Das Krokodil als Held

von Nikolaus Merck

Leipzig, 19. März 2006. Der Theaterregisseur Armin Petras ist ein Künstler mit politischer Absicht. Das Politische bei ihm ist das Menschenfreundliche. Petras, schreibt seine langjährige Leipziger Mitarbeiterin Carmen Wolfram, "geht es bei jedem Erzählen im Theater um die ‚Technik des Glücks’, darum, sich und anderen zu helfen, durch die Welt und das Leben zu kommen." Weil man solcher Ermutigung im depressiven östlichen Gebiet immer besonders bedarf, unterhält Petras seit vielen Jahren in der Leipziger Neuen Szene ein Kasperletheater. In dem Kasper und Seppl, auch das Krokodil, von lebendigen Schauspielern gespielt werden.

Links ist eine Tür, rechts ein Durchgang mit geblümtem Vorhang und hinten ein Prospekt mit namenloser Landschaft. Die Schauspieler fallen hint’über oder geraten anders außer sich. Um Missverständnissen vorzubeugen: das Kasperletheater ist der wahre Hort der Lebenskunst. Hier lernt der kleine Mensch zu unterscheiden zwischen böse und gut. Er lernt, dass noch der ausgefuchsteste Plan, das Krokodil zu erledigen, an Kleinigkeiten, also: den Umständen scheitern kann.

Horns Ende der DDR

Der Dichter Christoph Hein ist ein Spezialist für die Umstände. In seinem Roman Horns Ende erzählte er 1985 von Umständen, die zum Selbstmord des Museumsdirektors Horn führten. 1957 in einer östlichen  Kleinstadt. Wohin Horn abkommandiert wurde, weil er in Leipzig in Ungnade gefallen war, wegen unbotmäßiger humanistischer Umtriebe. Aber eigentlich erzählte Hein eine größere Geschichte. Wie der DDR-Sozialismus von allem Anfang an den Kern seines Scheiterns in sich trug. Was 1985 prophetisch war, denn der Sozialismus klappte ja erst 1989 zusammen.

Armin Petras hat jetzt Heins Buch auf sein Kasperletheater gebracht. Und witzigerweise das Krokodil zum Helden gemacht. Das Krokodil heißt Kruschkatz und ist Bürgermeister. Ronald Kukulies spielt ihn als teigigen Gesellen mit Marx-Büste auf und orangenem West-Drehsessel hinter dem Schreibtisch. Als einen, der sich moralisch-historischen Anstand leistet. Weshalb er sich anfangs weigert, die Zigeuner aus der Stadt zu weisen, weil die gerade erst der Vernichtung in Nazi-Lagern entkommen waren. Bei Hein wird das angedeutet, bei Petras ausgesprochen.

Gutes Krokodil in der Zwickmühle

Aber der menschenfreundliche Kruschkatz sitzt in der Zwickmühle. Sein Stellvertreter Bachofen (Andreas Haase), ein Dogmatiker, der schon einmal auf den blauen und braunen Bänden der sozialistischen Klassiker wie auf Kothurnen einher schreitet, will ihn wegen ideologischer Laxheit abschießen. Auf der andern Seite: die Kleinstädter, die ihren Bürgermeister als Abgesandten einer feindlichen Macht behandeln.

Hier liebt man, pudert sich in froher Erwartung die Nase mit Mehl, knallt auch einmal wie der resignierte Arzt Spodeck (Berndt Stübner) seine Geliebte (Anja Schneider) gegen die Wand, aber für höhere Ziele interessiert sich keiner. Mehr noch gegen den Bürgermeister hält man zusammen, wie gegen die Zigeuner oder andere Außenseiter, die geistig behinderte Marlene (Susanne Buchenberger) etwa, die die Nazi-Zeit bloß überlebte, weil ihre Mutter für sie ins Gas ging. Und wen kümmert’s jetzt, wer die hilflose Marlene im Wald vergewaltigt hat?

