Independent Boy

von Hartmut Krug

Salzburg, 30. Juli 2012. Der weite Bühnenraum ist aufgerissen bis an die Brandmauer. Vorn liegt ein großer Spielteppich, hinten lehnt eine Gitarre an einem Küchentisch neben dem Herd. Einige Requisiten warten im Hintergrund auf ihren Einsatz, während sich die Spielerschar rund um ein kleines Podest mit Musikinstrumenten schart. Auf dieser Bühne kann es kein Bildertheater wie bei Peter Steins legendärer Inszenierung des "Peer Gynt" aus der Anfangszeit seiner Schaubühne geben, hier wird vor allem demonstrativ erzählt, musiziert und getanzt. Denn auch Irina Brooks Peer sehnt sich heraus aus seiner schäbigen Bauernwelt in den Bergen. Er möchte nicht nur jemand, sondern er selbst werden. Was heute bedeutet: Er will Rockstar werden.

Wo die E-Gitarren röhren

Die Aufführung beginnt zu Solveigs Lied mit dem Ende: Der alte Peer, gebückt im schäbigen Mantel, wird von Solveig, einer strahlenden Hoffnungsfigur in bodenlangem weißen Kleid, auf die Bühne geführt und in ihrem Schoß zur Ruhe gelegt. Dann springt Peer auf, und die Geschichte beginnt von vorn. Er wirft den Mantel von sich und redet sich, barfüßig im Unterhemd über langer Hose (das wird seine Arbeits-Spielkleidung bleiben), vor seiner Mutter hinein in seine Lügenjagd nach dem Bock hoch in den Felsen, und eine Elektrogitarre jault seine wechselnden Stimmungen zwischen "Wait and see" und "Proud of me" dazu.

peergynt1 560 monikarittershaus uIngvar E. Sigurdsson als Peer Gynt © Monika Rittershaus

Wenn er seine Mutter in einer hampelig unlebendigen Szene auf die Fußstreben einer Betonsäule gesetzt hat (bei Ibsen ist es das Mühlendach), rennt er zur Hochzeit von Ingrid, um diese für sich zu gewinnen. Hier wird dem Volke aufgefiedelt und Peer mitgespielt, dass es so, nun ja, voraussehbar munter ist, wie man es vom Volk eigentlich nicht mehr auf der Bühne sehen mag. Irina Brooks Inszenierung entwickelt sich dabei nicht zu einem poetischen, sondern aufzählerischen Spiel. Sie besitzt eine merkwürdig schlichte gestisch-mimische Deutlichkeit: Man schaut dem immer bewegten, stets musikalisch grundiertem Geschehen zu, aber gebannt oder hinein gezogen wird man nicht.

Jede Szene ist sorgfältig und langwierig ausgepinselt, ohne tatsächlich Szenisches zu bieten. Meist wird nur erzählt, was passiert: Etwa, dass Peer Ingrid auf einem Motorrad in die Berge entführt. Dann aber sieht man wieder nur zwei Menschen, die sich und uns auf leerer Bühne erklären, was mit ihnen los ist. Und es ist nicht gut, denn Peer ist egoistisch und verstößt die bereitwillig Entführte. Die Aufführung besitzt zwar Formen eines Musicals, kennt dabei aber weder Rhythmus noch Timing. Da helfen weder die zwei Lieder von Iggy Pop noch die Gedichte zu Peer von Sam Shepard viel, die sich mehr im Programmheft denn im Spiel entfalten.

Kneipentour mit Iggy Pop

Nichts gegen die Fassung von Irina Brook. Nichts dagegen, dass sie die Geschichte verkürzt, dass Peer nicht auf seiner Reise durch die Welt und nicht als Kolonialist und Kapitalist wie bei Ibsen gezeigt wird, sondern nur als Rockstar, der durch Kneipen mit wechselnder Musik stolpert und von Iggy Pop "Independent Boy" oder in seinem großen Konzert mit "PG und die Trolle" "I'm the Dude" singt (beides Originalsongs für die Inszenierung), was in der Übertitelung der englischsprachigen Aufführung mit "Ich bin ein Geck" übersetzt wird.

peer gynt5 560 monika rittershaus uTheaterrocker on tour: PG und die Trolle © Monika Rittershaus

