Trimm dich, Thriller!

von Christian Rakow

Berlin, 13. Oktober 2012. Ein Lektüretipp für alle, die nicht schon mitgeholfen haben, dieses Buch in die Spiegel-Bestsellerliste zu katapultieren: So einen packenden Politthriller, wie ihn der Investigativjournalist und Terrorismusexperte Yassin Musharbash (früher "Der Spiegel", jetzt "Zeit") mit "Radikal" vorlegt, findet man in Deutschland nicht alle Tage. Am besten umreißt man die Story nur in aller Kürze, um nicht allzu viel von ihren Wendungen preiszugeben.

Lutfi Latif, ein Grünen-Politiker, der die Annäherung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in Deutschland vorantreibt, stirbt bei einem Bombenattentat in Berlin. Das BKA sucht den Täter in islamistischen Kreisen, während der freie Blogger und Islamismuskenner Samuel Sonntag verdeckt eine Spur zu den Spitzen der Gesellschaft verfolgt: zu einer erzkonservativen Organisation von Islamhassern, die als "Kommando Karl Martell" den Krieg der Kulturen schüren will. Den Krimitrip mit Gesellschaftsporträtcharakter verknüpft "Radikal" mit einer bissigen Satire auf Medien vom Schlage des fiktiven Nachrichtenmagazins "Globus", das aus kleinsten Insider-Informationen große, hysterisierende Titelgeschichten formt.

Spielfassung für Schnellfeuerfreunde
Man darf dem Team des Maxim Gorki Theaters zu seinem Coup gratulieren, Musharbashs Roman gerade mal ein Jahr nach Erscheinen für die Bühne entdeckt zu haben. Aber das Ergebnis wirkt, als säßen die Theaterleute mit ihrer fetten Beute immer noch im Fluchtwagen (vermutlich von Filmteams gejagt) und drückten gnadenlos aufs Gas.

radikal1 560 ThomasAurin uJedem sein eigener Film: "Radikal" © Thomas Aurin

Zwischen "WiXXer" und Italo-Western
Eine Spielfassung für Schnellfeuerfreunde hat Dramaturg Jens Groß den 400 Romanseiten abgewonnen: Der Medienkontext ist auf ein Minimum geschrumpft, ebenso alle interkulturellen Identitätsfragen und das antiradikale Denken der "Mitte", für das Lutfi Latif und seine junge Mitarbeiterin Sumaya stehen. Dafür kommt der antiislamische Geheimbund in seinem extremistischen Diskurs ausgiebig zu Wort. In groben Scherenschnitten stellt Groß den Thriller nach, wobei die Figuren gern in aufdringlich expliziten Monologen ihre jeweilige Rolle bekannt geben und das Geschehen raffen. Respekt für alle Zuschauer, die ohne Kenntnis der Vorlage mit dieser fragmentierten Plotdarbietung Schritt halten können!

Zumal bei Uraufführungsregisseurin Anna Bergmann eigentlich jeder der Anwesenden seinen eigenen Film spielt. Der sonst so wuchtige Bühnenirrwisch Holger Stockhaus gibt den Do-it-yourself-Journalisten Samuel derart aufgesetzt, dass man befürchten muss, er hat nächtelang Genre-Parodien Marke "Der WiXXer" durchgeschaut. Wenn die an sich mit einem feinen realistischen Zug begabte Pegah Ferydoni als seine Freundin Sumaya hinzutritt, werden Vorabendserienliebkosungen hingezärtelt. Im Duett mit Johann Jürgens als Verfassungsschutzagent Kai leuchtet etwas wildwüchsig schriller Volksbühnen-Humor auf. Robert Kuchenbuch sucht als BKA-Beamter Ansgar Dengelow derweil sein Heil im Italo-Western-Machismo. Die einzige wirklich coole Note bringt Anne Müller als "Globus"-Redakteurin Merle Schwalb ein, kriegt aber leider nur ein paar kurze Auftritte.

Multimedialer Aufwand
Damit diese ganzen disparaten Testläufe in Bergmanns Trimm-Dich-Thriller nicht allzu sehr als verzagter Katzenjammer auffallen, überkleistert die Regisseurin ihre Szenen unablässig mit raunenden Kinosounds, fährt Videos ab, lässt Spieler via Mikroport in überall verteilte Kameras sprechen und bringt die Drehbühne mit ihrem Set aus hölzernen und gläsernen Büroräumen (von Bühnenbildner Ben Baur) zum Kreisen.

