Gut gegoogelt

von Christian Rakow

Berlin, 8. September 2012. Oh, Mann, ey, wenn's doch nur ewig so sein könnte. Alle noch so jung, im Hobbyprobenkeller, die Wände mit irren Brainstorming-Skizzen voll gekritzelt, Rotweinflaschen auf einem langen Kreativdenkertisch. Dort am Drum-Computer trommelt Katrine (Eva Meckbach), und Billing (Moritz Gottwald) schrubbt die E-Gitarre. Hovstad (Christoph Gawenda) kitzelt Sounds aus seinem Laptop und Thomas (Stefan Stern) schwelgt am Mikro in David-Bowie-Tunes: "Time may change me". Und ja, die Zeit wird zupacken.

Fuck, ey – um im Ton des Stückes zu bleiben –, what became of the likely lads? Schon bald ist da nichts mehr zu sehen von dieser trauten Indie-Rockercombo aus dem ersten Akt dieses Abends. Etwas ist ihnen dazwischen gekommen. Und nicht etwa das Baby von Katrin und Thomas, das nebenan hin und wieder zu schreien anfängt. Nein, Henrik Ibsen hat zugeschlagen, mit "Ein Volksfeind" (in einer legeren Modernisierung, die Dramaturg Florian Borchmeyer dem Drama von 1882 abgewonnen hat).

Windbeutelweicher Pragmatismus
Ibsen setzt in seinem Stück einen klaren Schnitt: Auf die eine Seite bringt er Thomas alias Kurarzt Dr. Stockmann, der die Verunreinigung des Wassers im örtlichen Heilbad aufdeckt und gegen alle Widerstände bereit ist, seine Erkenntnisse in der Öffentlichkeit zu verfechten. Tochter Petra und Frau Katrine (bei Borchmeyer in einer Person verschmolzen) stärken ihm dabei den Rücken. Auf die andere Seite rücken diejenigen, die vor allem ihren, nun ja, Arsch an die Wand kriegen wollen: eben Billing und Hovstad. Sie verantworten gemeinsam mit dem Verleger Aslaksen (David Ruland) das lokale Zeitungsblatt, in dem Thomas seine Wasseranalysen publizieren will. Aber sobald die Politik in Person des Stadtrats Peter Stockmann, Thomas' Bruder, die Konsequenzen der Bäderschließung vorzurechnen beginnt (Krise, Depression, Steuererhöhung) und ergo die jüngst begonnene Publizistenkarriere zu knicken droht (Leserschwund, Anzeigenkürzungen, Kündigung), schlagen sie dem Ritter vom Wissenschaftsgeiste Thomas die Tür zu.

volksfeind1 560 arnodeclair.u"Ein Volksfeind", hier im Hintergrund – im Vordergrund ein vermeintlicher Volksfreund, Stadtrat Peter Stockmann (Ingo Hülsmann) © Arno Declair

Es ist wahrscheinlich ehrlich, dass in Thomas Ostermeiers Inszenierung des "Volksfeind", die nach ihrer Premiere in Avignon nun daheim an der Berliner Schaubühne angekommen ist, der Schwenk der Möchtegernrebellen Hovstad und Billing in den windbeutelweichen Pragmatismus am elegantesten gelingt. Ein Atemstocken, ein betont lang ausgehaltenes Stirnrunzeln des fabulös selbstironischen Moritz Gottwald und Billings Ticket ins Establishment ist gelöst. Wer wollte wohl auch widerstehen, wenn Ingo Hülsmann als Stadtrat Peter Stockmann mit dem öligen Charme eines Hinterzimmerstrategen einem den Pfad in die Realpolitik pflastert.

Aufstandsemphase ohne Grund
Nun will aber Ostermeier in seinem linksintellektuellen Garagen-Setting (von Bühnenbildner Jan Pappelbaum) nicht nur von der Verbürgerlichung der Gegenkultur hin zum Lebensstil der bourgeoisen Bohémians, der Bobos, erzählen. Vielmehr geht es auch – dazu nötigt ihn gewissermaßen die Stückvorlage – um eine Durchbruchsfantasie. Mit dem Wahrheitskämpfer Thomas kommt zunehmend ein fundamentalistisches Pathos zu Gehör: gegen die liberale Konsenskultur, gegen das lobbyistische Schachern, gegen die Macht der stumpfen demokratischen Mehrheit. Im legendären vierten Akt des Stückes, wenn Thomas bei einer öffentlichen Anhörung seinen Zorn der kenntnislosen, pöbelnden Menge auf die Stirn hämmert, mischt Ostermeier das Manifest "Der kommende Aufstand" (vom "unsichtbaren Komitee") in dessen Philippika. Es ist die aktuell bissigste Polemik gegen das plurale, ökonomisch überhitzte Ich im späten Konsumkapitalismus.

