Occupy the sky

von Kai Bremer

Münster, 22. September 2012. Wie wir schon berichtet haben (hier und hier), hat in Münster nicht das Theater, sondern die Stadtleitung den Spielzeitauftakt bestimmt. Nämlich mit einer Groteske, mit der schon andere Kommunen über die Stadtgrenzen hinweg Schlagzeilen gemacht haben, indem eine fette Kürzungsdebatte losgetreten wurde. Besonders perfide an diesem Akt ist, dass er mitten in die Vorbereitungen fiel. Die Frage zum Auftakt war nun, ob sich die Theaterarbeit von diesem Handstreich beeindruckt zeigt. Gegeben wurden im Schauspiel am Freitag Alexi Kaye Campbells in England und Australien erfolgreiches Stück "Apologia" als deutschsprachige Erstaufführung und gestern Schillers "Räuber". Zweimal der Blick in die Abgründe der Familie – nicht gerade das, was zumindest andere Theater unter "Gegenwart" verstehen.

Den "Apologia" eigenen Witz hat Regisseurin Petra Luisa Meyer genutzt, um gleich richtig loszukrachen. Kristin (Regine Andratschke) will für ihre Gäste, die sie zu ihrem Geburtstag besuchen, ein erbärmlich labberiges Hühnchen in die Röhre schieben. Nur wird der Ofen nicht heiß, was die Gute dazu bringt, wutentbrannt mit dem Tier in der Luft herumzufuchteln. Und während sie sich mit dem Paketband abkämpft, das um das Geschenk ihres Sohnes Peter (Aurel Bereuter) und seiner Verlobten Trudi (Lilly Gropper) geklebt ist, hat diese nicht Besseres zu tun, als aufgeregt herum zu quietschen. Humor für Grobmotoriker. Gleichzeitig wird schnell klar, dass dem bloßen Klamauk eine zweite Ebene beigegeben wird. Kristin, erfolgreiche Kunsthistorikern und politisch engagierte Humanistin seit den späten 60ern, hat ihre Memoiren geschrieben – "Apologia" betitelt (eine Verteidigung, keine Entschuldigung, wie sie betont). Darin werden ihre Söhne (neben dem erfolgreichen Geschäftmann Peter der gescheiterte Simon) nicht ein einziges Mal erwähnt. Zwar kamen sie früh zum Vater und haben die Mutter meist nur in den Ferien gesehen. Gleichwohl sind sie mehr als verletzt.

Selbst Geschichte werden
Andratschke gibt eine Kristin, der man abnimmt, dass sie sich mit ihrer beherrschten wie beherrschenden Stimme in der akademischen Männerwelt durchzusetzen vermochte. Dass sie dabei mit perfektem Make-up sowie geschmackvoll gekleidet zu ihrer Weiblichkeit steht und gleichzeitig für die Emanzipation kämpft und gekämpft hat, ist ein überzeugendes Detail des Abends. Das gilt ebenso für die Bühne (Wiebke Horn), die Kristins Haus darstellt. Links die leicht gebeugte, verwaschen konturierte Gudrun Ensslin Gerhard Richters, rechts über dem Klo ein vierfacher, warhol-mäßiger Marx. Auch Kristin selbst ist in ihrem Haus Objekt geworden: Die zwei Regalreihen um den halbrunden Küchentresen sind aufgefüllt mit Exemplaren ihrer "Apologia". Dieses Selbst-Geschichte-Werden und gleichzeitig in der Gefühlswelt anderer ganz anders präsent sein, macht den Kern von Campells Stück aus.

apologia 560 MarionBuehrle uEine Frau und ihre Biografie: "Apologia" © Marion Bührle

Meyer hat sich entschieden, sich dabei auf die Frage zu konzentrieren, warum Kristin sich vom Vater ihrer Söhne emanzipiert hat. Sie löst das, indem sie zwischen der öffentlichen und der ganz sie selbst seienden Kristin unterscheidet, indem Andratschke in den wenigen intimen Momenten die Sonnebrille hebt. Diese platte Psycho-Symbolik gepaart mit krachender Komik reduziert Campbells akkurates Kammerspiel, bietet aber immerhin gute Unterhaltung. Von der Kürzungsdebatte gibt sich die Inszenierung unbeeindruckt.

Im "Franz-Reich"
Anders als Frank Behnkes "Räuber". Auf die schräg nach hinten ansteigende, schwarze Bühne (Günter Hellweg) sprengen nicht nur die Räuber, sondern eine bunte Horde Münsteraner Studenten, die Occupy-mäßig und doch zum Chor diszipliniert ein "Pfui" über die profitgierige Welt herausschreien und Schilder hochhalten, auf denen "Occupy the sky" und "Stoppt den Kulturabbau in Münster" gefordert wird. Unter der farbenfroh gekleideten und bunt geschminkten Gruppe sind auch einige schwarz Gekleidete, die sich radikalisieren: Moors Räuberbande als eine Art Antifa. Ihr Anführer Karl (Dennis Laubenthal) hat offenbar Charisma (seine Räuber liegen ihm wiederholt zu Füßen) und scheint mit seinem Dreitagebart, der schwarzen Lederjacke und dem durchtrainierten Körper unter dem engen schwarzen Hemd ein zeitgenössischer Widergänger Andreas Baaders zu sein.