Doch Brooks szenische Einfälle sind so konventionell wie, ja, langweilig. Da machen drei kurzberockte Sängerinnen Peer an, und man fühlt sich wie in einer Fernsehpopshow mit wenig "tieferer" Bedeutung. Die Trolle sind mit biederen Tiermasken ausgestattet und interpretieren das "Selbstsein" als Selbstsüchtigsein, worauf die Pressekonferenz nach Peers großem Konzert peinlich kabarettistisch klischeeselig ist. Dass Solveig (nicht nur tänzerisch sehr präsent: Shantala Shivalingappa) und ihr Vater, die bei Ibsen "zugewandert" sind, bei Brook gleich aus Indien kommen, führt zu wenig mehr als ein, zwei folgenlosen Sätzchen zur Multikulturalität. Die Szene mit der schönen Anitra (in der Froydis Arntzen Dale wunderbar ein anmacherisches Tigerlied singt und performt) ist in einen Hillbilly Saloon verlegt worden, aus dem Peer herausgeprügelt wird.

Turnen und Theoretisieren

Irina Brook findet aber letztlich keine überzeugende Form für ihre Spielszenen. Das mag auch daran liegen, dass die Schauspieler, wenn sie nicht gerade wieder alle als Musikanten unterwegs sind, auf der riesigen leeren Bühne zuweilen ausgestellt und verloren wirken. So wirkt Ibsens tolle Szene, in der Peer kurz zu seiner Mutter zurückkehrt, worauf sie selig stirbt, während Peer sie in eine gemeinsame Schlittenfahrt hineinphantasiert, kein bisschen aufregend oder poetisch. Leider malt Irina Brook ihre Szenen oft zu lang aus. Wenn Peer z.B. in eine Esoteriker-Gruppenübung gerät, dann will das Turnen und Theoretisieren schier nicht enden.

Tja, und Ingvar E. Sigurdsson besitzt als Peer Gynt zwar eine große physische Kraft, doch keine sonderliche darstellerische Variationsbreite. Beeindruckend, wie er sich immer wieder vor das Publikum stellt und den Rockmusiker hinknallt. Doch er spielt keine Entwicklung, sondern liefert nur eine Haltung ab.

So wurde dieser in vielen Vorberichten als Ereignis annoncierte Abend doch insgesamt eher eine Enttäuschung. Die Bänke im Theater auf der Perner-Insel in Hallein können in einer dreieinhalbstündigen Aufführung doch recht hart sein.



Peer Gynt
von Henrik Ibsen
In einer englischen Fassung von Irina Brook
Regie: Irina Brook, Bühne: Noëlle Ginefri, Kostüme: Magali Castellan, Musikalische Leitung: Guillaume Antonini, Lichtdesign: Arnaud Jung, Regieassistenz: Geoffrey Carey
Mit: Guillaume Antonini, Helene Arntzen, Froydis Arntzen Dale, Diego Asensio, Anne-Emmanuelle Davy, Jerry Di Giacomo, Scott Koehler, Mireille Maalouf, Roméo Monteiro, Christophe Rodomisto, Augustin Ruhabura, Ingvar E. Sigurdsson, Gen Shimaoka, Shantala Shivalingappa

www.salzburgerfestspiele.at


Mehr zu den Salzburger Festspielen finden Sie im nachtkritik-Lexikon.

 

Kritikenrundschau

"Das alles ist recht lieb und brav und von vollendeter Harmlosigkeit," gibt Ulrich Weinzierl der Welt (1.8.2012) zu Protokoll. "Und wäre die Angelegenheit nicht derart aufwendig, dürfte man sich mit dem Niveau einer gehobenen Studentenaufführung zufriedengeben. Allein, wir sind bei den Salzburger Festspielen." Man bekomme "eine Art Pop-Musical vorgesetzt, ein buntes Spektakel fern jeglicher Märchenpoesie. Das heißt keineswegs, Irina Brook bemühte sich nicht um 'poetische' Bilder. Im Gegenteil: Das im 'Peer Gynt' durchaus vorhandene Kitschpotenzial wird restlos ausgeschöpft." Doch regt aus Sicht des Kritikers keines davon die Fantasie an oder weise gar über sich hinaus. Au contraire: "Unsere Augen und Ohren sind danach wie zugekleistert."

