Presseschau vom 5. September 2012 – Elfriede Jelinek über Pussy Riot in der russischen Zeitung "The New Times"

Ein andrer Tanz

Ein andrer Tanz

5. September 2012. "Diese drei jungen Frauen, die Pussy Riot, haben in einer Kirche gesungen, das gehört sich dort so, und sie haben wild getanzt, eine Art Veitstanz, eben wie es sich gehört, wenn in einem Staat, der auf dem Weg in die Totalität ist, Menschen sich etwas herausnehmen müssen, um gehört zu werden, was schwierig ist, denn alle Schubladen sind schon zugesperrt, die Tür ist verrammelt, da muß man fest dagegentreten, damit man sich seinen Raum, dieses Offene, in dem man sprechen, singen, tanzen darf, nein: muß, freischaufeln kann, damit man vernommen (und nicht: einvernommen) werden kann", schreibt Elfriede Jelinek in einem bereits am 27. August in der russischen Zeitung "The New Times", die als Stimme der Opposition gilt, erschienenen Text – hier die russische Übersetzung und hier das deutsche Original auf Jelineks Webseite.

Man könne ja noch nicht einmal sagen, daß das ein legitimer Protest war und das Recht auf Protest ein Menschenrecht, denn der Protest, jeder Protest, der sich gegen die Gefährdung von Grundrechten richtet, sei Pflicht, nicht Recht, so Jelinek weiter. "Die jungen Frauen mußten tanzen, singen, schreien, es blieb ihnen gar keine andre Wahl. Es blieb ihnen nichts übrig, damit von ihnen, von allen, etwas übrigbleiben kann." Der gefährliche Punkt sei dann erreicht, "wenn innerhalb des Systems keine Propaganda mehr nötig ist, weil alles gleichgeschaltet wurde."

Sie habe "das alles" so hingeschrieben, bevor die Frauen verurteilt worden waren. Sie habe sich nicht vorstellen können, dass es tatsächlich zu einer Verurteilung kommen würde. "Es war undenkbar für mich." Da "der gütige Zar Putin" öffentlich erklärt hätte, er wäre auch mit einer milden Strafe zufrieden (...), "habe ich diesen Text damals, zu Beginn des Prozesses, nicht veröffentlicht, um den drei Frauen nicht zu schaden." Jetzt sei ihnen geschadet worden. "Jetzt kann wenigstens ich ihnen nicht mehr schaden (und leider auch nicht mehr helfen). Ich kann das nur schreiben. Ich darf das."

Die Inhaftierung der drei jungen Frauen bedeute "eine Art Zeitknoten". "Noch kann das Land zurück auf den Boden des Rechts, das immer erkämpft werden muß, ja, auch durch Singen, Zucken, Tanzen, Schreien, egal, durch alles, was gesehen und gehört werden kann." Aber wenn die drei Pussy Riot wirklich eingesperrt würden, dann sperre sich Rußland selber ein. "Dann ist der Tanzboden, egal, wo er sich befindet – er darf sich überall befinden, er soll sogar! – geschlossen."

Und dann fange ein andrer Tanz an, der ihr jetzt schon entsetzliche Angst mache, schreibt Jelinek. "Keiner kann dann sagen, er hätte es nicht gewußt. Denn was einmal war, das muß für immer gewußt werden. Und das Einmal, das hatten wir schon. Und mehr als einmal."

(sd)

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