Nur Rauch und Dreck und Schrott

von Sarah Heppekausen

Essen, 26. September 2012. "Ruhri.2010" – so hieß eine Kampagne, die im Kulturhauptstadtjahr das Wir-Gefühl in dieser sogenannten Metropole Ruhr stärken wollte. Bloß pathetisches Marketing-Gerede? Ja! Auf der Essener Grillo-Bühne wird endlich mal Tacheles gesprochen: "'Ruhri' – sag das mal zu einem aus dem Ruhrgebiet. Der gibt dir eins auf die Fresse." So (oder so ähnlich, die Textfassung wurde nicht veröffentlicht) formuliert das einer aus dem Chor der arbeitslosen Ruhrgebietler. "Der Metropolengedanke ist künstlich. In Wahrheit ham wir hier 53 Städte mit 53 Bürgermeistern."

Solidarität sieht anders aus. Peter Stripp beschrieb sie in seinem Ruhrgebietsroman "Rote Erde", der in der Regie von Klaus Emmerich in den 1980er Jahren als Fernsehserie ausgestrahlt wurde, im Zusammenhalt der Bergleute – der arbeitenden Bergleute unter Tage, der streikenden für höhere Löhne, der besetzenden für die Verstaatlichung der Zechen. Volker Lösch führt nun beides zusammen: die Solidaritätsgedanken einer Zeit von 1885 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs aus der Ruhrgebiets-Saga "Rote Erde" und die Ansichten und Aussagen von "echten" Ruhrgebietlern aus dem Jahr 2012. Lösch braucht die Reibung mit der Realität. Nicht auf der Metaebene, sondern direkt und plakativ. Also haben er und seine Dramaturgin Sätze aus etwa 40 Interviews mit Essener Arbeitslosen und Arbeitenden in ihre Theaterfassung von "Rote Erde" eingearbeitet. Sätze wie "Um U-25 wird sich bei der Arbeitsagentur gekümmert, um Ü-25 nicht mehr" oder "Ich möchte nicht 15 Stunden am Tag arbeiten ohne eine Perspektive".

Im Schnelldurchlauf durch die Bergarbeitergeschichte
Lösch zitiert nicht bloß von der Basis der Gesellschaft, er lässt sie auch selbst sprechen. Sein Markenzeichen ist der Laienchor, in diesem Fall besetzt mit zwölf jungen Männern. Die erzählen vom fehlenden Abitur, vom unbezahlten Architekturpraktikum, von der Pilgertour nach Santiago de Compostela ("das einzige, was ich je zuende gebracht habe"). Wieder ein Lösch-Chor der Arbeitslosen, diesmal aber wird er sicher keinen Skandal auslösen wie zum Beispiel bei seinen "Webern" 2004 in Dresden. Zu wenig Wut, zu wenig Kampfgeist – gerade das, was seine Inszenierungen umstritten, aber spannend macht. Der Chor liefert auch gleich die dramaturgische Begründung für diese Zurückhaltung: "Warum die Leute, denen es nicht gut geht, sich nicht zusammentun? Weil jeder einfach nur leben und seine Ruhe haben will." Der Arbeitslose heute, zumindest der im Ruhrgebiet, setzt auf Empathie. Aus ihm spricht kein Hass, sondern Verzweiflung: "Ich weiß mit mir nichts Sinnvolles anzufangen also bin ich Schrott (…) Schrott kann man wieder verwerten / da kann man Neues draus machen / aber im Moment bin ich Schrott."

roteerde1 560  birgit hupfeld uRuß und "Rote Erde" © Birgit Hupfeld

Der Chor wird zu Bruno Kruska, der Hauptfigur aus "Rote Erde", indem sich die Zwölf ausziehen und den Körper kohleschwarz bemalen. Einer für alle und alle für einen fragen die Hartz-IV-Empfänger und Bruno-Schauspieler Krunoslav Šebrek nach Arbeit auf der Zeche. Ab jetzt ist die Bühne in Nebel getaucht – im Ruhrgebiet "ist nur Rauch und Dreck", heißt es im Roman wie im Stück. Lösch bebildert eindeutig, setzt auf Symbole, wo die starken Textkürzungen des 400-Seiten-Romans zu inhaltlichen Lücken führen müssen. Im Schnelldurchlauf geht’s durch die Bergarbeitergeschichte von der Privatisierung der Zechen Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Novemberrevolution 1918, und der anarchistische Bruno wächst vom Schlepper bis zum Zechenrat. Mit den Sozialdemokraten kommt rote Farbe auf die nackten Oberkörper, an übergroßen Brotscheiben zerren die unterbezahlten Arbeiter wie Tiere am rohen Fleisch.

