Heiliger Eifer

von Esther Slevogt

Berlin, August 2012. Der Titel klingt erst mal nicht nach Theater. Und gehört doch genau dorthin: die sechs Thesen des Theater- und Openregisseurs Adolf Dresen zu Karl Marx’ Ökonomischer Theorie.

dresen cover grossDabei sind Dresens Thesen vielleicht noch das Uninteressanteste an diesem Buch. Auf sie wartet die Welt heute ebenso wenig wie damals im Ostberlin der 1970er Jahren, als sie kurz vor der Ausbürgerung Wolf Biermanns entstanden sind. Trotzdem handelt es sich um ein hochdramatisches Buch. Einen Stoff, wie es ihn nur auf dem Theater geben kann, wo man den Dunst der Kantine schon mal mit Hegels Weltgeist verwechselt und das Theater mit der ganzen Welt. Wo man spätestens bei der Lektüre der Kritiken nach der Premiere an der Kompatiblität des Außen mit dem Innen zu zweifeln beginnt. Und natürlich ist es nie die Theorie, die die Schuld daran trägt, sondern immer nur die Praxis. Ist niemals die Inszenierung schlecht, sondern höchstens das Publikum.

Angriff auf die Luftblasen

Ganz ähnlich verhielt es sich auch mit dem Sozialismus. Dass er nicht funktionierte, lag nicht an ihm, sondern an den Leuten, die ihn einfach nicht verstehen wollten. Diese Inkongruenz wurde für Adolf Dresden der Ausgangspunkt einer intensiven Beschäftigung mit der Marxschen Ökonomie.

Womit wir bei Akt eins des Dramas wären. Der Künstler legt sich mit dem Evangelium des Kommunismus und dem darauf gebauten materialistischen Weltbild an, wie weiland Giordano Bruno oder Galileo Galilei mit dem ptolomäischen. Weist nach, dass schon die Theorie auf falsche Maxime setzt, weshalb es auch mit der Praxis vorerst nichts werden kann.

Einen Angriff wie diesen konnten die Kardinäle im Italien der Renaissance natürlich ebenso wenig hinnehmen, wie die roten Kardinäle in der SED im Kalten Krieg. Anders als Bruno und Galilei war Adolf Dresden den Häschern aber bereits entkommen. Seit 1977 lebte und arbeitete er im Westen. Seine "Discorsi" beziehungsweise Thesen zu Karl Marx blieben aber auch unveröffentlicht Sprengstoff, weil sie mit großer Zielsicherheit in die theoretischen Luftblasen stachen, auf denen die Macht der Partei begründet war.

Wir kommen also langsam beim nächsten Akt des Dramas an, und damit bei den in der DDR verbliebenen Freunden und Weggefährten Dresens, bei Friedrich Dieckmann zum Beispiel, der den Band herausgegeben und unter anderem mit einem klugen und informativen Vorwort versehen hat. Und bei Maik Hamburger, lange Jahre Dramaturg am Deutschen Theater, wo Dresens berühmtesten Inszenierungen während seiner DDR-Jahre entstanden, den Hamburger bereits seit Leipziger Studententagen kannte. Und der uns nun berichtet, was sonst noch geschah.

Eine chinesische Tasse

Dresens unveröffentlichte Thesen nämlich blieben auch unter den Zurückgebliebenen Debattenstoff. Erst recht, nachdem der "Spiegel" im August 1977 einen Auszug der Überblendung des realexistierenden Sozialismus mit seinen theoretischen Grundlagen veröffentlicht hatte, die der dissidente Philosoph Rudolf Bahro unter dem Titel "Die Alternative" verfasst hatte und als Ketzer am Tag nach Erscheinen des Textauszugs verhaftet worden war. Noch einer, der den Katechismus der Partei hinterfragte!

Vom Gesprächsbedarf getrieben, verabredeten die Freunde also ein Treffen mit Adolf Dresen im tschechoslowakischen Bratislava, das sowohl von Ostberlin als auch von Wien aus erreichbar war. Am Wiener Burgtheater inszenierte Dresen gerade Goethes "Iphigenie auf Tauris". Es folgt eine aberwitzige Geschichte, die dahingehend zusammengefasst werden kann, dass eine chinesische Tasse, die Maik Hamburger dem frischverheirateten Freund bei dieser Gelegenheit als Hochzeitsgeschenk überreichen will, Adolf Dresen vor der Verhaftung bewahrt.

Die Stasi nämlich hatte, wie sich nach dem Ende der DDR herausstellen sollte, von dem geplanten Treffen mit dem ketzerischen Regisseur erfahren, und beim tschechischen Bruderdienst um Amtshilfe gebeten, Adolf Dresen beim Treffen mit den Freunden festzunehmen. Wie die Stasi Dresens "Machwerk" einschätzte, ist in dem Band natürlich auch nachzulesen.

Doch zu dem verabredeten Treffen in Bratislava kommt es nicht, weil die DDR nicht nur die Ausfuhr von Bürgern, sondern auch die chinesischer Tassen penibelst kontrollierte, die Freunde also unverrichteter Dinge nach Hause fahren mussten, Dresen in Wien noch rechtzeitig benachrichtigen konnten, dessen Reisegrund nach Bratislava sich damit ebenfalls erledigt hatte.

Versunkene Debatten

Dafür unternimmt man als Leser dieses Buchs noch einmal eine Reise in untergangene Zeiten und mit ihnen versunkene Debatten. Als viele Künstler noch an ein Happy End des Dramas DDR geglaubt haben.

Es ist auch ein Dokument des heiligen Kommunismusverbesserungseifers unter den Künstlern jener Jahre, des letztlich naiven Glaubens, die Geschichte ließe sich ebenso inszenieren wie ein Theaterstück. Wenn nur die Dramaturgie Hand und Fuß hat! Damit haben Dresen und seine Freunde jetzt selbst Stoff für ein Drama geliefert. Es fehlt bloß noch der, der es schreibt. Die Revolution, die uns Karl Marx auf der Basis seiner geschichtsphilosophischen Thesen in Aussicht stellte und deren gesetzmäßiges Stattfinden Adolf Dresen dann später so irritiert vermisst hat, die fehlt natürlich auch.

 

Adolf Dresen:
Der Einzelne und das Ganze. Zur Kritik der Marxschen Ökonomie.
Herausgegeben von Friedrich Dieckmann
Verlag Theater der Zeit, Berlin 2012, 150 S., 16 Euro.

 

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