarec

www.theaterhaus-jena.de

 

 

Kritikenrundschau

Regisseur Moritz Schönecker versuche den Wirkungsgesetzen des Genres und des riesigen Spielraumes geschickt zu entsprechen, indem er die Frankensteingeschichte als Zirkusspektakel inszeniere, findet Hartmut Krug im Deutschlandfunk (13.7.2012), der insbesondere die Videos preist. "Was allerdings weniger gelang, waren die Familien- und Bedeutungsszenen. Sie wirkten viel zu langatmig, in Vorbereitung wie in Durchführung, und stoppten immer wieder den Fluss der mehr als zweistündigen, pausenlosen Inszenierung. Auch verschwand die Frankensteingeschichte fast hinter dem Zirkusspektakel."

Technische Brillanz, ergreifende Videos von hoher Qualität und eine triumphale Ausstattung bescheinigt Frank Quilitzsch in der Thüringischen Landeszeitung (14.7.2012) dem Jenaer Abschlußspektakel. Doch inhaltlich sei die Inszenierung vom Doktor Frankenstein und seinem Spiel mit der Schöpfung lange einfach nur lustig. Erst mit der Konzentration auf das künstlich erschaffene Monster, "der Erzählung des zur Einsamkeit verdammten, seinen Schöpfer anklagenden Wesens gewinnt der Plot an Tiefe." Yves Wüthrich, der ihn darstelle, moduliere den Klang seiner Stimme "vom gedemütigten Kind zum unglücklichen Racheengel: 'Wenn ich keine Liebe erwecken kann, werde ich Angst verbreiten.' Auch das wird, in aller Drastik, gezeigt. Bloß gut, dass sich die theatralischen Totengräber auch gern selbst mit auf die Schippe nehmen."

Er sei ganz begeistert von dem Text, "den Katharina Raffalt hier für Jena geschrieben hat," sagt Stefan Petraschewsky in der MDR-Sendung "Figaro" (13.7.2012), weil diese Bearbeitung aus seiner Sicht "einen viel intelligenteren Fokus" setzt als viele Verfilmungen des berühmten Stoffs. Der Roman spiele mit "einem Anti-Schöpfungsmythos", in dessen Zentrum die Frage stehe: "Was wäre eigentlich gewesen, wenn Gott statt Adam eine Kreatur geschaffen hätten, die so hässlich ist, das niemand sie lieben kann. Denn das ist ja das Schicksal der Kreatur. Was wäre also gewesen, wenn Gott einen Fehler gemacht hätte? Und nicht den Menschen als sogenannte Krone der Schöpfung, sondern – im Gegenteil – den Teufel mit diesem Schöpfungsakt in die Welt gesetzt hätte?" In den Verfilmungen fehle diese philosophische Fragestellung." Aber auch die vielen "echt und genau erspielten Haltungen" der Schauspieler in dieser Inszenierung beeindrucken Petraschewsky sehr.

 

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