Prinzip Gleichschaltung
Nicht um Tiefe geht es, sondern um Anschaulichkeit. Nicht um einen individuellen, sondern um einen rhythmischen Gang. Gleichklang ist das Prinzip des von Bernd Freytag hervorragend geleiteten Chores. Es lässt sich auch auf die gesamte Inszenierung anwenden. Das Ensemble spielt mit kühler Distanziertheit, jede Bewegung ist ein Stechschritt. Gesprochen (meist gerufen) wird im harschen Appell-Ton. So fallen die abrupten Wechsel vom "Rote Erde"-Text zum aktuellen Kommentar manchmal kaum auf.

Es ist das Prinzip der Gleichschaltung. Was unter Tage für flüssige Arbeitsprozesse sorgte und auf der leer geräumten Bühne (Carola Reuther) eindrucksvolle Kohle-Klang-Kompositionen erzeugt, nimmt der Inszenierung die Möglichkeit einer Differenzierung von Ruhrgebiets-Mythos und Ruhrgebiets-Alltag. Der stete Rhythmus schluckt den (Struktur)Wandel. Er produziert ein Wir-Gefühl. Und das ist in dieser Aufführung kein kämpferisches. Das fordert keinen Protest, sondern bloß Zustimmung. Gemeinsam träumt man sich im Liegestuhl ins Schlaraffenland. Und der Ruhri klatscht.

Rote Erde (UA)
nach dem Roman von Peter Stripp
Bühnenfassung von Beate Seidel und Volker Lösch
Regie: Volker Lösch, Bühne: Carola Reuther, Kostüme: Sarah Roßberg, Chorleitung: Bernd Freytag, Dramaturgie: Beate Seidel.
Mit: Krunoslav Šebrek, Jan Pröhl, Floriane Kleinpaß, Urs Peter Halter, Laura Kiehne, Glenn Goltz, Lisa Jopt, Sven Seeburg, Rezo Tschchikwischwili, Chor: Raphael Baronner, Josua Becker, Michael Bruch, Dincer Gücyeter, Nico Kambeck, Felix Lampert, Stefan Massmann, Christian Polenzky, Stephan Thomas, Linus Twardon, Pascal Wesselmann, Luca Alonso Zywczok.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-essen.de

 

Kritikenrundschau

In den 80er Jahren war "Rote Erde" ein insgesamt neunstündiger Fernsehfilm, bei Lösch schrumpfe das Geschehen um den aus Polen kommenden Bruno Kruska (Krunoslav Sebrek) und die Bergarbeiterfamilie Boetzkes auf ein Minimum zusammen, schreibt Arnold Hohmann im WAZ-Portal Derwesten (27.9.2012). Die Leistung von Chorleiter Bernd Freytag bei seiner Arbeit mit den Laien sei enorm. Große Textlängen werden spielerisch leicht wiedergegeben, die verteilten Stimmen kämen präzise und synchron. Aber immer werde sehr laut artikuliert. "Von einem Agitprop-Comic ist das dann nicht mehr weit entfernt."

Lösch benutze den Kohlenepos vor allem als Folie für seine eigenen Recherchen und Kommentare, so Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28.9.2012). Die zwölf Laien werden zu Kontrastfiguren des Bruno Kruska, indem sie als seine Nachfolger hingestellt werden. Doch schrumpfe die Bühne zum Appellplatz, auf dem Parolen, Klagen, Meinungen und bestenfalls Polemik mitgeteilt werde. Fazit "Politisch wird Theater aber nicht durch seine Themen, sondern indem es den Zuschauer als Individuum anspricht, ihm Konflikte vorführt und Entscheidungssituationen zumutet. Kein anderer Regisseur sitzt diesem Missverständnis, Lessing hohnsprechend, so energisch und zugleich so erfolgreich auf wie Volker Lösch."

"Gründungsmythos trifft auf neue Arbeits(losen)welt", schreibt Vasco Boenisch in der Süddeutschen Zeitung (28.9.2012), und findet, dass Löschs Parolentheater sehr wohl zum hitzigen Klassenkampf der Gegenwart passe. "Im Arbeiterchor spiegelt sich die Idee vom Ruhrgebiet als Kumpel-Kollektiv. So gräbt sich Lösch durch Ideale und Identität einer Region, die erst das Glück dieses Landes war und dann aufgegeben wurde. Das geht alle an."

Ans Ruhrgebiet schmeißt sich Lösch ganz schön ran, so Christiane Enkeler im DLF Kultur vom Tage (28.9.2012). "Die Inszenierung spricht aber, was 'Arbeit' und 'Arbeitslosigkeit' angeht, über das Ruhrgebiet hinaus", und es wirke wie Balsam für die verletzte Würde, dass Lösch das Abstrampeln zwischen Häppchen-Jobs oder im Kreativ-Praktikums-Butterfass mit harter Arbeit parallel setze. Lösch mache ein ästhetische Angebot gegen Entfremdung jeder Art. Wenn er aber, "wie er auf der Homepage des Theaters Essen sagt, 'Rote Erde' als 'Reibungsmaterial' nutzen wollte, dann ist davon nicht viel übrig geblieben".

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