Das lange Leiden an der Religion

von Bernd Mand

Mannheim, 27. September 2012. "Der müde Tod" heißt ein Stummfilm von Fritz Lang aus dem Jahr 1921. Kurz zusammengefasst geht es in der expressionistischen Romanze darum, dass eine junge Ehefrau vom Tod ihren Mann zurückfordert und nach einigen Umwegen schließlich in den Flammen eines brennendes Hauses mit ihrem geliebten Gatten wieder vereint wird. Aber das ist hier gar nicht das Thema. Die für uns wichtigste Szene des Films ist nämlich der Moment, indem der Tod der Ehefrau erklärt, dass ja auch er des Tötens überdrüssig geworden ist. Aber weil er eben Gottes Auftrag folgen muss, kann er nicht anders, als weiter fleißig Seelen einzusammeln.

Müdes Plätschern

Nach dem Besuch von Anna Jablonskajas "Heiden", inszeniert von Burkhard C. Kosminski im Mannheimer Schauspielhaus, fühlt man sich dem müden Tod auf seltsame Weise sehr verbunden. Alles plätschert hier auf gleichbleibender Temperatur vor sich hin, gut, manchmal schreit einer etwas lauter und dann nach zwei Stunden Theaterzeit ist schließlich alles wieder vorbei. Um es gerade heraus zu sagen, ist man am Ende selbst zu müde, um sich über irgendetwas aufzuregen.

Nicht über die einfältige, in besseren Momenten naive Gesellschaftskritik, die Anna Jablonskaja in dieses langatmige Familiendrama mit Biedermeier-Happy End verpackt hat. Nicht über das lauwarm zusammengeschnürte Personenspiel, das den Darstellern ausgiebig Gelegenheit gibt, ihre Rollen vorzuführen, ihnen aber nicht mehr gestattet, als bewegte Abziehbildchen zu imitieren. Man regt sich auch gar nicht mehr über die Erklärungswut der Vorlage auf, die einem als Zuschauer intellektuell ungefähr soviel zutraut wie einem Reiskorn. Nicht über das strikte musikalische Korsett, das einem ständig vorschreibt, wohin das eigene Herz gerade schlagen soll, nicht über die unbeholfen nach Aktualität und Relevanz schreiende Pussy Riot-Maske oder die synthetische Rührseligkeit, die jede emotionale Nähe zur Geschichte rigoros unterbindet. Und doch will man sich damit nicht wirklich abfinden.

heiden 280h christiankleiner hKatharina Hauter als Kristina in "Heiden" in Mannheim. © Christian Kleiner

Riot girl

Im Mittelpunkt der erschreckend leblos wirkenden Geschichte der ukrainischen Autorin steht die Tochter Kristina, die nach einer unglücklichen Liebe (genauer gesagt einem missverstandenen One Night-Stand) von der Musterstudentin zur fluchenden Protestgöre wird. Mutter Marina und Vater Oleg sind sich derweil schon seit Jahren fremd und versuchen dabei mehr oder weniger erfolgreich, irgendwie über die Runden zu kommen.

Da taucht Olegs Mutter Natalja nach jahrelanger Abwesenheit wieder auf. Als streng gläubige Christin nimmt sie sich der "ungläubigen" Gesellschaft im Haushalt an und bekehrt nach und nach die ganze Belegschaft. Auch den Nachbarn Nikolaj. Alle profitieren davon, hören auf zu rauchen und finden wunderbare neue Jobs. Bis auf die widerspenstige Kristina, die in Nataljas Augen von Dämonen besessen ist und selbst im Koma nach einem Selbstmordversuch noch von der alten Dame zum Glauben bekehrt werden soll.

Einmal hin und zurück

Gut, dazu kommt es dann aus vielerlei Gründen nicht wirklich. Und nach viel künstlich aufgeblasenem Drama und der Begegnung mit einem Priester der Zigaretten schmuggelt will am Ende die Tochter dann doch noch ihr Studium zum Abschluss bringen, die Eltern trennen sich freundlich und von Gott (und der übergläubigen Großmutter) will man einfach wieder nichts wissen. Vom Heidentum zum Glauben und wieder zurück - so könnte man das knapp zusammenfassen. Und da man am Ende immer klüger ist, ist dann ja wieder alles in Butter.

Wozu einem jetzt diese flache Geschichte von religiösem Eifer und Hilflosigkeit erzählt worden ist, bleibt am Ende unklar. Eine befriedigende Auseinandersetzung mit einem neuen Erstarken der Religion und seinen gesellschaftlichen Auswirkungen passiert jedenfalls nicht und für ein bewegendes Personendrama fehlt den Figuren eindeutig die Tiefe und Verbindlichkeit. Daran kann auch ein starkes Ensemble auf der Bühne nichts ändern. Die Bedrohlichkeit und zerstörerische Kraft der blinden Religionswut werden bestenfalls holzschnittartig angedeutet und bleiben in einer steifen Behauptungshaltung stecken. Und so bleibt man selbst nach dem finalen Black nur ratlos und schrecklich müde zurück.

