Stuhl, Kleidung, Afrikaner, Zuschauer

von Matthias Weigel

Berlin, 29. September 2012. "Nummer zwölf": Das Los trifft mich zuerst. Gleich hinter dem nächsten Steinbogen beginne "Exhibit B", wurde uns gesagt. Ich bin also der erste Zuschauer, der im ehemaligen Wasserspeicher am Prenzlauer Berg den kühlen, schummrig beleuchteten Gemäuergang betritt, ganz allein. Dass diese "Installation mit menschlichen Exponaten" die Völkerschauen und "Menschenzoos" des 19. Jahrhunderts zum Thema haben soll, weiß ich; es wird mir aber nicht darüber hinweg helfen, schon auf die erste Szenerie völlig hilflos zu reagieren.

Das Projekt "Exhibit B" des südafrikanischen Künstlers Brett Bailey ist Teil der Neuausrichtung des ehemaligen Berliner Festivals "Spielzeit Europa" hin zu den jetzigen "Foreign Affairs" unter Kuratorin Frie Leysen: Den Blick über Europa und die Gattungsgrenzen hinaus.

Überfordernder Blickkontakt
Mein erster Blick auf "Exhibit B" wird jedenfalls sofort gnadenlos auf mich zurückgeschleudert. Ich starre in die Augen von zwei schwarzen Afrikanern, die mit Lendenschurz in Vitrinen an der Wand präsentiert werden und in warmes, atmosphärisches Licht gehüllt zu mir zurückstarren; davor einige Utensilien, Dokumente. Ein Horror-Tableau-vivant, eine hinreißende Bildkomposition, ein entwürdigendes Setting. Davor ein Museums-Aufsteller mit Titel und Hintergrundinformationen, von denen ich kein Wort erinnern kann; habe ich in dieser Stresssituation doch nur Wörter mit den Augen abgetastet statt einen Inhalt aufzunehmen. Die Augen, die Gedanken oszillieren: Der Blickkontakt überfordert schon nach kurzer Zeit. Aber kann ich ernsthaft die Beschreibung von vor mir ausgestellten Menschen lesen, während sie mir in die Augen schauen? Kann ich überhaupt wie Exponate ausgestellte Menschen betrachten? Ist es andererseits nicht noch despektierlicher, einfach den Blick abzuwenden?

brett bailey exhibit b 1 c koen cobaert academie anderlecht-280Ein Bild aus "Exhibit B" © Piet Janssens

Ich muss weg, finde mich vor einer Afrikanerin hinter Stacheldraht wieder, in einem Feld von Scherben, von Schädeln und Warnschildern flankiert. Ich lese, nun doch: In Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) wurden in deutschen Konzentrationslagern Frauen gezwungen, die Köpfe von Mithäftlingen auszukochen und mit Glasscherben auszuschaben, um die Schädel dann ausstellen zu können. Die Frau hält eine Scherbe in der Hand und schaut mir in die Augen.

Der Zuschauer ist Bestandteil
Das ist ein Teil von "Exhibit B": die Dokumentation historischer deutscher Verbrechen in Afrika. Hier sind nicht die phänotypisch "Anderen" das Unglaubliche, sondern das monströse Verhalten eben jener Kolonialherren, die solche Ausstellungsformen prägten. Aber kann man das so erzählen? Denn trotzdem starren ja hier wieder die gleichen (Weißen) auf die gleichen (Schwarzen). Wie geisterhaft verfolgende Mahnmale ragen die (schwarzen) Schauspieler aus der Installation des (weißen) afrikanischen Regisseurs Bailey, der zuvor in einer kurzen, zynischen Ansprache klar macht, dass hier natürlich auch seine eigenen Situation verarbeitet wird.

