In Alltagsschluchten

von Daniela Barth

Hamburg, 13. Oktober 2012. 60 Jahre nach seinem Tod, Anfang vergangenen Jahres, avancierte Hans Falladas Roman "Jeder stirbt für sich allein" in erstmals unveränderter Ausgabe zum internationalen Bestseller. Es ist der erste Widerstandsroman eines nicht emigrierten Schriftstellers, verfasst gerade mal in vier Wochen, nach einem wahren Fall. Für Regisseur Luk Perceval, der mit seiner Fallada-Adaption des Romans Kleiner Mann – Was nun? 2010 zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, birgt dieser Stoff "utopische Sprengkraft", weshalb er ihn – von ihm selbst und Dramaturgin Christina Bellingen bearbeitet – jetzt auf die Bühne des Thalia Theaters bringt.

"Der Führer hat mir meinen Sohn ermordet!" – mit diesem Satz auf einer Postkarte beginnt der ungewöhnliche, leise Widerstand eines einfachen Arbeiterpaares während des 2. Weltkriegs in Berlin. Fallada erzählt deren Geschichte, die nach dem Kriegstod des Sohnes mit einfachsten Mitteln den Kampf gegen die Maschinerie des Nazistaates aufnehmen. Über 200 handgeschriebene Postkarten und Briefe, abgelegt auf Treppen und Hausfluren willkürlich ausgesuchter Wohnhäuser, verteilt das Paar in den Jahren 1940 bis 1942.

Mikro- und Makrokosmos spiegeln einander
Die Inszenierung, in welcher die Handlungsstränge sich nahtlos aneinanderreihen, schildert sehr eindringlich die miteinander verwobenen Schicksale einer Reihe von Personen. Alle leben im Umfeld der Quangels oder sie sind mehr oder minder durch die Postkartenaktion betroffen. Es dauert eine Weile, bis Auge und Hirn die drei Dimensionen auf der Bühne des Thalia Theaters einzuordnen imstande sind; bis die alltägliche Sehgewohnheit der schnell aufflackernden und aufeinander folgenden Szenen durchbrochen und der Betrachter des Universums gewahr wird, das sich in Percevals Fallada-Adaption im schwarzen, weit geöffneten Bühnenraum etabliert. Im Hintergrund – senkrecht an die Wand gebracht – der Makrokosmos: Berlin als Modell, das sich aus tausenden von Alltags- und Gebrauchsgegenständen zusammensetzt – teilweise sogar originalen aus den 1940er Jahren, gesammelt auf Flohmärkten und bei Trödlern. Telefone, Waschzuber, Handtaschen, Tabakschachteln, Bürsten, Kämme, Töpfe, Geigenkästen, Spielsachen, Bücher – daraus sind die Straßen und Schluchten Berlins gebaut. Ein Berlin im Kriegszustand, dem sich kein Haushalt entziehen kann – auch der des stillen, dem Nazi-Regime angepasst lebenden Ehepaars Anna (Oda Thormeyer) und Otto Quangel (Thomas Niehaus) nicht.

Jeder2 560 KrafftAngerer hJeder stirbt – und kämpft – für sich allein © Krafft Angerer

Hier – in diesem großartigen Bühnenbild von Annette Kurz – wird uns Novalis' Einsicht über Mikro- und Makrokosmos konkret vor Augen geführt: Das Größte spiegelt sich im Kleinsten, das Kleinste im Größten. Und obwohl diese Gebrauchsgegenstände schon Patina angesetzt haben, lässt sich das Leben von anno dazumal auf, mit und in ihnen nachspüren.

Drei Erzählebenen
Im Zentrum des Raumes steht ein Tisch, um den sich das Personal – in Schlüsselszenen auch chorartig, stumm mahnend – gruppiert. Das reine Spiel generiert aus der Fantasie immer neue Dimensionen: Arbeiterstube, WC, Verhörraum oder Todeszelle… Dabei entsteht zeitweise eine ungeheure Intensität: Das Objekt Tisch etwa verbindet das Ehepaar Quangel beim Schreiben der Karten, aber den Kriminalkommissar Escherich (André Szymanski) trennt es von seinem sadistischen Vorgesetzten SS-Obergruppenführer Prall (Barbara Nüsse).

Doch der Fokus wird nochmals erweitert: An der Rampe entsteht die dritte Ebene durch an das Publikum gewandte Aparts der Figuren. Luk Perceval verwendet eine durchdachte Mischform von Dialog und epischem Fluss. Das wirkt, als würden die Figuren ein Brennglas vor sich halten und übt eine ungeheure Kraft auf den Beobachter aus, der über vier Stunden lang in die Geschichte hinein gesogen wird, in der "reichlich viel gequält und gestorben wird", wie es Hans Fallada selbst beschrieb.