Nur leider steckt in der übrigen Inszenierung so gar nichts, das diese Aufstandsemphase gründet. Stefan Stern, dieser oft so nervenfeurige Spieler, gibt seinen Thomas wie ein E-Gitarrist, dem der Verstärker abgestöpselt wurde, wacker im Durchhaltewillen, aber verloren. Mit Zeitlupentempo schluckt er im Bruderzwist die bitteren Politpillen des Stadtrats Peter. Granitschwer von Begriff. Seinen Doktor in Medizin dürfte dieser Thomas im Losverfahren gewonnen haben. Und seine zeitkritische Rede zum "kommenden Aufstand"? Sie mag ihm beim allmorgendlichen stundenlangen Googlen untergekommen sein.

Wedeln mit der Möchtegernrute
Dass diese Figur so mickerig ausfällt, hat inszenatorische Gründe. Ostermeier kommt sich mit seiner Milieu-Analyse vulgo seinem Berlin-Mitte-Bashing auf der einen Seite und der Reflexion politischer Willensbildung auf der anderen in die Quere. Im Dienste der Satire lässt er alles Bekenntnishafte und Unverrückliche, aus dem Thomas Stockmanns Geschichte ihre Brisanz entwickelt, fahren. Ein uneigentlicher Ton prägt die Auseinandersetzungen. Hülsmann und Ruland belächeln genüsslich ihren ausgestellten Parlamentariersprech. Die Indie-Riege um Billing, Hovstad und Thomas findet in lauter Tiefenentspanntheit ganz zu sich mit Dialogen der Preisklasse "Wie geht's?" – "Danke, geht so." Eine Heiterkeit durchweht diesen Abend, von der man nicht einmal sagen kann, ob sie an jedem Punkt bewusst hervorgerufen wird oder doch unfreiwillig eintritt.

Jedenfalls kommt aus diesem Milieu definitiv kein Aufstand, nicht von Thomas Stockmann, und nicht von irgendwem. Die Verve, die Ostermeier dem vierten Akt beilegt, wenn er das Saallicht aufreißt und Schauspieler aus dem Publikum heraus für kontroverse Stimmung sorgen lässt, ist allenfalls ein Wedeln mit der Möchtegernrute. "Es ist inzwischen sogar eine verbreitete Strategie, diese Gesellschaft zu kritisieren – gerne auch im Theater – in der vergeblichen Hoffnung, diese Zivilisation zu retten", wird die Kampfschrift des "unsichtbaren Komitees" zitiert. Anders gesagt: Solche Theaterkritik ist billig, talk is cheap.

Ein Volksfeind
von Henrik Ibsen
Bearbeitung von Florian Borchmeyer
Regie: Thomas Ostermeier, Bühne: Jan Pappelbaum, Kostüme: Nina Wetzel, Musik: Malte Beckenbach, Daniel Freitag, Dramaturgie: Florian Borchmeyer, Licht: Erich Schneider, Wandzeichnungen: Katharina Ziemke.
Mit: Stefan Stern, Ingo Hülsmann, Eva Meckbach, Christoph Gawenda, David Ruland, Moritz Gottwald, Thomas Bading.
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.schaubuehne.de


Ein Volksfeind war auch zum Theatertreffen 2012 eingeladen – inszeniert von Lukas Langhoff am Theater Bonn. Hier die Nachtkritik vom Theatertreffengastspiel.


Kritikenrundschau

Eine "Schlussstrich-Inszenierung, die vom Gestus des So-nicht-weiter lebt", hat Dirk Pilz für die Berliner Zeitung (10.9.2012) in der Schaubühne gesehen. Das Setting erinnert den Kritiker an frühere erfolgreiche Ibsen-Arbeiten von Ostermeier ("Nora" und "Hedda Gabler"), die im Wesentlichen "feinstens konsumierbare Bestandsaufnahmen" der Berlin-Mitte-Bohème gewesen seien. Auch hier gebe es "Figuren: fluffig aufgehängt zwischen Stereotypenkomödie und Rebellionspathetik. Die Dramaturgie: heruntergedimmt ins Privatdramatische, Konfliktklapprige. Das Gesamtsetting: die knisternde Spannung eines Küchenkammerspiels." Schauspielerisch sei diese Inszenierung "auf der Höhe dessen, was die Schaubühne zu bieten hat. Alles frisch und flott. Toll auch die Bandprobenpopmusik, live und luftig." Aber anders als in früheren Abenden führe hier alles über die Bestandsaufnahme hinaus, mitten hinein in den zeitgenössischen Konflikt: "Recht gegen Macht, Gesundheit gegen Geld, Wahrheit gegen Wirtschaft." Ostermeier "meint es ernst, man sieht es in der Schlussszene an Feinheiten, am plötzlichen Temperaturwechsel der Gesten und Blicke." Gesellschaftspolitisch gelesen, sei dieser Abend mithin "ein Anfang: der Abschied von der bequemen Bescheidwisserei."