Verständlich, dass Kruschkatz an dieser bösartigen Borniertheit schier verzweifelt. Entnervt zitiert er kryptische Überschriften des Parteiblatts Neues Deutschland und schreit: "Erklär mir das!" Oder rammt sich beim Doktor ungeduldig eine Spritze in den Schenkel. Und kippt um. Während der Doktor nicht einmal die Hand aus dem Mülleimer nimmt, wenn er Kruschkatz zwischen die Beine fasst, was diagnostisch offenbar ausreicht, um dem Hilfesuchenden einen baldigen Herzinfarkt anzukündigen.

Horn im Keller

Das sind Weisen, mit denen Petras sein Kasperletheater in Gang hält. Die Leiche im Bürgermeister-Keller heißt Horn. Den hatte Kruschkatz in Leipzig den hardlinern zum Fraße vorgeworfen und begegnet ihm jetzt überraschend in seinem Städtchen wieder.

Bei Petras trägt Horn naturgemäß eine Horn-Brille, dazu gewaltigen Hass auf Kruschkatz in der Seele. Doch so unfroh Robert Kuchenbuch in seinem braunen Gewand erscheint, so farb- und konturlos bleibt er auch als Gegenspieler der Staatsmacht. Ein Erbsenzähler, dem sein Museum, eine Handvoll wendischer Scherben auf dem Beistelltisch, mehr bedeutet, als die lebendigen Menschen, die sich aus unerklärlichen Gründen alsbald um ihn scharen.

Endgültig in Verschiss gerät Horn bei Petras, wenn er, wie alle anderen Bewohner des Kasperletheaters, mit der eigenen Unterschrift seine abermalige Entfernung aus dem Staatsdienst wegen humanistischer Gesinnung fordert.

Christoph Heins idealistische Ammenmärchen

In einem Gespräch mit Elisabeth Schweeger vom koproduzierenden Schauspiel Frankfurt erklärt Christoph Hein, die sozialistischen Staaten seien "aus den Träumen der Arbeiterbewegung, den Freiheits- und Gerechtigkeitsgedanken" heraus gegründet worden. Und als es darum ging, diese Träume zu verteidigen, sei dies leider mit stalinistischen Methoden geschehen, sprich: mit Terror, "was jede der Gründerideen und letztlich sie selbst zerstörte." Nun, darüber ließe sich streiten.

Armin Petras jedenfalls inszeniert genau diese These. Gute Absichten, schlechte, den Umständen geschuldete Methoden. Und wie immer in Petras’ Theater werden Konflikte privatisiert. Denn Kruschkatz ist auch ein wahrhaft Liebender. Seine mondäne Frau Irene (Ellen Hellwig) trägt er auf Händen. Erst, wenn sie ihn wegen Horn verlässt, verkommt Kruschkatz zum widerspruchslosen Vollstrecker sozialistischer Staatsgewalt.

Am Ende lässt Petras die Schauspieler die fünziger Jahre-Dekoration zu einem Stapel mit ein paar Leichen aufhäufen. Benjamins Trümmerhaufen der Geschichte. Aber in Wirklichkeit: nur die Trümmer eines Kasperletheaters, in dem gute oppositionelle Absichten, wegen geistiger Unklarheit zu Schanden gingen.

(leicht gekürzte Fassung der Kritik aus der Frankfurter Rundschau vom 21.3.2006)

 

Horns Ende
von Christoph Hein, bearbeitet für die Bühne von Armin Petras
Regie: Armin Petras, Bühne: Kathrin Frosch, Kostüme: Annette Riedel. Mit: Berndt Stübner, Anja Schneider, Aleksandar Radenkovic, Bettina Riebesel, Robert Kuchenbuch, Andreas Haase, Susanne Buchenberger, Ronald Kukulies, Ellen Hellwig.

