Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps

von Falk Schreiber

Hamburg, 18. August 2012. Vor einigen Jahren verlieh sich Hamburg selbst den Titel "Wachsende Stadt". Das war reines Stadtmarketing, kein Gedanke steckte da hinter, nur die Vorstellung, dass es erstrebenswert sei, wenn die Stadt in absehbarer Zeit auf zwei Millionen Einwohner anwachsen würde. Und Hamburg wächst. Die zwei Millionen sind noch lange nicht erreicht, wenn man aber jetzt schon sieht, wie Mietpreise explodieren und der Verkehr kollabiert, schwant einem: Wachstum um des Wachstums willen ist vielleicht nicht wirklich der Weisheit letzter Schluss.

Erst die Theorie, dann das Vergnügen

Matthias von Hartz hat in seiner letzten Saison als Leiter des Kampnagel-Sommerfestivals die "Grenzen des Wachstums" ausgerufen. So ein politisches Motto klingt großartig und schleift sich im Festivalalltag schnell zur bloßen Behauptung ab, weswegen es zur Festivalmitte regelmäßig eine Art politisch-theatralen Marathon gibt, dieses Jahr unter dem Namen "Ausgewachsen": "Wirtschaftswissenschaftler ... Scharlatane, Gelehrte und Künstler" beschäftigen sich acht Stunden – einen Arbeitstag lang – mit Wachstumsgrenzen, bereiten "uns mit Tanz und Theorie, Musik und Schnaps auf das neue Leben" vor. Und Schnaps, hey!, da freut sich der prototypische Arbeitnehmer doch drauf, am Ende des Arbeitstages!

Vor den Schnaps aber hat der Herr die Theorie gesetzt, und für die sind zuständig: Niko Paech, Wirtschaftswissenschaftler aus Oldenburg, und Ulrich Brand, Politikwissenschaftler aus Wien. Die sorgen in zwei Kurzvorträgen erstmal dafür, dass man als ökonomisch nicht allzu beschlagener Theatergänger nicht glauben mag, dass jemand, der auch nur halbwegs seine Sinne beisammen hat, für mehr Wachstum plädieren könnte. Vor allem fragt er sich aber, wie er das trotz gewisser performativer Anteile unter Theater fassen soll.

Ligna und Kathrin Röggla untersuchen "Wachstumsschnee von gestern"

Kein Problem mit Genrezuordnungen hat die Hamburger Künstlergruppe Ligna. Deren Audiotour "Lob des Stillstands" funktioniert in erster Linie als Spaziergang in die Vergangenheit: ins 19. Jahrhundert, als Kampnagel noch kein Theaterzentrum war, sondern eine Maschinenfabrik, ein Ort, an dem Wachstum eine nicht zu hinterfragende Voraussetzung für die industrielle Revolution war. Ein "Theater des Kapitalwachstums", in dem der Zuschauer Ligna-typisch vom Konsumenten zum Produzenten und vom Produzenten zum Produkt wird.

ausgewachsen1 280 ligna antonia zennaro uLigna: Lob des Stillstands © Antonia ZennaroThematisch ähnlich geht Kathrin Röggla mit dem Diavortrag "Das Aufspüren von Gefahrenquellen" ans Eingemachte: Was, wenn es wirklich kein Wachstum mehr geben sollte? Röggla dokumentiert eine Reise ins kosovarische Erzbergwerk Trepça, das sich schick macht für Investoren, obwohl klar ist, dass sich hier nichts rentabel fördern lassen wird. Das einzige, was hier floriert, ist der Rückbau, Gefahrenquellen werden unschädlich gemacht, die beherrschende Branche ist die Abwicklung: "Wachstumsschnee von gestern."

Eher Stimmungsbild als Theaterabend

Sibylle Peters' verhandelt in ihrer Performance "Let's make Money!" Geldpolitik in einem Frage-Antwort-Spiel und wählt damit ein Thema, das sich vor Komplexität eigentlich nicht in 30 Minuten künstlerisch darstellen lässt. Zudem stellt man mit Verrinnen der Zeit fest: "Ausgewachsen" hat eigentlich keine Idee, was der Marathon eigentlich an theatraler Form sein will, jenseits eines Bunten Abends zwischen Vortrag, Lecture Performance, Konzert, Lesung und auch irgendwie Theater, der als einzige Klammer das Thema "Wachstum" hat.

Sei es drum, dann hat man eben weniger performative Aktion, dafür ein Stimmungsbild, bei dem ästhetisch wie inhaltlich verschiedene Positionen unwidersprochen nebeneinander stehen können: Armin Chodzinski zeigt die stilvoll durchgedrehte Spoken-Word-Performance "Den Letzten beißen die Hunde". Julius Deutschbauer verpasst mit seiner ansonsten charmant wienerischen Polit-Performance "Partei der Institutionalisierten Kürzungen" haarscharf das Thema. PeterLicht singt "Lieder vom Ende des Kapitalismus".

ausgewachsen4 sibylle peters antonia zennaro uSibylle Peters: Let's make money © Antonia Zennaro

Feuchtfröhliches Nachhaltigkeits-Versprechen

Und zum Abschied gibt es dann wirklich den versprochenen Schnaps: in einer etwas albernen Performance von Davis Freeman namens "7 Promises", in der der Künstler dem Publikum verschiedene Nachhaltigkeits-Versprechen abnimmt, und als Belohnung einen Kurzen ausschenkt. Ja, ich will innerhalb der nächsten Woche 24 Stunden am Stück nichts kaufen! Cheers!

Das ist durchdacht, macht Spaß und schmeckt zudem. Trotzdem bleibt das Gefühl, dass die originellste Auseinandersetzung mit dem Thema Wachstum weder von den Künstlern kommt noch von den Wissenschaftlern, sondern von der Küche. Die Berliner Caterer Culinary Misfits verarbeiten krumm gewachsenes Gemüse zu schmackhaften vegetarischen Gerichten: Da wächst durchaus was. Nur optisch ein wenig anders als dass es noch lebensmittelindustriell verwertbar wäre.

Ausgewachsen. Ein Marathon mit 10 Perspektiven zum Wachstum
kuratiert von Matthias von Hartz
Von und mit: Niko Paech, Ulrich Brand, Ligna, Armin Chodzinski, Kathrin Röggla, Julius Deutschbauer, Sibylle Peters, PeterLicht, Davis Freeman

www.kampnagel.de


Mehr zumKampnagel-Sommerfestival 2012: Schorsch Kamerun und Fabian Hinrichs luden mit Die Ausgedehnten auf eine Hafenrundfahrt ein, Christer Lundahl und Martina Seitl zeigten Symphony of a Missing Room und das Schwabinggrad Ballett probte mit Platz der unbilligen Lösungen den Umsturz der Verhältnisse.


Kritikenrundschau

Für das Hamburger Abendblatt (20.8.2012) berichtet ein Autorenduo unter den Kürzeln asti/-itz vom Kampnagel-Marathon: "Im Halbstundentakt aufgereiht, können die Positionen zwischen Wissenschaft und Wahnsinn zwar nur Schlaglichter liefern. Bei manchem aber brennt der Wodka die Denkanstöße richtig schön in die Hirnwindungen", heißt es. Davis Freemans Performance "7 Promises" mit Schnapsausschank sei ein "herbes Moritaten-Entertainment, allerdings ein willkommener Ausklang eines langen Marathontages", auf dem man acht Stunden "von der perfekten postkapitalistischen Utopie" habe "träumen" können.

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