"Exhibit B" geht aber über die schlichte Provokation hinaus, ist keine Wiederholung einer "Völkerschau". Vielmehr wird eine inhaltlich aufklärerische Ausstellung in der Form dessen dargeboten, was angeprangert wird. In dieser sehr fragilen Begegnungssituation wird Schreckliches erfahrbar gemacht, ohne dass man selbst automatisch Schreckliches tut oder des Schrecklichen bezichtigt wird. Die (zugegeben gleichzeitig zynischen) "Materiallisten" der einzelnen Installationen geben neben "Stuhl, Kleidung, Papier" auch "Afrikaner, Zuschauer" an: Der Betrachter ist essenzieller Bestandteil. Trotz aller innerer Distanzierung oder Empörung ist sein Voyeurismus gleichzeitig gerechtfertigt.

Erfahrungsraum der Segregation
"Exhibit B" bleibt nicht nur historisch, sondern schlägt auch die Brücke ins Heute. Am schärfsten wird die Installation bei den durchnummerierten Readymades: "Flüchtling aus Kamerun" steht dort geschrieben, auf dem Podest steht ein Schwarzer in Alltagskleidung. Daneben ein Steckbrief: 20 Jahre, Wohnort in Berlin, Tuberkulose negativ. Während die anderen Szenerien streng eingerichtet sind, tritt man diesen "Readymades", also Alltagsfundstücken, von Angesicht zu Angesicht gegenüber.

Denkt man an die Debatte um "Blackfacing" an deutschen Stadttheatern, so kommt nicht nur der Ruf nach Gleichbehandlung von Schauspielern mit unterschiedlichen Hautfarben ins Gedächtnis; vielmehr die Forderung nach der Aufhebung solch einer Kategorisierung und Differenzierung überhaupt. "Exhibit B" reißt die Gräben auf, eröffnet einen ästhetischen Erfahrungsraum der Segregation, zwingt verunsichernde, diametrale Gegensätze auf. Man sträubt sich. Was kann Kunst mehr bewirken.

Evolution im Sexparty-Club
Den Blick auf den eigenen Blick nach außen richten, sich durch besondere Wahrnehmung selbst wahrnehmen: Eine zweite Produktion des ersten Foreign-Affairs-Wochenendes nimmt das ebenfalls zum Gegenstand, wenn auch nur stellenweise. Daisuke Miura ist mit der Produktion "Love's Whirlpool" eingeladen; dem europäischen Publikum ist schon seine (eigentlich neuere) Arbeit Castle of Dreams bekannt. So viel nahen und unverhohlenen Bühnensex wie beim "Castle" müssen die Zuschauer von "Love's Whirlpool" zwar nicht verkraften. Doch es spielt immerhin in einem Sexparty-Club, in dem sich Verschüchterte, Aufreißer, Geschäftsmänner, Familienväter, Kindergärtnerinnen und Fabrikarbeiter zum unkomplizierten Fick im "Playroom" treffen. Von der ersten Minute an schafft es Miura mit seiner sogerzeugenden quietschigen TV-Ästhetik, einem trotz Klischees die Sexbesessenen auf der Bühne nahezubringen.

loves whirlpool 02 560 c wakana hikinoZwischenmenschliches im Sexparty-Club: "Love's Whirlpool" © Wakana Hikino

Was die vier Paare zwischen 22 und 5 Uhr durchmachen, ist die Engführung der Gesellschaftsevolution: Die gefühlten ersten drei Stunden geht es nur um "Ich bin das erste mal hier, und Sie?". Irgendwann steigt das erste Pärchen die Treppe rauf, sich dauernd höflich vernickend. Bis dann endlich der Bann gebrochen ist, über Sexsucht, Masturbationspraktiken und Fischgeruch im Intimbereich fabuliert wird, der Jungfräuliche sich zum Superstecher entwickelt, die Verklemmte zur Zügellosen mutiert. Nach einem harschen Gewaltausbruch sind schließlich alle Stadien des bürgerlichen Zusammenseins durchschritten, die Morgendämmerung schießt hartes Sonnenlicht durch die Rollos. Da japanische Umgangsformen in Europa oft per se künstlich wirken, fließt dieser Sex-Klamauk im Minidramenformat trotz höchstem Realismus in größter Künstlichkeit vorbei. Das Zuschauen ist hier eine leichte Arbeit geblieben – aber man ahnt, wie es nach diesem Vorspiel weitergehen könnte.