Von einer "charmanten, märchenhaften, das Sentiment ungeniert ausreizenden Aufführung", spricht Norbert Mayer in der Wiener Tageszeitung Die Presse (1.8.2012. Ein Abend freilich, der Peer Gynts Lebensbeichte nostalgisch verbräme. "Die Szenen sind hübsch aneinandergereiht zu einer Revue voller Poesie, der aber die dramatische Dichte fehlt und die manchmal etwas platt wirkt. Brook bevorzugt epische Breite, sie betont das Lyrische." Dieser Zugang erlaube besinnliche Momente, die aus Mayers Sicht näher am Melodram als am Pathos sind, "etwa wenn der Titelheld vor seiner Weltreise noch einmal die sterbende Mutter sieht, der nur seine Kindersachen geblieben sind. Sie liegt in seinem Bettchen, er steht dahinter als Kutscher und fantasiert ihr eine Schlittenfahrt vor." Fazit: "Das rührt."

Für Peter Michalzik von der Frankfurter Rundschau (1.8.2012) ist es Fluch und Segen dieser Aufführung, dass Irina Brook die Suche Peer Gynts nach seinem Selbst "mit einer Inbrunst ernst nimmt, die im deutschsprachigen Theater Peinlichkeitsgefühle erzeugt". Das Konzept sei dabei jedoch sehr klar und geht aus Michalziks Sicht auf: "Peer Gynt ist mehr britische Working Class als nordisch vertrollt, vor allem wird er Rockmusiker, Peers Fluchtfantasien sind Wolken der Popwelt." Ein Problem aber sei die Sprache: "Die Musiker-Schauspieler sprechen sehr laut,(...) sie deklamieren mit Hoch- und Nachdruck und das auch noch über Microport. Intime, normale, einfache Momente sind selten, das ermüdet auf Dauer. Manche Darsteller wie Peers Mutter sind der Sprache nicht gewachsen und das wird in diesem eigenartig groben Sounddesign auch noch ausgestellt. Dagegen stehen die Szenen," die der Kritiker grundsätzlich als "schönes Theater" empfand.

"Soviel Ronacher war nie," stellt Margarete Affenzeller im Wiener Standard (1.8.2012) fest. Irinina Brook habe für die vielen Stationen von Peer Gynts Weltreise "keine andere Form gefunden als circensische Märchenszenen, in denen es wie im Musical mehr auf temperamentvolle Äußerlichkeiten ankommt als auf die innere Entwicklung des Helden: Trollkostüme in allen Farben, Musik als Pausenfüller, süße Requisiten." All das führt die Kritikerin schließlich zur berühmten Gynt-Meapher "als er nach Jahrzehnten des Herumtreibens heimkehrt und bemerkt, er selbst sei wie eine Zwiebel: viel Schale und kein Kern."

Internationalisierung, Spektakelisierung und Infantilisierung sind für Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (1.8.2012) wesentliche Stichworte, zu denen sie diese Inszenierung inspiriert und zu dessen Charkterisierung auch sie die Gyntsche Zwiebelmetapher bemüht. "Soll heißen: Die Inszenierung ist action- und spielfreudig, laut, bunt und trubelig, sie schmeißt sich ins (Schlag-)Zeug und haut auf die Pauke." Doch zeuge sie "auch von einem erstaunlich schlichten Gemüt und spricht vor allem jene Zentren im limbischen System an, wo unser Sinn fürs Märchen- und Zirkushafte sitzt und unsere einstmals noch unschuldigen Jugendtheatererfahrungen abgespeichert sind." Interpretatorisch geht der Abend für die Kritkerin jedoch in Ordnung: Peer Gynt in der Welt der Casting-Shows.

"Prominentengeile Aufgeblasenheit" bescheinigt Gerhard Stadelmaier der Inszenierung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.8.2012). Wenn aus seiner Sicht auch "der wüste, wilde Alt-Rocker Iggy Pop und der wildglatte Virtuose Sam Shepard" als "Sprachluftballonlieferanten für Kindergeburtstage" etwas überbesetzt sind. Im Übrigen listet er endlos die Theatersünden auf, die der Abend aus seiner Sicht begeht: "Zum Beispiel der weite offene Raum, in dem beliebig hier und dort ein Stühlchen, ein Sofachen, ein Schlagzeugchen, ein Bettchen herumstehen. (...) Oder diese ganze herzig pädagogische Kindlein-liebet-einander!-Knallfroschfröhlichkeit. Und überhaupt diese reizende Avantgarde-Konvention von vorgestern, im jahrzehntelangen internationalen Festivalzirkus weltweit vernutzt, nur noch tauglich fürs etwas ranzig gewordene Pop-Abonnement einer grau gewordenen Jugend." Am Ende treibt die Gyntsche Zwiebel auch Stadelmaier die Tränen ins Kritikerauge.

 

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