Hakoah Wien - In Graz spürt Yael Ronen ihrer israelisch-österreichischen Familiengeschichte nach
Heimat als Begriff und Gefühl
von Reinhard Kriechbaum
Graz, 13. Oktober 2012. "Ich glaube, ich bin …", beginnt sie zögerlich. Er drauf: "Schwanger?". Sie: "… Jüdin." Fragt sich, was schlimmer ist. Für sie, für ihn, überhaupt. – Ein Beispiel für den pointierten Witz der israelische Theatermacherin Yael Ronen, der nicht dort Halt macht, wo gemeinhin die Political Correctness einsetzt. Dritte Generation hieß eine ihrer heftig diskutierten Arbeiten (eine Zusammenarbeit des Israelischen Nationaltheaters Habima mit der Ruhrtriennale und der Schaubühne Berlin). Immigration ist nicht mit ein, zwei Lebensaltern abgehakt. Hehre Ideen scheuern sich auch nach langen Zeitspannen an der Praxis wund. Genau das interessiert Yael Ronen.
Für "Hakoah Wien" hat sie nun Partikel ihrer eigenen Familiengeschichte hergenommen und ihren Bruder, den Schauspieler und internationalen Theaternetzwerker Michael Ronen für die Hauptrolle mitgebracht: Er spielt Michael Fröhlich, der in Wien mit einer der Familie bis dato unbekannten Frau aus der Vergangenheit seines kürzlich verstorbenen Großvaters konfrontiert wird. Die hieß eigentlich Fanja Sternberg*, hat aber in Österreich, nachdem der Freund partout nach Israel wollte, unter neuem Namen eilends eine arisch unverdächtige Existenz aufgebaut. Zur allgemeinen Spurensuche kommt es, weil Fania Sternbergs Enkelin Michaela im Nachlass der Großmutter Briefe von Wolf Fröhlich an sie gefunden hat.
Die Lebensqualitäts-Frage
Wolf Fröhlich war Mitglied im legendären jüdischen Wiener Sportverein Hakoah (hebräisch: Kraft). Er war überzeugter Zionist – Leute wie er waren jene, die "mit ihren eigenen Händen" das Land aufgebaut haben, leibhaftige, hehre Staatsgründer. Enkel Michael, in der israelischen Armee tätig, sieht die Heimat-Sache entschieden lockerer, wenn auch nicht entspannt. Weil er ein Sunny Boy ist und gewandt plaudert, soll er in Wien Vorträge halten und gute Stimmung machen für Israel. Aber da kommen ihm plötzlich Zweifel an der Lebensqualität daheim. In Europa heulen Sirenen nur bei Zivilschutzübungen, merkt er. Ist es wirklich die einzige Option für einen jungen Juden heutzutage, mit der Waffe in der Hand im eigenen Land zu leben? Michael Fröhlich beschließt, sich um einen österreichischen Pass zu bemühen.
Philosophieren im Fußballdress: "Hakoah Wien" © Lupi Spuma
Flotte Pässe auf dem Rasen, der die Welt bedeutet
Großvater ist zwar schon tot, aber als imaginäre unbewältigte Vergangenheit taucht er oft auf. In einer Szene reden er und der Enkel Tacheles, und Großvater Fröhlich kommt schon ordentlich in Rage beim Gedanken, dass der Junge sich einfach so davonmachen könnte. Manche Dinge getraut man sich aus Respekt vor früheren Generationen nicht mal recht zu denken – es sei denn, man heißt Yael Ronen. Bei der darf der junge Exilant in spe schon mal bramarbasieren, dass aus Israel dort, wo es ist, ja doch nichts Gescheites würde.
Eine kunterbunte Personnage vor einem schlichten Bühnenbild, einem senkrecht gestellten Fußball-Kunstrasen und ein paar grün überzogenen Kisten, aus denen sich das eine oder andere Ausstattungsstück aufklappen lässt. Birgit Stöger als Michaela Aftergut, Psychologin mit erhöhtem Frust-Potential, macht sich auf Spurensuche und muss daneben mit ihrem Mann (Knut Berger) fertig werden. Der ist eigentlich schwul und leidet unter seinem Dasein als Reserve-Torwart auf Dauer. Immer gewaltbereit, aber mit einer gemütvollen Seele ausgestattet ist der Fußballfan Ulf (Sebastian Klein), der als Prototyp für die tumbe Masse steht.
Halbfertige Gedanken erwünscht
Den Vogel schießt Julius Feldmeier ab. Im Heute spielt er die Transgender-Figur Sascha, im Damals den jungen Großvater Fröhlich, jammervoll in blassgrauem Antik-Fußballkostüm. "Ich als jüdische Erscheinung?", sagt er einmal, "da haben wir wirklich Kollegen mit längeren Nasen im Ensemble" – da ist er wieder, der latent boshafte Witz von Yael Ronen.
So viel lacht man jedenfalls selten an einem Abend, der um ernste Themen kreist. Es geht ohne Hakenkreuze ab, und ein KZ-Anzug kommt nur in der ersten Szene vor – als Kostümverwechslung. Man sieht: Man kann über Antisemitismus und jüdische Emigration ganz ohne einschlägige Versatzstücke reden. Keiner der vielen Handlungsstränge wird überstrapaziert und keiner aufgelöst. Das ist ein Trick der Theatermacherin. Man soll durchaus mit Fragen und halbfertigen Gedanken aus der quirlig-unterhaltsamen Performance gehen. Was lernen wir draus? Gar nichts am besten. Und wenn schon, dann dies: Heimat ist als Begriff und Gefühl nicht etwas, womit man Staat machen könnte. Nicht mal einen Staat Israel.