Leipziger Premiere: 19.3.2006
Frankfurter Premiere: 7.4.2006
Berliner Premiere: 23.11.2007

www.schauspiel-leipzig.de
www.schauspielfrankfurt.de
www.gorki.de

 

 

Kritikenrundschau

Peter Hans Göpfert weiß nach der Berliner Premiere in der Berliner Morgenpost (26.11.2007) zunächst zu berichten, dass Armin Petras "ein begeisterter Leser und Recycler der Romane von Christoph Hein" sei. Den "erzählerischen Charakter" der Romanvorlage könne Petras diesmal aber "nicht ganz aufheben". Die Inszenierung versuche dagegen, "mit Überzeichnungen und gelegentlichen Karikierungen Spielmaterial zu gewinnen". Ein Verfahren, das "auf Kosten einzelner Figuren" gehe. Dafür gehe es lustig auf der Bühne zu. "Wenn aber Heins Roman etwas fremd ist, so ist es jeder Anflug von Lustigkeit", merkt Herr Göpfert dazu an. "Das Ergebnis ist ein unterhaltsam solides, durchweg kräftig gespieltes Heimat- und Provinzstück. Mehr nicht."

Nach der Leipziger Premiere im März 2006 schrieb Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (24.3.2006): "Wenn der Regisseur Armin Petras sich eines historischen Stoffes annimmt, darf man einen deutlichen Bezug zu unserer Zeit erwarten." Mit dieser Inszenierung gelinge ihm die "Kontaktaufnahme mit der Gegenwart" aber nicht: "Wenn am Schluss die DDR-Requisiten zu einem Stillleben arrangiert werden, bekommt man noch einmal deutlich vor Augen geführt, dass man die ganze Zeit in einem Ostmuseum oder in einem Konsumgüter-Ramschladen gesessen hat."  Man habe "nicht wenig Lust, Benzin über den von der Bühnenbildnerin Kathrin Frosch zusammengetragenen Erinnerungsplunder zu gießen und ein Streichholz daran zu halten". Nur für die Figur der Marlene finde Petras "einen eigenen Zugriff". Ansonsten beschränke er sich "aufs Kürzen des Textes und auf das Zurechtfummeln der Erinnerungsmonologe zu Scheingesprächen".

Für den Berliner Tagesspiegel (22.3.2006) war seinerzeit Christoph Funke nach Leipzig gereist, um zu vermelden: "Sorgsam folgt Petras den monologischen Erinnerungsberichten, bis zum radikalen Kehraus, der eine Spur von Hoffnung birgt – wenn alles abgefahren, vernichtet ist, mag ein neuer Anfang möglich sein." Petras mische den "kleinstädtischen Alltag ungeniert auf, mit Pantomime, Slapstick, clownesken Frechheiten, mit Tanz und Gesang. Hinter jeder Handlung steckt Verdruckstes, Verschämtes, Verstecktes, das Verlangen nach Öffentlichkeit und die Scheu vor ihr durchkreuzen sich". Wie der Roman erzähle so auch "die Theaterfassung eine in viele Stücke zerrissene Geschichte, frei in den zeitlichen Abläufen". Die Inszenierung dränge damit "auf Nachdenken über Geschichte, über Vergangenheit in Deutschland".

Nach der Leipziger Premiere zog die Inszenierung nach Frankfurt am Main, wo sie am 7. April 2006 mit einer an "Horns Ende" gekoppelten Adaption des Hein-Romans von 2005, "In seiner frühen Kindheit ein Garten", zu einem Doppel-Hein-Projekt wurde. Beide Theaterfassungen verfasste und inszenierte – Armin Petras, natürlich. Und in der taz (11.4.2006) begriff Kristin Becker damals den "Horns Ende"- Teil als ein "kleinstädtisches Panoptikum gescheiterter Träume, in dem die Fehltritte und Lebenslügen der unterschiedlichen Figuren als groteske Revue zur Popmusik der späten DDR vorbeiziehen". Allerdings schramme die Angelegenheit "nur knapp an einer Seifenoper" vorbei.

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