Ostermeier präsentiere den "Berlin-Mitte-Zoo" und nutze das Drama "erst einmal dazu, sich über die hilflose Selbstgefälligkeit, den narzisstischen Habitus der digitalen Bohème lustig zu machen. Biedermeier-Milieubashing am Puls der Zeit!", schreibt Andreas Schäfer für den Tagesspiegel (10.9.2012). "Abgesehen von dem übergehängten Modejargon wird die Geschichte in solider Boulevardmanier runtergespielt." Offen aber bleibt für den Kritiker, welche Rolle diese Repräsentationskunst einnimmt: Möglicherweise, fragt Schäfer, mache "sich Ostermeier gar nicht lustig, sondern zelebriert das Lebensgefühl, das er angeblich vorführen will, in Wirklichkeit selbst?" Schließlich tourten Ostermeiers Arbeiten auch international und dort könne der Regisseur "als erster Theaterrepräsentant Berlins" mit "der vermeintlichen Hipness unserer kleinen Stadt natürlich selbst Distinktionspunkte sammeln".

Eine "über lange Zeit spannende Inszenierung" hat Katrin Bettina Müller für die taz (10.9.2012) erlebt. Besonders der musikalische Einstieg sei "atmosphärisch ein gelungener Auftakt, melancholisch und warmherzig – aber warum dann diese Freundschaft so schnell dem Opportunismus weicht, wird nicht mit der gleichen Intensität erzählt." Die größte Regieleistung liege in der "Übermalung", wenn Stockmanns Rede durch das Manifest "Der Kommende Aufstand" verheutigt wird. "So einleuchtend der Text szenisch mit dem Drama verflochten ist, so sehr sich auch die Emotionen des ins Unrecht gesetzten Badearztes und der Manifestautoren verbinden, inhaltlich ist dieser Link auch Augenwischerei. Denn der flammende Text ist in seiner Kritik am Individualismus und gezüchteten Egoismus zugleich auch vage, die Sprecherposition brüchig, nur ihr Pathos ungebrochen." In der Agitation des Publikums durch die Schauspieler "verliert sich die Zielgenauigkeit, Radikalität scheint auf, aber als ungefähres Irgendwie." Anschließend, "als die Inszenierung dann doch zum Drama zurückkehrt und seinen letzten Volten, ist man der vielen Worte müde und nicht mehr so interessiert an den nächsten dreckigen Machenschaften."

Bereits in Avignon sah Johannes Wetzel für die Welt (20.7.2012) die Arbeit und jubelte: "Es ist ein besonderer Glücksfall im Theater, wenn in einer brillanten Inszenierung der richtige Text am richtigen Ort zur richtigen Zeit und vor dem richtigen Publikum aufgeführt wird." Die junge Besetzung des Abends stehe "für die Generation von 'Occupy Wall Street' und 'Empört euch!', die Generation Twitter." Diese Generation stelle sich jetzt der Frage nach "Ökonomie und Wahrheit". Und um ebendiese Frage kreise auch Ostermeiers Abend. Eingehend widmet sich der Kritiker den öffentlichen Auseinandersetzungen um die politische Willensbildung im vierten Akt. "Man spürt Ostermeiers Sympathie für Stockmann, gemischt mit der Sorge, dass die Angriffe auf die Fehlentwicklungen der Demokratie die Demokratie selbst gefährden."

In Avignon war "mit der Erleichterung über das Ende der Sarkozy-Regierung eine große Debattierfreude über das französische Premierenpublikum gekommen, die aus einer ordentlichen, aber etwas konzeptionell langweiligen Inszenierung urplötzlich ein Demokratieexperiment machte", berichtet Eberhard Spreng für die Sendung "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (9.9.2012). Eben diese Debattierfreude wollte an gleicher Stelle an der Schaubühne (im interaktiven vierten Akt der Inszenierung) nicht aufkommen. In "Berlin schwieg das urbane Premierenpublikum, das sich nur noch müde und abstrakt an das Theater als politischer Anstalt erinnern kann." Aber, so schließt der Kritiker: "Vielleicht muss Ostermeier aber für seine Demokratiedebatte einfach nur ein normales Berliner Publikum abwarten, eines ohne Kritiker und Kulturbetriebsroutiniers." Eine längere Beschreibung der Inszenierung gab Eberhard Spreng in seinem Bericht aus Avignon, ebenfalls für den Deutschlandfunk (19.7.2012).

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