Im Bann der Entgleisung

von Ralph Gambihler

Dresden, 6. Oktober 2012. Das Staatsschauspiel Dresden ist eine halbe Lutz Hübner-Bühne. Vier seiner Stücke stehen dort aktuell im Spielplan. Autor und Theater sind sich seit einigen Jahren herzlich zugetan und im Erfolg verbunden, und so geht die Zusammenarbeit einfach weiter, nun mit der Uraufführung der neuesten Komödienkreation, die als Auftragswerk für Dresden entstand.

Hübner zeigt diesmal ein Episodenstück, das in Struktur und Wirkungsweise an Andreas Dresens Erfolgsfilm "Nachtgestalten" erinnert, das Programmheft verweist zudem auf Robert Altmans wunderbare "Short Cuts". Der Stücktitel wirkt indessen unfertig, er lautet "Was tun" – ohne Fragezeichen, aber auch ohne Ausrufezeichen. Den Figuren scheint etwas abhanden gekommen zu sein. Sie sind, könnte man sagen, nicht nur ratlos, sie sind auch orientierungslos. Sie wissen nicht, in welche Richtung sie ihre Ratlosigkeit lenken sollen.

Kleine Niederlagen

Diese Ratlosigkeit wird in Situationen sichtbar, die regelmäßig entgleisen. Da sitzen zum Beispiel zwei Paare im Wohnzimmer. Die Männer sind alte Freunde, die Zusammensetzung der Runde ist aber neu, weil der eine eine neue Freundin hat. Man will sich bei einer guten Flasche kennenlernen, der Abend ist entspannt, bis über der Frage der sexuellen Freizügigkeit die Ansichten scharf auseinander laufen. Es kommt zum Zerwürfnis und obendrein zum Ehekrach.

Derweil erlebt ein Ex-Schauspieler mit übergroßem Lampenfieber eine Niederlage, die sein ohnehin geschrumpftes Ego weiter dezimiert. Sein Freund hat ihn überredet, zu einem Literatursalon mitzukommen. Dort wird er von der Dame des Hauses zu einer Gedicht-Rezitation verdonnert, die dann im allgemeinen Geplauder untergeht. Der Gedemütigte lässt seinen Freund stehen und flieht zur Schmerzbetäubung in einen Swingerclub. In einer dritten Geschichte warten eine Altenpflegerin und ein Gewerkschaftsveteran auf die Ankunft der Journalisten, die zum Pressegespräch geladen wurden. Der Altenpflegerin wurde gekündigt, weil sie die Missstände im Heim zu offensiv angeprangert hat. Der DGB sieht darin einen Skandal und einen Fall für die Öffentlichkeit. Die Journalisten kommen allerdings nicht, nur eine Praktikantin verirrt sich zum Pressegespräch. Der Termin wird zur Farce.

Wenn die Routine fehlt

Die Geschichten, die Hübner erzählt und locker miteinander verwebt, sind im Grunde nichts anderes als eine Abfolge von Begegnung und Situationen, die ziemlich schief laufen und die Leute aus der Bahn werfen, mehr oder weniger. Das Desaster dieser Menschen besteht zum einen darin, dass sie akut nicht weiter wissen, dass sie eine Situation bestehen müssen, für die sie keine Routinen haben. Sie sind Überforderte. Zugleich sind sie aber auch Suchende, das ist die Pointe. Sie suchen "ihr Leben" und "ihr Glück". Da sie aber nicht so richtig finden, wollen sie wenigstens diesen einen Samstagabend retten, und sei es durch radikale Manöver der Selbstbestätigung oder Selbstbeglückung. So gesehen, laufen die Dinge doppelt schief in diesem tragikomischen Geschichten-Karussell.

wastun4 560 matthias horn uWas nun tun? Christian Erdmann und Karina Plachetka © Matthias Horn

Bei seinem ersten Testlauf auf der multifunktional möblierten Bühne von Anke Grot ist "Was nun" (Mitarbeit: Sarah Nemitz, die Frau des Autors) allerdings nicht die neueste Offenbarung aus der Hübnerschen Textwerkstatt. Der Abend ist etwas klein geraten und köchelt unentschlossen vor sich hin. Was zum einen an den Figuren liegt, denen man die Prinzipien, aus denen sie gemacht sind, teilweise recht deutlich anmerkt. Störend wirkt zudem die "mittlere" klamottige Überzeichnung dieser Menschenbeschau, zu der sich die Dresdner Regie (Barbara Bürk) entschlossen hat. Da wird mehr zu- als aufgedeckt.