Exhibit B
Eine theatrale Begegnung mit lebenden "Exponaten“
Konzept/Regie: Brett Bailey, Technische Umsetzung/Gestaltung: Raphaël Noël.
Mit: Ekobe Emmanuel Akwaltlambeng, Valentin Domingo, Geraldine Guy, Margaritha Mvilela de Sousa Vilela Inhalambi, Aicha Katjivena, Abdourakhmane Mbacké, Lesley Melvin Du Pont, Chris Nekongo, Effesin Ngglo, Kovo Steve N'Sondi, Collivan Nsorockebe Nso, Avril Nuuyoma, Milton Paixo, Silvya Segunda, Marcellinus Swartbooi, Leila Wathera.
Dauer: 45 Minuten

Love's Whirlpool
Ein Dating-Abend für vier Paare, drei Betten und uns Voyeure
Text/Regie: Daisuke Miura, Bühne: Toshie Tanaka, Licht: Takashi Ito, Ton: Yoshihiro Nakamura, Film: Norimichi Tomita.
Mit: Ryotaro Yonemura, Yusuke Furusawa, Ryo Iwase, Hideaki Washio, Hiroyuki Aoki, Katsuyuki Iizuka, Runa Endo, Megumi Nitta, Yoshiko Miyajima, Juri Takagi.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.berlinerfestspiele.de

Kritikenrundschau

Mit radikal einfachem Blick lege "Love's Whirlpool" die innere Leere der jungen japanischen Leistungsschicht frei und lasse noch etwas Tragikomisches daraus schimmern, schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (1.10.2012). In quasiaristotelischer Dramenform rolle sich der banale, doch grotesk ernste, dumme und doch existenziell wichtige Konflikt einer bezahlten Sexorgie ab, der sich zwischen strikten Hausregeln und abgründigen Schweinereien auflädt. Diese Nacht sei kein Ausbruch, sondern das Abbild einer grundlegend verschobenen Normalität, von Menschen, die in unüberbietbarem Gehorsam auch ihr eigenes Leben nur noch als Ware behandeln können. "Ein Angestellten-Monsterspiel in Goldrahmen gepackt zu den Unschuldsmelodien von Schuberts 'schöner Müllerin'."

Einen "doppelten Schrecken" erlebe der Besucher der Installation "Exhibit B", schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (6.10.2012): einerseits die Begegnung mit der gewaltsamen Kolonialgeschichte, andererseits "hält er kaum aus, selbst von den Darstellern angeschaut zu werden." Fraglich sei gleichwohl, ob hier "eine Umkehrung des Blicks" vorliege, "eine kritische Revision der Erniedrigung zum Objekt des Angeschauten". Die Inszenierung sei durch "die Stille und das Schweigen" geprägt. "Das Schweigen der Darsteller, ihre Bewegungslosigkeit, aber potenziert das Gefühl des Gefangenseins, der Ausweglosigkeit. Man fühlt sich selbst wie aufgespießt, ohne Möglichkeit, der Betroffenheit etwas entgegenzusetzen." So "schraubt" Brett Bailey seine Darsteller entgegen seiner erklärten Intention "dennoch in Opferbilder fest." Die "Strategie der Überbietung tut weh – nicht nur dem Zuschauer, auch den Darstellern sicherlich. Und das ist der Punkt, der dann doch die heftigste Ablehnung erzeugt, man möchte in die Auseinandersetzung mit der Geschichte nicht auf deren Kosten einsteigen."

