Befreie den inneren Idioten!

von Beat Mazenauer

Luzern, 25. August 2012. Die Idioten sind immer die andern, glauben wir, frei nach Sartre, (meist) zu wissen. Wie wäre das Leben schön, wenn nur all diese Idioten nicht wären! Daraus hat Lars von Trier 1998 ein Experiment entwickelt, das die vermeintliche Normalität durch eine Gruppe von idiotischen Provokateuren in Frage stellt. Um den Ideologen Stoffer versammelt, drehen sie den Spieß um und geben sich lustvoll selbst als Idioten aus. Indem sie so peinliche Szenen kreieren, halten sie der Gesellschaft nicht nur die Idiotie vor, sie möchten zugleich den eigenen "inneren Idioten" in sich befreien. Allerdings gehen auch sie, neben diesem Spiel, einem bürgerlichen Leben nach. Der Spagat ist nicht leicht auszuhalten.

Ein Luxus ein Idiot zu sein

Diese Spielanlage ist prädestiniert für ein lustvolles Bühnenspektakel, das die ganze Palette vitaler Aktionen erlaubt. So wird in der Aufführung auf der Kleinen Bühne des Luzerner Theaters wacker getobt, gestöhnt, gepinkelt, gesaut und herumgerannt. Das Ensemble legt sich spastische oder nuschelnde Ticks zu, mit denen es beispielsweise einen Kellner, einen Werksleiter oder Stoffers Onkel Svende verwirrt.

"Epater les bourgeois" nannten es die Bohémiens des 19. Jahrhunderts, die Bürger piesackten. Das ist auch schwere Arbeit, denn sobald die Gruppe jeweils aus ihren Rollen fällt, wird harte Manöverkritik geübt. Stoffer (Hajo Tuschy) fordert seinen Getreuen alles ab, vor allem, wenn er ins Dozieren kommt. "Heute ist es ein Luxus, Idiot zu sein", hält er den andern vor. Trotz der vielen Worte bleibt seine Idee freilich schillernd, widersprüchlich, unausgegoren.

Idioten1 560 IngoHoehn x"Idioten" in Luzern:  Marie Ulbricht, Christian Baus, Hajo Tuschy, Nicolas Batthyany, Samuel Zumbühl, Juliane Lang.  © Ingo Hoehn

Regisseur Krzysztof Minkowski lässt die Schauspieler ihre wilden Emotionen auf der karg eingerichteten Bühne ausleben. Dabei lassen sie auch die Hüllen fallen für ein tumbes Badeballett, das in die Prozession einer Schar fröhlicher Idioten mündet. In Zeitlupe paradieren sie lachend und feixend vor den Zuschauern und wirken dabei echt wie aus dem TV.

Verwirrend

Das achtköpfige Ensemble agiert meist als geschlossene Gruppe und integriert nahtlos, ohne Kostümwechsel, auch die Rollen der auftretenden Normalos. Alle Grenzen verfließen. Genau das aber ist nicht ohne Tücke. Die Rollenwechsel sind nicht immer leicht nachvollziehbar, wenn beispielsweise Stoffel den sich doof stellenden Jeppe (Samuel Zumbühl) in eine Kneipe mitschleppt und ihn den Gästen für ihre Spässe überlässt. Für die Kneipe steht jedoch exakt derselbe Tisch, an dem eben noch die ganze Gruppe zusammensass. In einem solchen Moment wirkt die Szene nicht präzise auf den Punkt gespielt, sondern hinterlässt Verwirrrung. Der abrupte Wandel von gaga zu normal aber ist ein Kernstück dieses Stücks. Die normalen Konflikte, etwa wenn der verheiratete Axel (Nicolas Batthyani) mit der Katrine (Juliane Lang) zankt, überlagern das Idiotenspiel und wirken in ihrer Normalität erst recht idiotisch. Ja, worin steckt denn eigentlich die Idiotie? In den schönsten Faxen, die Lars (Jürg Wisbach) zu machen versteht, oder darin, dass Katrines Vater (Christian Baus) mit einem Narrenhütchen auf dem Kopf seine Tochter in allem Ernst heimholen will?