 

Heiden (DEA)
von Anna Jablonskaja, Deutsch von Olaf Kühl
Regie: Burkhard C. Kosminski, Dramaturgie: Katharina Blumenkamp, Bühne: Florian Etti, Kostüme: Lydia Kirchleitner, Musik: Hans Platzgumer.
Mit: Anke Schubert, Reinhard Mahlberg, Katharina Hauter, Gabriele Badura, Klaus Rodewald, Sven Prietz, Ragna Pitoll.
Dauer: 2 Stunden, eine Pause

www.nationaltheater-mannheim.de

 


Kritikenrundschau

"Eine Entdeckung!", ruft Volker Oesterreich in der Rhein-Neckar-Zeitung (29.9.2012) aus und rückt das Familienstück von Anna Jablonskaja in die Nähe von Ibsen, Strindberg und Hauptmann. Der Stücktitel stecke "natürlich voller Ironie, denn Heiden sind ihre entwurzelten Figuren mal mehr, mal weniger. Die Sinnsuche beschäftigt sie trotzdem permanent, so oder so." Jablonska zeige wie Menschen in postsozialistischen Zeiten "in einem mächtigen Strudel nach unten gerissen" werden, aber auch die Umkehrbewegung: "Letztlich kann sich nur retten, wer sich voller Selbstbewusstsein wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht." Kosminskis Inszenierung gehe diesen Bewegungen des Stückes "feinfühlig und geschickt" nach.

"Große Bilder für kleine Gedanken über ein großes Thema", schreibt Ralf-Carl Langhals im Mannheimer Morgen (29. 9. 2012). Kosminski habe zupackend inszeniert, was dem Abend gut tue. Das Stück selbst aber bezeichnet er als "Oberflächenstück". Russland bleibe darin ebenso weit weg "wie die Gretchenfrage nach der Religion". Von "Verführungskraft, Bedrohlichkeit oder (womöglich gar) Trost- und Heilsangeboten der Religionen" erfahre man nichts. Sie seien von Anfang an denunziert. Die Treibstoffqualitäten von Plot und Thematik werden Langhals' Eindruck zufolge "erst durch den Proll- und Brüll-Einspritzer gejagt, und wenn das durch heftig reagierende Schauspieler szenisch verdichtete Gemisch einigermaßen Anschub gibt, kommt aus dem Turbolader noch ein Schwall unbedarfter Rührseligkeit". Aus Sicht des Kritikers hätte Kosminski den Einsatz 'Lohengrin'- und 'Tannhäuser'-Motiven etwas bremsen sollen, "denn mit Unterstützung von Hans Platzgumer sowie orthodoxem (und unorthodoxem) Liedgut gerät Wagners 'musikalischer Mystizismus' gefährlich nah an die Grenze zum Musicalmelodram."

"Mannheim ist nicht Moskau", stellt Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2.10.2012) fest. Wo Staat und Kirche noch Komplizen des Unheils und die "Sinnlosigkeit des Weltenfundaments" unmittelbar spürbar sei, möge Anna Jablonskajas "schlichte Religions- und Kirchenkritik" die Gemüter noch bewegen. "Für uns ist sie so fern und fremd wie ein Dostojewski." Es hätte, so Halter, schon eines Theaterwunders bedurft, um Jablonskajas Dämonen zu unseren Zeitgenossen zu machen. Burkhard C. Kosminski kleistere das Stück in seiner Inszenierung zudem mit altrussischem Seelenmystizismus und neurussischer Folklore, mit Chansons, Chorälen und Heiligenbildchen zu. "Die Kritik bleibt plakativ, die Figuren bleiben flach." Warum Anna Jablonskaja als große Hoffnung und "Engel" des ukrainisch-russischen Theaters gefeiert werde, erschließe sich aus dieser kreuzbraven Inszenierung jedenfalls nicht. "Es war auch wohl eher ihr tragisches Schicksal."

Eine "Konfrontation traditioneller Strukturen mit dem Laissez-faire der Moderne" hat Jürgen Berger von der Süddeutschen Zeitung (9.10.2012) in Mannheim erlebt. "Anna Jablonskajas Text ist eine Farce der unerwarteten Wendungen." Die Großmutter erscheine in ihrer Frömmelei wie eine "Wiedergängerin" von Molières "Tartuffe". Mit Ausnahme der systemkritischen Punkerin Natalja finden alle Figuren nach und nach "in den Schoß der Kirche". Jablonskajas "Stück will böse sein, versteckt sich aber etwas hinter der komischen Mechanik permanenter Umschwünge. Zieht man das in Betracht, ist Burkhard C. Kosminski eine schön zugespitzte Inszenierung gelungen – mit einer Katharina Hauter als Kristina, deren Rasierklingenexistenz höchste Verletzungsgefahr verspricht."

 

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