"Exhibit B" von Brett Bailey "entzündete die Geister und schärfte Blicke" für die in Deutschland kaum thematisierte Kolonialgeschichte, schreibt Doris Meierhenrich in einem längeren Bericht für die Berliner Zeitung (8.10.2012). Auch wenn die Rezensentin Verständnis für die Kritik von Bühnenwatch, die Inszenierung sei eine "Reproduktion rassistischer Bilder ohne pädagogischen Mehrwert", aufbringt, sagt sie: "Reflexiven 'Mehrwert' aber hat diese Reproduktion rassistischer Bilder trotzdem in hohem Maß. Eine seltsame Spannung aus Naivität und Arroganz beherrscht die Atmosphäre der Ausstellung, die in weihevoll-zynischer Umkehrung das weiterführt, was vor hundert Jahren 'Völkerschauen' genannt wurde." Als wichtigen Aspekt des begleitenden Symposiums "Stages of Colonialism / Stages of Discomfort" hebt Meierhenrich den Wunsch nach Multiperspektivität in der künstlerischen Auseinandersetzung mit den Kolonialismusthemen hervor. "Und wehmütig kam einem das Multiperspektiventheater eines Christoph Schlingensief in den Sinn."

Mit "Exhibit B" habe das "streitbare Festival" den Zuschauer "freundlicherweise mal wieder daran erinnert, dass Kunst nicht nur ein abnickbarer Selbstgänger, sondern auch ein hitziger Streitgegenstand sein kann", wobei Brett Bailey eher der "unfreiwillige Festival-Meister der Polarisation" sei, schreibt Christine Wahl vom Tagesspiegel (8.10.2012) in ihrem Überblickstext zu "Foreign Affairs". Mit "didaktischer Lehrstück-Absicht zwingt Baileys Installation den Zuschauern praktisch den kolonialen Blick auf und behauptet – indem er auch gegenwärtige Asylbewerber unter die 'Exponate' mischt – zumindest implizit eine ungebrochene Kontinuität."

"Hat man sich je unbehaglicher gefühlt als in Brett Baileys Installation 'Exhibit B'?, fragt Sieglinde Geisel in einer Sammlerezension in der Neuen Zürcher Zeitung (25.10.2012) Die Fragen allerdings, die beim anschließenden Symposium gestellt wurden, seien "noch unbehaglicher als die Ausstellung des weissen Südafrikaners Bailey. Wäre etwa eine vergleichbare Installation mit Juden denkbar, die KZ-Situationen nachstellen?"

 

Kommentare  
Eröffnung Foreign Affairs: geflissentlich übersehen
Da haben nachtkritik und Mathias Weigel geflissentlich über den eigentlichen Eröffnungsabend, Federico Leóns Las Multitudes - mit 108 echten Berlinern! - den wohlverdienten Mantel des Schweigens gebreitet. So einen banalen, verkitschten, auf simpelste Weise moralisierenden Abend hat man lange nicht gesehen. Da gehe man doch lieber gleich in Kyohei Sakaguchis mobiles Holzhaus, in dem der italienische Pianist Mario Formenti vier Wochen lang lebt und spielt. Das ist nicht nur kostenlos, es lohnt sich aus.