Sowohl Lars von Trier wie Krzysztof Minkowski machen es uns nicht leicht, dahinter zu kommen. Das Gerede vom Idioten als Gegenentwurf zum reibungslosen Alltag greift auf alle Fälle zu kurz.

Einbruch ins Spiel

Doch dann, mitten im Stück, sackt die tobende Energie des Stücks auf einmal in sich zusammen. Eine neue Figur betritt die Bühne: der behinderte Junge Nils (Max Scheitlin), ein "echter Idiot" – mit dem sich auf einmal nicht mehr spielen lässt. Die sonst so resolute Susanne (Marie Ulbricht) wird auf einmal fürsorglich und echt. Die andern tun es ihr nach. Das Schauspiel verwandelt sich in eine intime, ungekünstelte Szene. Nils ist wie er ist, er spielt nicht und kann es auch nicht. Dieser Bruch verleiht dem theatralischen "Diskurs" über die Idiotie eine faszinierende Wendung.

Mag auch einiges in diesem Stück inkonsistent, ja paradox anmuten, durch diese Kernszene wird erahnbar, was ohne sie nur bemüht spasshaft sein würde: Die Idiotie ist ein normaler Zustand, nicht nur bei den andern.

Am Ende erhält dann auch die bislang ruhige, um Anstand bemühte Karen (Marie Gesien) ihren großen Auftritt. Während die Gruppe auseinanderfällt, weil niemand willens ist, das idiotische Spiel wirklich durchzuziehen, wie Stoffer fordert, fällt sie aus ihrer gesitteten Rolle, um die von ihr geliebte Gemeinschaft nicht zu verlieren. Idiotisch – wie dieses Schauspiel als Ganzes, und in vielerlei Hinsicht.

 

Idioten
Schauspiel nach dem Film von Lars von Trier. Schweizer Erstaufführung.
Regie: Krzysztof Minkowski, Dramaturgie: Carolin Losch, Bühne und Kostüme: Konrad Schaller.
Mit: Marie Gesien, Juliane Lang, Marie Ulbricht, Christian Baus, Nicolas Batthyany, Hajo Tuschy, Jürg Wisbach, Samuel Zumbühl.

www.luzernertheater.ch

 

Kritikenrundschau

Mit wenig Euphorie nimmt ein mit "sda" kürzelner Rezensent in der Luzerner Zeitung (27.8.2012) die Eröffnungsinszenierung auf. Krzysztof Minkowski inszeniere mit wenig Versatzstücken, heißt es. "Im breiten Bühnenbild zentral ist ein Esstisch mit acht Gedecken; er gemahnt wohl nicht zufällig an das letzte Abendmahl. Die 'Idioten' geben das Erlebte wieder, indem einige die Rollen von Aussenstehenden - Kellner, Werksleiter, Rocker etwa - annehmen. Die Rahmenhandlung in der Wohngemeinschaft und Episoden von ausserhalb gehen fliessend ineinander über. Da die Rollenwechsel kaum markiert werden – etwa durch Verkleidung – ist das mitunter etwas verwirrend." Störend findet der Kritiker, dass man als "Publikum" immer wieder direkt und intim angegangen werde: "Die acht Darsteller nehmen Einzelne der etwa 60 Zuschauer gezielt ins Visier, versuchen ihnen Basteleien zu verkaufen oder simulieren in direktem Blickkontakt Orgasmen. Vielmehr als ungemütlich ist das freilich nicht."

"Nicht erst, wenn beim 'Rudelbumsen' (...) die Schauspieler frontal vor das Publikum stehen und mit Wort und Stimme Triebentladung simulieren, rücken die 'Idioten' den Zuschauern nah an die Haut", schreibt Urs Bugmann in der Neuen Luzerner Zeitung. Zwar gelängen die Rollenwechsel nicht immer bruchlos, aber die Schauspieler gäben sich mit rücksichtsloser Direktheit, mit einer Realistik ins Spiel, die quälend werden könne.

 

 

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