Hakoah Wien (UA)
von Yael Ronen & Ensemble
Regie: Yael Ronen, Bühne: Fatima Sonntag, Kostüme: Moria Zrachia, Dramaturgie: Regina Guhl.
Mit: Birgit Stöger, Michael Ronen, Knut Berger, Julius Feldmeier, Sebastian Klein.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.theater-graz.com/schauspielhaus
*Der falsch geschriebene Name "Tanja Sternberg" wurde nachträglich korrigiert in "Fania Sternberg" (siehe Kommentar Nr. 4).
"Sensationell" findet Norbert Mayer von der Wiener Tageszeitung Die Presse (15.10.2012) Yael Ronens Österreich-Debüt. Unbekümmert werde "in flotten 110 Minuten eine persönliche Geschichte erzählt, die den Hintergrund der allgemeinen, tragischen Geschichte klug aufhellt." Das Stück sei nach der Premiere zu Recht bejubelt worden, "denn nicht nur Michael Ronen brilliert als Vertreter einer neuen, kritischen Generation, sondern auch das junge Grazer Ensemble entzückt." Kein falsches Pathos, keine bewährte Literatur der Betroffenheit, sondern viel provokante Frische konnte der Kritiker in Graz erleben.
Bereits das erste Bild sei unglaublich komisch gespielt und vielsagendend, schreibt Colette M. Schmidt im Wiener Standard (15.10.2012). Der Abend erzähle mehrere Geschichten und zwar "virtuos miteinander verwoben": in all diesen Erzählsträngen entlarve die Regisseurin "Klischees und Tabus, die ihrer Generation bei der Identitätssuche im Weg stehen". Es würden Figuren gezeigt, die eine Heimat suchen: "In einem Staat, einer Religion oder einem Fußballverein. Die Schauspieler, die zu fünft alle Rollen spielen und teils Monologe selbst schrieben, sind ihr dabei ein großartiges Team." Besonders Michael Ronen bekommt Ovationen.
"Wunderbare Theatermagie" wohnt dem Abend aus Sicht von Werner Krause von der Kleinen Zeitung (15.10.2012) inne. Es handele sich um ein "ganz und gar rares Ereignis", nämlich einen "tiefsinnigen, berührenden, beglückenden Bühnenzauber, ermöglicht auch durch grandiose Mitwirkende: Brigitte Stöger, Knut Berger, Sebastian Klein, Julius Feldmeier und Michael Ronen als schauspielerischer Hochkaräter der Sonderklasse." Diese fast filmische Geschichte präsentiert sich aus Sicht dieses Kritikers "enorm stark, aber auch subtil und raffiniert verzahnt". Doch, so die Empfehlung: "Man schaue und staune selbst, möglichst rasch."
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Komplette Kritik: stagescreen.wordpress.com/2014/02/02/sie-wollen-doch-nur-spielen-2/
Ich habe "Hakoah Wien" heute in Berlin gesehen.
Das Modell dahinter fand ich spannend: Ein junger Israeli, der desertiert und sein Land verlässt, weil er nicht mehr in der Armee Palästinenser schikanieren will, trifft auf seinen Wiener Großvater, einen Zionisten, der Wien gerade noch rechtzeitig vor dem "Anschluss" verlassen hat, um seinem Volk eine eigene Heimat zu gründen.
Von dieser brisanten Auseinandersetzung wird leider abgelenkt durch eine melodramatische Identitätskrisen-Geschichte einer selbstgefälligen Wienerin, die entdeckt, dass sie (qua Großmutter) Jüdin ist.
Ich gebe zu, dass es in den 20er, 30er Jahren angesichts des grassierenden und dann institutionalisierten Antisemitismus‘ Autoren gibt, die sich auf bewegende Weise mit der ihnen auf einmal aufgezwungenen Frage, was es heißt, Jude zu sein, auseinandergesetzt haben. Ich gebe zu, dass das übertragbar sein könnte auf Menschen in unserer Gegenwart, die sich auf einmal mit Islamismus-Zuschreibungen etc. auseinandersetzen müssen, obwohl sie sich als Deutsche fühlen. In "Hakoah Wien" bleibt das für meinen Geschmack an der Oberfläche des Wohlstandsbürgertums und der Lebenshilfe-Literatur.
Umso mehr habe ich bedauert, dass das andere Thema, der nach Wien emigrierende und desertierende Israeli, nicht ernster genommen wurde. Ein Stück, das dieses Thema wirklich bis an die Schmerz- oder meinetwegen auch Lächerlichkeitsgrenze geführt hätte, hätte ich gerne gesehen.
Da die inhaltliche Auseinandersetzung nicht so weit vorstieß, war die Erzählform des Abends interessanter als der Inhalt.
Sehr, sehr schade...
Und noch etwas war Anlass zu dieser Wortmeldung: In der Kritik wird Michaela Afterguts Großmutter als "Tanja Sternberg". Sie heißt aber Fania Sternberg. Wie Fania Fénelon, der Verfasserin des "Mädchenorchesters von Auschwitz". Birgit Stöger spricht sie seltsamerweise konsequent Franja (also wie Tanja) aus. Und so steht es auch in den englischen Obertiteln. Ist das peanuts oder sagt das etwas über die Hemdsärmeligkeit dieses Abends?
für die Redaktion nikolaus merck