Es hilft nichts. Vom Cinemascope-Theater sind wir meilenweit entfernt, von aufrüttelnden Radikalismus-Analysen ohnehin. Mit jeder der gut einhundert Minuten dieses Abends sehnt man sich stärker nach dem Bücherschrank, nach dem erhellenden, rasanten, genau erzählten Roman von Musharbash. Wie der kühne Schnüffler Samuel schon sagt: "Ich muss weg, es gibt Dinge, die kriegt man nur raus, wenn man an die Quelle geht."

Radikal (UA)
nach dem Roman von Yassin Musharbash
für die Bühne bearbeitet von Jens Groß
Regie: Anna Bergmann, Bühne: Ben Baur, Kostüme: Claudia González Espíndola, Musik: Heiko Schnurpel, Video: Stefan Bischoff, Dramaturgie: Jens Groß.
Mit: Pegah Ferydoni, Holger Stockhaus, Anne Müller, Robert Kuchenbuch, Wilhelm Eilers, Sina Kießling, Johann Jürgens, Ruth Reinecke, Gunnar Teuber, Herold Vomeer, Uwe Mayer / Roman Konzack, Peter Kurth, Neil Malik Abdullah.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

Solange die Film- und Videotechnik nur klärende Hintergrund-Illustration bleibe und "nicht mit sichtbarem Kameramann in den Szenen herumfuchtelt und sich breitmacht, hat sie durchaus Effekt", findet Peter Hans Göpfert im RBB Kulturradio (15.10.2012). Allerdings komme die Geschichte "nicht dramatisch in Fahrt. Sie findet auch nicht einmal einen zwingenden Rhythmus." Die Figuren müssten "den bleischweren Text abarbeiten und unentwegt sprechen und reden" – eine sichtbare Handlung gebe es nicht. Diese Inszenierung sei "eine Fehlinvestition".

"Mein lieber Scholli", stöhnt Andreas Schäfer im Berliner Tagesspiegel (15.10.2012). Aus seiner Sicht ist mehr als ein "blubb" aus dieser Adaption nicht herausgekommen. Dabei hat die Lektüre dieses Thrillers dem Kritiker eigenem Bekunden zufolge schier den Atem geraubt. Regisseurin Anna Bergmann habe allerdings, so Schäfers Einschätzung, "so lange auf die Aktualität des Stoffes gestarrt, dass sich im Schatten dieser Verkrampfung eine recht ausgeprägte logistische Überforderung (wie kriege ich die vielen Ebenen zusammen?) mit einer haarsträubenden Theaterbiederkeit verbunden und sich zähneklappernd radikalisiert hat."

Je länger die Theaterkunsthandwerkkiste so laut klappere, dass man sich mühen müsse, das Klappern von den Figurenworten überhaupt zu unterscheiden, desto ärger wird Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (15.10.2012) von der Frage bedrängt, "ob das Theater hier womöglich im falschen Film spiele. Dass es vielleicht gar nichts zu sagen habe". Bei Anna Bergmann werde jede Figur "zum Hauptsatz ohne Komma, ohne Nebensatz, ohne Doppelsinn". Die Schauspieler könnten nichts dafür, es liege, so Pilz, an der Regie, "die das Theater zur Vorspielanstalt macht, die nichts als einen bräsigen Botschaftsbrei ausspuckt." Der Roman hat diese Adaption aus Sicht des Kritikers nicht verdient.

Von "künstlichem Voranerzählen" spricht Simone Kaempf in der taz (15.10.2012). Zwar sei es durchaus als Coup zu betrachtetn, dass das Maxim Gorki Theater den erfolgreichen Thriller bereits ein Jahr nach Erscheinen auf die Bühne bringe. Zwar drehe die Regisseurin groß auf, aus Sicht der Kritikerin schafft es die Bühnenadaption trotzdem nicht, das erhoffte Eigenleben zu entwickeln. "Der Resonanzraum Realität bleibt meilenweit entfernt. Holger Stockhaus stolpert als Terrrorexperte Samson so gutherzig durch die Handlung, dass er eine Karikatur auf vermeintliches Expertenwissen abgibt."

 

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