Laubenpiepers Traum

von Petra Kohse

Berlin, 23. November 2007. Das "Plädoyer für die Werktreue", das Rolf Schneider in der heutigen Ausgabe der Welt veröffentlicht hat (siehe hier), ist ein schönes und auch anrührendes Beispiel für kulturelles Spießbürgertum. Nur mit selbst Geschnitztem bewaffnet, stellt sich ein wackerer Verteidiger seiner Interessen da der Übermacht schnell schießender Heere entgegen und glaubt, der Sieg sei seiner.

Der 75-jährige Schneider, der ja auch ein Dramatiker ist, wünscht sich, dass das Theater der Umsetzung von Stücktexten diene und stellt dies als die quasi natürliche Aufgabe des Theaters dar. Was verständlich ist, wenngleich vom Kräfteverhältnis her in keiner Weise zwingend. Denn das Theater ist ja der sehr viel größere, komplexere Apparat, der zwar der Texte im allgemeinen, aber nicht der jeweiligen Stücke im Einzelnen bedarf. Shakespeare hat Stücke für das Theater geschrieben und sich nach dessen Bedürfnissen gerichtet, nicht umgekehrt.

Kindkaiserlicher Deutungsanspruch
Es liegt ein gewisses Kindkaisertum in der Vorstellung, ein womöglich vielhundertköpfiger, staatsgeförderter Apparat sei allein dazu da, den Ideen einzelner Schreiber zur Wirksamkeit zu verhelfen und zwar so, wie diese es im Innersten gemeint haben, ganz ohne eigene Kommentare und diskursive Anreicherungen. Wobei das Theater bei der Klassikerpflege durchaus volksbildnerische Aufgaben hat, kein Zweifel. Aber das ist dann eben die museale, bestenfalls kunsthistorische Schiene des Programmes, neben der die Kunst, die lebendige, Gegenwart aufgreifende und Gegenwart verändernde Kunst selber nicht nur ihren Platz, sondern auch in gleicher Weise ihre Pflichten hat.

Sowieso ist beim Begriff der "Werktreue" der Verzicht auf eigene Lesarten keinesfalls inbegriffen. Wie könnte man einem Werk treuer dienen, als es in seinen einzelnen Aspekten verständlich und begreifbar zu machen? Authentisch ließe sich ein Stück auf der Bühne nur abbilden, wenn man die Druckseiten auf den Eisernen Vorhang projezierte. Mit Vermittlung und Zwischenhandel muss schon rechnen, wer für die Bühne schreibt, mit Widerspruch und Bildern, die er nicht versteht, ebenfalls.

Aber Schneider geht es nicht nur ums Grundsätzliche. Er hebt zum "Plädoyer" an, weil er die zunehmende Feuilleton-Kritik am "Regietheater" für ein Zeichen des baldigen Niedergang desselben wertet und rasch "eine erste Bilanz" ziehen will. Dabei geht er von eigenen Erlebnissen aus (ein früher Castorf am Deutschen Theater und die Uraufführung eines eigenen Stückes in einem bayerischen Stadttheater) und definiert das Phänomen mit folgenden Worten: "Regisseure stellen ihre privaten Neurosen auf die Bühne, unter bevorzugter Benutzung von Texten, die sich einer solchen Interpretation widersetzen, weswegen man dieselben zerschlagen muss."

Ein gerüttelt Maß an Neurose
Was von der Sache her sicher so falsch nicht ist, schließlich ist Kunstproduktion ohne ein gerüttelt Maß an Neurose gar nicht denkbar, und tatsächlich formuliert sich das Eigene in der Reibung an Dingen, die einem widerstreben, am deutlichsten. Aber das muss keineswegs in die Herrschaft des "Hässlichen" und der "Pansexualität" münden, wie Schneider beklagt, und falls doch und das notorisch, heißt das ja vielleicht, dass man sich mit dem Hässlichen und Pansexuellen mal auseinandersetzen sollte, wenn man dem Medium Bühne traut.

"Seit fast zwei Jahrzehnten" beobachtet Schneider die regietheatralischen Umtriebe im deutschsprachigen Theater, und nicht davon infizieren lassen hätten sich nur wenige, darunter Andrea Breth, Dieter Dorn, Peter Stein und Peter Zadek. Tatsächlich war es natürlich Peter Zadek, der die Autorschaft des Regisseurs als einer der ersten im deutschen Theater behauptete, und das bereits Mitte der 60er Jahre in Bremen. "In Frühlings Erwachen" von Frank Wedekind arbeitete er 1965 ganz klar mit Mitteln des kommentierenden Poptheaters, das war vielleicht der Anfang.

Dass Beliebigkeit nicht frei macht und eine Anhäufung kultureller Referenzen noch keine Gesellschaftsanalyse ergibt, ist klar. Dass man als Zuschauer oder Zuschauerin im Theater auch nicht immer selber alles Auseinanderstrebende zusammenfügen kann ebenfalls. Auch gibt es ganz viel schlecht gemachtes und kurz gedachtes Theater. Aber sich deswegen gleich die Rezitationskunst zurückzuwünschen, wie Schneider das tut, offenbart ein geistiges Laubenpiepertum, wie es lange nicht zu lesen war.

Irrationalistische Ich-Besessenheit
Die "Protagonisten des Regietheaters", schreibt er übrigens auch, "begreifen sich mehrheitlich als Vertreter von linkspolitischen Gesinnungen". Ihre "Produkte" jedoch, würden weder "Einsichten in Geschichte noch Impulse für engagiertes Kollektivverhalten" liefern. Statt dessen wären sie "Emanationen einer einigermaßen reaktionären, nämlich irrationalistisch-spätbürgerlichen Ich-Besessenheit".