Mehr hier: http://stagescreen.wordpress.com/2012/10/01/raus-aus-der-dorfdisco/
Eröffnung Foreign Affairs: bleibt nichts hängen
Das Hauptproblem an Love's Whirlpool ist, dass das Voyeuristische, die Komplizenschaft des Publikums, der verbotene Blick, den Miura laut Selbstaussage will, hier kaum stattfindet. Nach dem starken Beginn kann sich der Zuschauer zurücklehnen und zuschauen, ohne dass seine eigene Rolle in Frage gestellt würde. Der Abend ist gut beobachtet, hat vor allem in seiner ersten Hälfte erhellende Momente, ihm fehlt aber die Substanz das durchzuhalten. Über weite strecken läuft das weitgehend am Zuschauer vorbei. Net anzusehen ist das, aber da bleibt nichts hängen. Schade eigentlich.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2012/10/02/aufstieg-auf-japanisch/
Eröffnung Foreign Affairs: Misslingen gehört dazu
Richtig, Federico Léons Stück hat mich auch nicht überzeugt. Das Misslingen gehört aber, wie ich finde, bei einem Festival, das auch neue Stücke internationaler Regisseur unterstützt, dazu. Und dann ist mir ein Misslingen mit solch einer Naivität um einiges lieber als eines mit Zynismus. Ich glaube immer noch, dass Foreign Affairs ein richtig gutes Festival wird...
Eröffnung Foreign Affairs: plumpe Publikumsanbiederung
Misslingen kan etwas eigentlich nur, wenn man es auch probiert. León hat gar nichts probiert. Ob das Naivität war, weiß ich auch nicht. Eher hohles Pathos und jede Menge Kitsch. Und irgendwie liegt in einer solch plumpem Publikumsanbiederung auch ein bisschen Zynismus. Ansonsten teile ich Ihre Erwartungen an Foreign Affairs. Es kann ja eh nur noch besser werden.
Exhibit B, Berlin: großartig
Über Las Multitudines den Mantel des Schweigens auszubreiten ist sicherlich eine gute Tat, denn Exhibit B ist wahrhaftig ein Höhepunkt dessen, was theatral möglich ist. Jenseits einseitiger Authentizitätshuberei wird hier die Grausamkeit des künstlerisch verdinglichenden Blicks selbst thematisiert und die Menschen, die einen ansehen als solche erkennbar. Menschen, die eine Geschichte haben, die nicht die ist, die auf den Tafeln stehen, aber eine solche haben könnten. Das ist großartig, weil es den Zuschauenden aus dem braven Abnicken und Bestätigtsein vom Anderen als Festgeschriebenen herausholt. Ich konnte nicht länger als eine knappe halbe Stunde bleiben, weil mir die Tränen kamen angesichts der Gewalt, die in ihrem künstlichen historischen Kleid erst erfahrbar wurde. Der Brennspiegel richtet sich auf den Zuschauer und da gehört er bei so einem Thema wohl auch hin. Großartig!
Exhibit B, Berlin: Mitbestimmung?
tja. sah schön aus und war stimmungsvoll inszeniert.
der regisseur hat uns aufgefordert, "die Afrikaner aus verschiedenen Teilen des Kontinents zu bestaunen um den Unterschied ins Auge zu fassen und eine Art verstehen zu erlangen". da habe ich schon mal nicht verstanden, ob das so ironisch gemeint war, die "rassischen" Unterschiede zwischen ihnen festzustellen...und dann im rundgang von einem tableau vivant zum nächsten den Unterschied zwischen kolonial unterworfenen und heutigen Asylbewerbern? sollte da etwa eine Parallele zwischen der nackten ans kolonialherrenbett geketteten Frau und der mit einem Deutschen meiner nachbarschaft verheirateten Frau aus Afrika bestehen? Interessanterweise hab ich sie ja im ersten Moment als meine Nachbarin in der Schönleinstrasse wahrgenommen und ihr als solche sozusagen zugelächelt, als hilfloser Ausweg, weil ich es nicht ausgehalten habe, dass ich sie als schauobjekt ansehe, ob es nun eine Darstellerin ist oder eine echte Einwanderin. ich habe mich gefragt, warum diese lebenden schauobjekte ihren Platz nicht verlassen durften, um darüber zu sprechen, wie sie selber den Blick des Betrachters empfinden, was diesen Blick verändern soll und kann, wenn man sich doch schon mal postkolonial auf den weg gemacht haben will.
Hat der regisseur nicht auch einfach die darsteller für seine inszenierung kolonisiert? Sie ziehen sie doch wohl den kürzeren, weil sie immer halb nackt exponiert unseren Blicken ausgesetzt sind und wir ihren Blicken ja doch recht einfach entgehen können, wenn wir uns so schlecht fühlen.. ich empfinde diese Installation so, dass der regisseur als weißer afrikaner die geschichte an sich reißt und schwarze afrikaner verwendet, um auf ihre und unsere geschichte aufmerksam zu machen und ich vermisse den Aspekt, dass sie da mitbestimmt haben. Könnte ja sein...
das hätte die besucher doch wohl auch nicht überfordert. Ansonsten ist mir nicht klar geworden, was er damit erreichen will, der regisseur, außer uns unseren kolonialen Blick vorzuführen und uns im Gegenzug die schönen afrikanischen Klagelieder anerkennen zu lassen.
Wozu gibt es denn die postkoloniale Theorie, wenn man sie nicht für solche Inszenierungen mal endlich anwendet, da hat sich doch in den letzten 60 Jahren einiges getan, um die verhältnisse und den deutungsansatz zu ändern..
Also, das reicht mir so nicht.
Exhibit B, Berlin: das Starke ist die Ambivalenz
meiner vermutung nach sind die darstellerinnen freie erwachsene menschen, sie tragen daher als perormerinnen in dieser inszenierung automatisch eine große mitverantwortung für selbige. das erübrigt für mich die frage nach der mitbestimmung: gezwungen wurden sie jedenfalls nicht, und das müssen sie mir nicht wärend einer aufführung verbal bestätigen. wozu auch? um das gewissen des zuschauers zu beruhigen, wo doch das ganze ding darauf abziehlt den zuschauer zu verunsichern? ich nehme diese menschen die mich da anblicken ernst. ich blicke dort auf darstellerinnen. es finde es hier ganz wichtig, realität und inszenierung auseinanderzuhalten und die menschen nicht in eine opferrolle zu pressen. erst dieser blick wäre es, der diese menschen vielleicht kolonialisiert. genau diese ambivalenz ist meiner meinung nach das starke an der inszenierung, und sie ist nur im theater möglich, weil in diesem klar definiertem kontext die darstellerinnen eben gerade nicht ausgestellt sind.
ich muss mich damit auseinander setzen, mit was für einen blick ich schaue, und ich werde intensiv beobachtet dabei, wie ich versuche den "richtigen" blick zu finden. dabei sind die beobachter mir gegenüber in der überzahl, ich nehme die darsteller als gruppe, die zuschauer als vereinzelt war. es ist die ganze zeit völlig klar das ich einer "verschwörung" ausgesetzt bin, alle beteiligten auf den podesten sind eingeweihte, sie haben diese situation hergestellt, in die ich, im gegensatz zu ihnen, völlig unvorbereitet hineingerate. im theater haben die menschen auf der bühne eine machtposition gegenüber dem zuschauer, da sollte man finde ich nicht mit falschen emphatien rangehen, nach dem motto: oh, dieser arme mensch tut mir leid, ich (ausgerechnet?) müsste ihn beschützen. ist das nicht nur eine ablenkung von sich selber?