Zerrissenheit lakonisch dargestellt
Die alte Jüdin Rosenthal – Gabriela Marie Schmeides Monolog der gebrochenen Frau macht Gänsehaut – wird in den Selbstmord getrieben, der Gerichtsrat a.D., der "blutige" Fromm (Barbara Nüsse) avanciert zum Vertreter der Gerechtigkeit, und Trudel Baumann (Maja Schöne), einst Verlobte des gefallenen Sohnes der Quangels und ihr Ehemann Karl Hergesell (Mirko Kreibich) werden ihr ungeborenes Kind verlieren und schließlich selbst sterben. 

Percevals wundervolles Schauspieler-Ensemble versteht es, Stille, Verletztheit, Nachdenklichkeit oder Zynismus und Brutalität ebenso meisterhaft darzustellen wie ins Groteske gesteigerte Komik. Besonders überzeugend André Szymanskis Darstellung des Kriminalkommissars Escherich, mehr karrierebewusster Mitläufer als glühender Nazi: Szymanski spielt die Zerrissenheit seiner Figur lakonisch und macht den Zuschauer so zum Komplizen – erschreckend. Und symptomatisch für die Stärke dieser Inszenierung, die keine ihrer Figuren in Nichtigkeit abgleiten lässt. Jede/r hat ihre/seine Bedeutung in dieser – ja, ziemlich schrecklichen und grausigen Story, die uns, so erzählt, die Frage dringlich macht: Wie hätten wir uns damals verhalten?

 

Jeder stirbt für sich allein
nach Hans Fallada
In einer Fassung von Luk Perceval und Christina Bellingen
Regie: Luk Perceval, Bühne: Annette Kurz, Kostüme: Ilse Vandenbussche, Musik: Lothar Müller, Licht: Mark Van Denesse, Dramaturgie: Christina Bellingen.
Mit: Benjamin-Lew Klon, Mirco Kreibich, Daniel Lommatzsch, Thomas Niehaus, Barbara Nüsse, Gabriela Maria Schmeide, Maja Schöne, Cathérine Seifert, Alexander Simon, André Szymanski, Oda Thormeyer.
Dauer: 4 Stunden 15 Minuten, zwei Pausen.

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

Durch das "perfekt geführte Wechselspiel" zwischen Dialog- und Erzählebene lebe der innere Fluss des Geschehens, der auch über die Marathon-Distanz von vier Stunden keine Sekunde langweile, schreibt Werner Theurich auf Spiegel online (14.10.2012). Sowohl Percevals "Theatergespür" als auch das "Ensemble voll großartiger Solisten" sorge dafür, dass "vor allem die Kontraste zwischen greller Komik und äußerster Kälte und Brutalität" in packender Dichte schimmerten. Die Regie enthalte sich dabei aller vordergründigen Gewalt, die man hätte zeigen können. "Es floss kein Blut und keine wohlfeile Bühnenfolter fand statt - nur in den Köpfen des Publikums, dessen Phantasie reichlich gefüttert wurde." Theurich notiert enthusiastischen Premierenbeifall für Darsteller und Regie, "auch in dieser Länge ein faszinierender und spannender Abend, brillantes Schauspielertheater."

Stefan Grund von der Welt (15.10.2012) schwärmt von dem  "geradezu überwältigend vielschichtigen Bühnenbild" von Annette Kurz: "Dieses Bild, ein Kunstwerk, ist so offen und verrätselt zugleich, dass es auch nach diesem langen Abend nicht entschlüsselt ist." Das "Leben auf der Straße, in Berlin, um die Quangels herum" habe Perceval "mit leichter Hand auf die Bühne geworfen." Mit einem überraschend schnellen Ende lasse Perceval jedoch "den Abend auslabbern". Dass ihm "kein ganz und gar überragendes Stück gelungen" sei, liege "aber an einem anderen Problem": Bei den kleineren Nazi-Lichtern gestatte Perceval "den Schauspielern, sie als Karikaturen zu spielen und das geht in diesem Rahmen völlig nach hinten los." Für Momente wirkten diese Figuren zwar lustig, sie "werfen die Zuschauer aber aus dem Drama wie eine Werbeunterbrechung".

Luk Percevals "konzentrierter Minimalismus" erreiche "in diesem mühelos über vier Stunden tragenden Abend eine neue Dimension", meint Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (15.10.2012). "Die psychologische Grundsituation des Romans kondensiert Perceval auf eine gültige Essenz, die mit der von ihm und Dramaturgin Christina Bellingen zugespitzten Stückfassung aufs Feinste korreliert." Der Abend sei "weniger installativ als andere Arbeiten Percevals, aber nur vordergründig episches Dialog- und Erzähltheater, denn dahinter kehrt er unerbittlich archaische Gefühle hervor, lässt seine Darsteller verausgabend toben, brüllen, schwitzen und rennen. Dem Zuschauer präsentieren sich die Figuren wie unter einem Brennglas als sowohl Handelnde wie Reflektierende." Mit großem Gespür lote "das Ensemble alle tragischen Facetten von Angst, Zynismus, Zartheit, aber auch der Groteske bis zur Knallcharge aus."

