Frau Badeärztin wird radikal

Von Simone Kaempf

Berlin, 28. September 2012. Das ist doch mal eine wirklich überraschende Ibsen'sche Frauenfigur: eine gut situierte Ärztin, Frau Doktor Stockmann, die Mann und Kinder ernährt, den Umweltskandal der hiesigen Badeanstalt aufdeckt und, wichtiger noch, die nicht ein Produkt der Männerwelt ist, aus der sie auszubrechen versucht, sondern als Zentrum einer kleinen Wohn-Community alle Interessen auf sich zieht.

Ein übertrieben großes Sofa, Küchenecke und ein DJ-Pult sind ganz vorne auf der Bühne in die Breite gezogen. An den Herdplatten kocht ihr Mann das Mittagessen, trinkt grünen Tee, und wie es bei solchen Aufgabenverteilungen eben ist: nun wartet der Ehemann zu Hause darauf, dass das Kind aus der Schule und die Frau von der Arbeit kommt. Eine der vielen Verschiebungen, die Regisseurin Jorinde Dröse im Maxim Gorki Theater ziemlich geschickt vornimmt.

Vor der Pause: Partystimmung

Dass der Badearzt Thomas Stockmann zur Badeärztin wird, gespielt von Sabine Waibel, ist der offensichtlichste Rollenwechsel der Inszenierung. Doch dient er nicht der Analyse der Gender-Untiefen, sondern hilft bei einer Milieustudie, die, ähnlich wie Thomas Ostermeiers Ein Volksfeind, der vor drei Wochen an der Schaubühne seine Berlin-Premiere hatte, eine verbürgerlichte halb-linke Großstadtschicht zeigt, nur etwas poppig bunter. Ein DJ mit Rastafrisur mischt sich hier wie selbstverständlich mit dem Journalisten Hovstad in Anzug und Turnschuhen.

High Life bei Frau Badeärztin: Matti Krause, Sabine Waibel, Gunnar Teuber. © Bettina StößIn diesem Setting gibt es immer etwas zu feiern und einen Grund sich zu freuen: Wenn sich Ärztin Stockmann und ihr Bruder treffen, knuffen und umarmen sich beide. Trifft der Brief ein, der belegt, dass das Wasser des Kurheilbades verunreinigt ist, wird Musik aufgelegt und auf dem Sofa gesprungen. Beschließt die Ärztin zusammen mit den Redakteuren Hovstadt und Billing die Veröffentlichung des Artikels, herrscht Partystimmung.

Hier blitzt eine im Grunde fröhliche Welt auf, die die Konsequenzen ihres Handelns wenig mitdenkt. Das ist einerseits sympathisch, andererseits auch gefährlich, denn wenn die Interessenkonflikte offenbar werden, knickt man umso schneller ein.

Nach der Pause brennt die Stadt

In diesem Ambiente spielt sich Ibsens Stück hervorragend, in dem es um die Widersprüche und Macht-gelenkten Interessen geht und das davon erzählt, wie nach der kollektiven ersten Empörung über den Umweltskandal schnell wieder das Interesse des Einzelnen siegt. Badeärztin Stockmanns Haltung aber erzählt Dröse als einen Weg der politischen Radikalisierung. In der Pause ziehen die Schauspieler mit Mikrofonen durchs Foyer und streiten über den Charakter dessen, was fürs Volk getan werden muss, bis Sabine Waibel eine Brandrede für einen aus Hass gespeisten Aufstand hält, der unter anderem aus Texten von Gudrun Ensslin besteht. Und so wie es für Ensslin keinen Weg zurück gab, kehren die Figuren bei Dröse nicht zurück an Herd und Sofa.

hp2volksfeind529 280 bettina stoess uSabine Waibel als Badeärztin. © Bettina StößDie Bühne ist nun leergeräumt und düster in Nebel getaucht. Dass mit der Abstrafung der Badeärztin zur Volksfeindin die alte Ordnung wiederhergestellt sein soll, wie Ibsen es vorsieht, da geht Dröse nicht mit. Aber am Ende eine Stimmung zu verbreiten als würde die Stadt brennen, funktioniert auch nicht und wirkt eher wie ein Riss, der nicht durch die Gesellschaft, aber durch die Inszenierung geht. Schade.