raeuber2 560 MarionBuehrle x"Die Räuber" in Münster © Marion Bührle

Auch sonst spart der neue Schauspieldirektor und Regisseur Frank Behnke nicht mit Aktualisierungen, fröhlichen Texterweiterungen und teils luziden, teils deutlichen Anspielungen auf die politische Situation – nicht nur in Münster. Sowas kann mächtig in die Hose gehen. Tut es hier aber nicht, weil Florian Steffens einen Franz gibt, der als abgrundtief ungeliebter und daher verzweifelter Sohn ebenso zu überzeugen vermag wie als widerlicher, an Batmans Joker mit blutverschmierten Mund erinnernder Irrwisch, der durch die Zuschauerreihen geistert und das "Franz-Reich" ausruft.

So ringt Behnke den Figuren viele Facetten ab, kürzt den Text moderat und pointiert ihn überzeugend. Das ist an sich schon bemerkenswert. Doch schafft er noch mehr: Indem er Karl nicht Amalia (Maike Jüttendonk) töten lässt, bleibt die Tragik Karls in der Schwebe und wird zu einer Allegorie für eine Gegenwart, in der das Nicht-Handeln die tragische Entscheidung abgelöst hat. Für diesen Mut wie für den schauspielerisch hervorragenden Gesamteindruck des Ensembles spendete das Publikum minutenlang standig ovations. Bleibt nur zu wünschen, dass die Begeisterung des Abends Funken schlägt in der Stadt. Dann dürften Grotesken es in ihr zumindest sehr schwer haben.

Apologia
von Alexi Kaye Campbell
Regie: Petra Luisa Meyer, Bühne und Kostüme: Wiebke Horn, Dramaturgie: Friederike Engel.
Mit: Regine Andratschke, Aurel Bereuter, Lilly Gropper, Claudia Hübschmann, Hartmut Lange.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

Die Räuber
von Friedrich Schiller
Regie: Frank Behnke, Bühne und Kostüme: Günter Hellweg, Musik: Malte Preuß, Dramaturgie: Kathrin Mädler, Chortraining: Claudia Sendlinger.
Mit: Ilja Harjes, Maike Jüttendonk, Dennis Laubenthal, Gerhard Mohr, Marvin Rehbock, Christoph Rinke, Maximilian Scheidt, Florian Steffens, Isa Weiss und dem Münsteraner Studentenchor.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.theater-muenster.com

 

Kritikenrundschau

"Das könnte ein Erfolg­sstück werden", reümiert Johannes Loy in der Münsterländischen Volkszeitung (24.9.2012) Apologia, erzählt allerdings vor allem die Handlung nach. "Abwechslungsreich" sei die Inszenierung von Petra Luisa Meyer. "Das Publikum applaudierte abschließend im Stakkato und trampelte höchst vergnügt und angeregt."

Meyer meistert die Herausforderung des ständigen Tonart-Wechsels "nicht immer", schreibt Helmut Jasny in der Münsterschen Zeitung (24.9.2012). Sie treibe die Komik gern ins Boulevardeske und bekomme dann Probleme, die ernsten Passagen glaubhaft umzusetzen. "Mit solchen Mankos haben die an sich gut agierenden Schauspieler dann doch ein bisschen zu kämpfen."

Viel Text und wenig wirkliche Handlung, so fasst Hanns Butterhof in der Recklinghäuser Zeitung (24.9.2012) den Abend zusammen. Sein Fazit: "für Boulevard nicht turbulent und für Dramatik nicht tief genug".

Sabine Müller jubelt in ihrer Räuber-Kritik in der Münsterschen Zeitung (24.9.2012): Sie preist die gleichbleibend hohe Temperatur der Inszenierung, die jungen, neuen Schauspieler und wie der Regisseur die Geschichte ins Jetzt und Hier transportiere. "Behnke bricht die vierte Wand auf, lässt seine Figuren mit dem Publikum agieren, lässt die Räuber blutend von der Decke baumeln und die Bühne in Brand setzen. Zum stimmungsvollen Lichteinsatz gibt es eigens von Malte Preuß komponierte Musik, die den Pulsschlag der Inszenierung spürbar vorantreibt."

Behnke hole "Die Räuber" "keck in die Gegenwart, bisweilen gar nach Münster. Und das funktioniert bestens", schreibt ein ebenfalls begeisterter Harald Suerland in der Münsterländischen Volkszeitung (24.9.2012). Neben dem "virtuosen Ensemble" und der Neuinterpretation der Franz-Figur lobt er die aktuellen Einsprengsel, die zeigten, "wie zeitgemäß dieser Schiller ist" und damit die besten Argumente lieferten, die das Theater in einer Spar-Debatte aufbieten kann.

 

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