mit den darstellerinnen kann man sicher auch nach der inszenierung noch sprechen. viele der personen dort auf der bühne sind profis, performerinnen. die stellen sich nicht da hin um über ihre privaten gefühle zu sprechen, das ist mir ein zu pädagogischer ansatz und nicht meine auffassung von dem, was eine inszenierung leisten soll.
Exhibit B, Berlin: das eigene Unwohlsein
Ich habe ein bisschen den Eindruck, dass so mancher, der Kritik äußert an Baileys Konzept, auch ein wenig von seinem eigenen Unwohlsein ablenkt, wohl auch sich selbst gegenüber. Baileys Installation ist eine Zumutung und will das auch sein. Mein Vor-Kommentator sprach von der Suche nach dem "richtigen Blick". Ich denke nicht, dass es den hier gibt. Ob ich die Menschen anstarre, ihrem Blick ausweiche, die "Informationstafeln" lese, der Musik lausche - ich bleibe in diesem Traditionszusammenhang der Verdinglichung des Menschen und ich werde zurückgeworfen auf das, was davon auch in unserer so aufgeklärten Gegenwart noch übrig ist, in der wir - das zeigen die "Ready-Mades" eindrücklich - Menschen zwar nicht mehr wie in Zoos ausstellen, aber sie beispielsweise auf ihren Aufenthaltsstatus, ihre Herkunft u.ä. reduzieren. Genau deshalb ist der Blick so schwer auszuhalten, weil es unsereigener ist.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2012/10/05/der-umgekehrte-blick/
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