Sorge um die Verhältnisse

Dennoch ist dieser "Volksfeind" schlüssiger als jene, die man in den vergangenen Monaten sah. Daran hat Sabine Waibel einen schönen Anteil, die die Wendung zur verkappten Terroristin absolut überzeugend verkörpert, und nicht nur im Beharren auf eine Wahrheit handelt, wie viele männliche Stockmann-Darsteller, man nimmt ihr die Sorge um die Verhältnisse viel besser ab. Das ist subtil gesetzt und hält sich die Waage, so wie die Geschlechterrollen auch erst dann zum Thema werden, wenn es zum Streit um die Messergebnisse kommt.

Der Generationenkonflikt wird angetickt, es ist nun die Tochter, die sich weigert den Text eines französischen Philosophen zu übersetzen, der aufruft, sich zu empören, aufs Land zu ziehen und noch komischere andere Dinge zu tun. Julischka Eichel spielt das in einer klasse Szene, bei der die Belustigung der Spätgeborenen mitschwingt. Und man kann das auch als kleine Persiflage auf Lukas Langhoffs zum Theatertreffen eingeladenen Bonner Volksfeind lesen, in dem diese Tochter voller Überzeugung das Brecht-Eisler'sche Einheitsfrontlied vortrug.

Ihren Schabernack treibt die Inszenierung aber auch mit Ostermeiers Pendant an der Schaubühne. Beide Arbeiten ergänzen sich hervorragend: der pädagogische Ernst der Schaubühne fehlt Dröse am Maxim Gorki Theater, aber dafür tragen die Figuren hier die Ambivalenz in sich, die ihnen dort fehlte. Und während an der Schaubühne die Schauspieler in einem Zwischenspiel mit Farbbeuteln ins Publikum zielen, sozusagen das System draußen ins Visier genommen wird, darf hier das Publikum das System vorne in Beschuss nehmen – alles eine Frage der Sichtweise, welche Seite zum Sündenbock erklärt wird. So machen sich beide Inszenierungen gegenseitig keine Konkurrenz, man muss sie beide sehen, um zu begreifen, wie vertrackt unsere Lage wirklich ist.

 

Ein Volksfeind
von Henrik Ibsen
Regie: Jorinde Dröse, Bühne: Annette Riedel, Kostüme: Almut Eppinger, Musik: Philipp Haagen, Dramaturgie: Sibylle Dudek.
Mit: Sabine Waibel, Julischka Eichel, Cornelius Schwalm, Ronald Kukulies, Andreas Leupold, Albrecht Abraham Schuch, Matti Krause, Philipp Haagen, Gunnar Teuber.
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause.

www.gorki.de

 

Mehr zu den Ibsens Volksfeind, den es in den letzten zwei Jahren auch auf nachtkritik.de in Hülle und Fülle gab: Im November 2010 inszenierte Bettina Bruinier am Münchner Volkstheater, in Solothurn legte Katharina Rupp im Januar 2011 einen Volksfeind in der Mediengesellschaft vor. Im Juni 2011 kam "Ein Volksfeind" von Robert Schuster in Bremen heraus, in Basel inszenierte Simon Solberg gewohnt unterhalsam im September 2011, der Bonner Volksfeind von Lukas Langhoff wurde gar zum Theatertreffen 2011 geladen und zuletzt nutzte Thomas Ostermeier im Sommer 2012 zuerst in Avignon, danach an der Berliner Schaubühne den Stoff zu einer Befragung der Herrschaftsform Demokratie.