Präsenz und Spielfreude

Ganz allgemein ist der Abend auf tragikomisch getrimmt, geht mehr Richtung Komödienstadl als Radikalkomödie, bleibt dabei stets leicht verdaulich und ruht sich stellenweise auf den nackten Pobacken und lustigen Fetisch-Klamotten aus, die im Dunstkreis des Swingerclubs zum Vorschein kommen. Scharfen Witz oder Abgründigkeit lässt er hingegen vermissen, was schade ist, denn Barbara Bürk kann das. Sie hat erwiesenermaßen ein Händchen für Hübner-Komödien und war mit "Hotel Paraiso" vor einigen Jahren zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Immerhin überzeugen die Darsteller mit Präsenz und Spielfreue, Karina Plachetka etwa als aufreizend selbstbewusste Reisekauffrau und Gespielin oder Holger Hübner, der in seiner Doppelbesetzung als schwuler Gutmensch und geplagter Ehemann herausragt. Am Ende kann es den Abend nicht retten, als Schmonzette ist er aber annehmbar.

Was tun
von Lutz Hübner, Mitarbeit: Sarah Nemitz
Regie: Barbara Bürk, Bühne: Anke Grot, Kostüm: Irène Favre de Lucascaz, Musik: Sven Kaiser, Licht: Jürgen Borsdorf, Dramaturgie: Luise Mundhenke.
Mit: Holger Hübner, Anna-Katharina Muck, Tom Quaas, Karina Plachetka, Hannelore Koch, Albrecht Goette, Christian Erdmann, Benjamin Pauquet, Ines Marie Westernströer, Sven Kaiser, Thomas Mende, Andreas-Christoph Müller.
Dauer: 1 Stunde, 45 Minuten, keine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

Hübner habe "seine eigene Art, das Oben und Unten zu erkunden", spiele "sich nicht zum Richter darüber auf, was richtig oder falsch ist", schreibt Gabriele Gorgas für die Dresdner Neuesten Nachrichten (8.10.2012). Bei seiner "Gebrauchsdramatik" im "besten Sinne" müsse man sich "über das eigene Lachen nicht schämen". Die Hübners Werk bestens vertraute Regisseurin Barbara Bürk sei "nicht minder eine genaue Beobachterin" und beweise auch hier ein "gutes Gespür für Zeitläufe, Konstellationen". Ihre Inszenierung gestalte die Übergänge zwischen den Erzählsträngen "fließend" und führe den Zuschauer "auf sanfte Art". "Dafür aber krachen die ineinander geschobenen Szenen in ihren Inhalten und Spielweisen wie Eisschollen aufeinander, und die Darsteller verwandeln sich in wechselnden Rollen auf wahrhaft dramatische, auch entblößende Weise."

Hübners in Dresden viel gespielte "Stücke tun nicht weh, aber sie tun gut", schreibt Rainer Kasselt in der Sächsischen Zeitung (8.10.2012). Dieses Stück ("nicht sein bestes") wirke im Versuch, "eine Art 'Reigen' zu schreiben", "arg konstruiert. Doch viele Dialoge und Pointen sitzen." Nach einem "verkrampften Beginn" inszeniere Barbara Bürk das "Stück zwischen Seelenkater und Aufbegehren, die äußeren Vorgänge, etwa im Swingerclub, nehmen zu viel Raum ein, ohne überraschende Wendungen." Die "schönste Leistung des Abends" biete Ines Marie Westernströer, wenn sie die Rolle der Praktikantin "als Karikatur einer unbedarften Lifestyle-Bloggerin" anlegt, "um dann im Gespräch mit dem Funktionär Charakter und Format zu gewinnen".

Ein Hübner-Stück, "das nicht zu seinen besseren gehört", hat auch Hartmut Krug für die Sendung "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (8.10.2012) erlebt. "Gebaut als verzahnte Episoden-Komödie (Andreas Dresens Film 'Nachtgestalten' lässt grüßen), zeigt es allzu eindimensionale Figuren. Wenn die auf ihrem Weg zum alltäglichen Glück verunglücken, ist dies kaum tragisch, immer aber bühnenwirksam komisch." Manchmal würden bei den Figuren auch "gesellschaftliche Haltungen deutlich". Regisseurin Barbara Bürk setze "vor allem auf das kabarettistische Potenzial von Hübners Figurenparade, und ihr großes Ensemble malt die Figuren mit liebevollem Witz aus. Man schaut den guten Schauspielern gern zu, doch, oder denn, weh tut hier nichts."

 

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