Nun weiß man natürlich nicht, auf welche Inszenierungen Rolf Schneider sich da bezieht. Meiner persönlichen Erfahrung entsprechend hat das Theater in den letzten Jahren aber eher dadurch an Kraft verloren, dass es viel zu viel Platz für eigene Notizen lässt. Der Ball wird immer wieder an die Zuschauer zurückgegeben und diese haben sich an dem abzuarbeiten, was sie bereits mitgebracht haben zu ihrem Sitz im Parkett. Ich-Besessenheit? Man könnte auch Leerstelle dazu sagen. Aber so ist es eben mit den Spiegeln: Sie werfen das Bild dessen zurück, der hineinschaut.

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Kommentare  
Ende des Regietheaters? Dank für Erwiderung
Dank an Petra Kohse für diese kluge Antwort und zutreffende Beschreibung des gesamten Dilemmas dieser überholten Debatte.
Ende des Regietheaters? Hintersinnige Antwort!
Oh ja, danke, endlich mal eine qualifizierte und kluge, hintersinnige Antwort auf all die unqualifizierten und/oder polemischen Äußerungen in der Debatte!
Ende des Regietheaters? Schneider ist ausgewogen
Text gelesen? Frage mich ernsthaft, ob hier jemand Schneiders Text gelesen hat. Der war jedenfalls sehr um Ausgewogenheit bemüht und wirft den herzlich unoriginellen Vorwurf der Spießigkeit auf die Autorin zurück. Nirgends fordert er ein "ganz ohne Kommentare und diskursive Anreicherungen" auskommendes Theater, wie unterstellt. Und "Kindkaisertum": genau darum geht es! Wer die zampanohafte Bräsigkeit der Castorfs etc. nicht ertragen kann, ist noch lange kein Reaktionär.
Schneider – die Keule "Spießbürger"
"Aber sich deswegen gleich die Rezitationskunst zurückzuwünschen, wie Schneider das tut"
Tut er das?
Es ist leider typisch, daß sofort mit der Keule "Spießbürger" geknüppelt wird.
Schade.
"ein... vielhundertköpfiger, staatsgeförderter Apparat"
Nicht-staatsgefördert wäre der "Apparat" längst kollabiert.
Rolf Schneiders Abschied vom Regietheater
Auch Dirk Pilz hat unlängst Grundsätzliches zur Debatte beigetragen:

"(...) Auffällig an diesen Debatten ist vor allem, wie viel in ihnen durcheinander geworfen wird. Text- und Werktreue, moralische und ästhetische Fragen. Nicht zufällig, denn alle diese Bereiche lassen sich nicht fein säuberlich trennen – in dem Ruf nach Werktreue schwingt immer auch die moralische Forderung nach Respekt vor dem Autor mit. Das Problem ist allerdings, wem der Gehorsam gelten soll: dem Werk oder dem Text? Eine heikle Angelegenheit, denn hier kommen jeweils sehr persönliche Erwartungen ans Theater ins Spiel.

Aber soviel lässt sich doch sagen: Text und Werk sind nicht identisch. Zum Text gehört, was von einem Autor geschrieben wurde, zum Werk auch die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte eines Textes. Die „Orestie“ ist für uns heute zwangsläufig ein anderer Text als zur Zeit der Uraufführung im antiken Griechenland. Heißt: Einen Text so zu lesen, wie der Autor ihn gemeint haben könnte, ist unmöglich; nicht, weil man in kein fremdes Hirn schauen kann, sondern weil jeder Text in einem konkreten historischen Zusammenhang steht. Heißt auch: Texttreue kann nicht bedeuten, die Absichten des Autors zu realisieren. Abgesehen davon, dass kein Autor einen literarischen Text schreiben würde, wüsste er genau, was er mit ihm beabsichtigt, sitzt Texttreue einer Illusion auf – der Illusion, dass es eine eigentliche, historisch unbehelligte Kernaussage gibt. Auf der Oberfläche bleiben Texte unverändert, ihr Verständnis ändert sich durch die Zeit. Eine Banalität im Grunde.

Sie birgt dennoch viel Sprengstoff, denn sie macht aus dem Text ein Werk, in den die Wirkungsgeschichte und unser zeitgenössischer Blick eingeht, etwas also, was sich letztlich nicht kontrollieren lässt. Ein Text ist daher immer offen: Wir lesen heute die „Orestie“ anders als die Griechen sie lesen konnten. Zum Glück, zeugt dies doch von der Lebendigkeit des Textes.

Von diesem Glück lebt das Theater. Jedes Theater, egal wie stark es eine Textvorlage bearbeitet. Denn jede textbasierte Inszenierung ist eine Interpretation dieses Textes. Von „Regietheater“ zu sprechen, macht so gesehen keinen Sinn: Es gibt kein Inszenieren, das nicht Regietheater, das keine Interpretation wäre. Nur das Verständnis des Interpretierens selbst hat sich gewandelt: Heutige Regisseure beharren stärker darauf, sich auf gleicher Augenhöhe wie die Autoren zu befinden; sie begreifen sich als Künstler. (...)"

(Aus: Interpretiert wird immer. Was eigentlich ist Werktreue im Theater? Anmerkung zu einem alten Streit. In: Märkische Allgemeine, 1.9.07)
Kindkaisertum des REGISSEURS
Ohne Worte wrote:
Es liegt ein gewisses Kindkaisertum in der Vorstellung, ein womöglich vielhundertköpfiger, staatsgeförderter Apparat sei allein dazu da, den Ideen einzelner Regisseure zur Wirksamkeit zu verhelfen und zwar so, wie diese es im Innersten gemeint haben.
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