 

Kritikenrundschau

Der Abend wähle immer wieder die Groteske, um der Verzweiflung im Stück Herr zu werden, findet Tobi Müller im Deutschlandradio Kultur (28.9.2012). Bei Dröse seien "die Frauenstoffe immer auch Männerstoffe". Die Hysterie von Waibels Ärztin Stockmann, die typisch sei für Dröse, heiße: "ein Symptom der Männerwelt darstellen, die die Frau umgibt. Die Hysterikerin ist jene Figur, die die Anforderungen der Männerwelt viel ernster nimmt als die Männer selbst, sie übertreibt jeweils bis zum Zerrbild." Obwohl Müller lobt, dass es jetzt zwei "Volksfeinde" in Berlin gebe, "grotesk und schrill im Maxim Gorki Theater, etwas zarter und genauer in der Schaubühne", fragt er: "Ist die Öffentlichkeit, wie sie Ibsen beschreibt, wirklich noch unsere?"

Einerseits wirke die Theaterwelt mit ihren läppischen Querverweisen an diesem Abend besonders klein. Andererseits trumpfe die dritte "Volksfeind"-Inszenierung in Berlin innerhalb weniger Monate mit einem Clou auf: Bei Jorinde Dröse ist Stockmann eine Frau, schreibt Andreas Schäfer im Tagesspiegel (1.10.2012). "Und die Konstellationen, die sich aus dieser Verschiebung ergeben, führen tatsächlich zu einer handvoll witziger Szenen und schön beobachteter Miniaturen über die Gegenwart." Ähnlich wie Thomas Ostermeier beziehe auch Jorinde Dröse Ibsens Kleinstadtbevölkerung auf die empörten Narzissten von heute. "Nur geraten ihre Figuren nicht so holzschnittartig, schlüpfen spielerischer in Klischees rein und wieder raus." Die famose Sabine Weibel als rabiate Badeärztin treffe die Nuancen der Selbstgerechtigkeit mit staunenswerter Präzision. "Die Sollbruchstelle jeder 'Volksfeind'-Inszenierung markiert ohnehin die revolutionäre Rede des Badearztes vor der Stadtgesellschaft – und hier scheitert Dröse genauso wie Ostermeier."

"Der Zeigefingerhammer kommt spät an diesem Abend, aber er kommt. Unten im Foyer des Gorki-Theaters, nach der Pause", so Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (1.10.2012). Die Volksfeindin brandrede dann Passagen aus Gudrun Ensslins Gefängnisbriefen. Wenn Jorinde Dröse diesen Stockmann von Sabine Waibel spielen lasse, "die ihren Weg von der aufrechten Streiterin für die gute Sache zur schäumenden Richterin über die schlechte Gesellschaft in schöner Geradlinigkeit durchmarschiert", ist der Revolutionsdrops dennoch schnell gelutscht. Fazit: "Ostermeiers Abend pendelt – vorsichtig zwar, aber vernehmlich – eher Richtung Barrikaden. Dröse hält es dagegen mit einem Supersofa, auf dem sich hervorragend von Rebellion dampfplaudern lässt."

Jorinde Dröses "Volksfeind" ist einer, der versucht, die großen Worte auf ihre konkrete Bedeutung abzuklopfen, bilanziert Katrin Bettina Müller in der taz (1.10.2012) die Inszenierung, in der sie sehr viel Gutes gesehen hat. "Im Regiestil von Jorinde Dröse erhält vieles Sichtbarkeit, ohne deshalb banal zu wirken." Das komme der Beweglichkeit des Denkens zugute. "Dröse hält die großen Spannungsbögen und legt am Ende sogar noch mal an Tempo zu. Geschickt sind die Wechsel in der Erzählperspektive." Und: "Katharinas Radikalisierung, als sich ihr Beharren auf der Vernunft in Hass auf alle verkehrt, die ihre Einsicht nicht teilen, erleben die Zuschauer hautnah in der Pause. Mit dem Mikrofon, das ihr die anderen Schauspieler ständig wegnehmen wollen, rennt Sabine Waibel im Foyer zwischen den Zuschauern umher, klettert auf Bänke und Tresen, kämpft als Katharina um das Wort, kämpft aber auch als Sabine Waibel um jeden Gedanken, um mit ihm uns, das Publikum, zu packen."

 

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