Wie schon beim "Kleinen Mann" zeige sich Perceval "auch hier wieder erstaunlich inhaltstreu", schreibt Volker Corsten in der Frankfurter Allgemeinen (15.10.2012). "Fröhlich schief und bewusst immer einen Hauch neben ihrer Rolle" lägen die Schauspieler in Percevals Stückfassung, "die fast nur Hauptrollen, aber keine beherrschenden kennt. Mit großer Souveränität bewegen sie sich immer haarscharf am Rand der Schmiere, besonders wenn es in die Welt der Berliner Kleinkriminellen geht." Abgesehen "von kleinen Ausrutschern" hole Perceval "mit seinem fein abgestimmten Ensemble aus dem Stoff die maximale Komik heraus, ohne den tragischen Kern zu verraten. Er besteht, anders als im 'Kleinen Mann', nicht aus Liebe, sondern aus Angst."

Es sei "erstaunlich, wie viele Handlungsstränge des ausufernden Romans Perceval und seine Dramaturgin Christina Bellingen (…) unterbringen", schreibt Anke Dürr in der Frankfurter Rundschau (15.10.2012). Die Inszenierung beginne "ganz konzentriert, vieles wird von den betroffenen Personen nur berichtet, oft im Wechsel mit kurzen Dialogen, und doch entstehen stimmige Mini-Porträts der Figuren". Die "nüchterne Konzentration der Erzählweise" treibe dem Autor das Niedliche, Betuliche aus". Am Ende des ersten Teils gestatte sich Perceval aber "den ersten Ausbruch in die Karikatur", und diese "Überzeichnungen beherrschen dann leider den zweiten Teil des Abends". Doch mit dem "Glauben an Falladas Botschaft haben Perceval und seine Schauspieler, auch dank des großen Orientierungsplans in ihrem Rücken, trotz einiger Stolperer einen sicheren Weg durch den Roman gefunden."

Im Zentrum "dieser rundum gelungenen Inszenierung" herrsche die fühlbare Angst, so Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (16.10.2012). Jede Figur besitze "in dieser Übertragung einen zeitgenössischen Appell", zeige "Chancen der Beherztheit, die weit über das geschichtliche Beispiel oder die Parabel hinaus gehen". Sein Fazit: "Wenn Theater sich noch jener moralischen Verantwortung stellen will, einmal ohne ironische Distanzierung oder drastische Symbolik über politische Handlungsfähigkeit zu sprechen, dann bekommt es in Percevals Inszenierung ein Beispiel geboten, wie das aussehen könnte. Sehr konkret nämlich, und das ist im zeitgenössischen Theater schon so lange als konservativ verpönt, dass es in dieser Kraft geradezu erfrischend neu und modern auftritt."

Hans Falla scheint Peter Kümmel im brachialen Regisseur Perceval eine fürsorgliche Seite zu wecken. Perceval sporne seine ausnahmslos großartigen Spieler zu lauter Kabinettstücken der guten alten Darstellungskunst an, schreibt Kümmel in der Zeit (18.10.2012). Zwar werde eine Vielzahl von Figurenvon lediglich elf Schauspielern auf die Bühne geführt und dort betreut, es sei das Gewimmel des gängigen Schauspieler-erzählen-Romane-Theaters zu sehen, und man höre das übliche Stimmengewirr eines inszenierten Hörbuchs, "aber in diesem Gewimmel und Gewirr herrscht eine solche Liebe der Spieler zu ihren Figuren, dass man nicht müde wird, zu sehen und zu hören." Alle seien dem Untergang geweiht, gerade das nehme den Regisseur für sie ein. Das Provisorische, Zugige des gespielten Romans fahre durch diese Inszenierung. "Angst und Liebe sind die großen Kräfte in diesem Stück." Luk Perceval sei ein Kunststück gelungen: "Er hat das Gleichgewicht zwischen beiden Kräften hergestellt, so dass man beim Zuschauen von beiden ergriffen wird und an beide glaubt. Aber an die Liebe ein bisschen mehr."

Stimmen zum Gastspiel der Inszenierung beim 50. Berliner Theatertreffen 2013:

"Mit viel Aufsagetheater, elf Akteuren und ein paar vereinzelt besonderen Momenten von Oda Thormeyer und Thomas Niehaus als den Quangels" und einem "hervorstechenden Daniel Lommatzsch als tragischem Strizzi" trete diese Inszenierung in Berlin auf, berichtet Peter von Becker im Tagesspiegel (7.5.2013). Gegenüber der Zadek-Inszenierung des Stoffes 1981 im Berliner Schillertheater weise Percevals Abend "kaum einmal über sich hinaus, sie ist im Gestus und in den Kostümen (ohne Hakenkreuze u.ä.) eher zeitlos, ortlos" und biete nur ein "ein schlichtes, schlimmes Märchen".

Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (7.5.2013) hat Seufzer vom Berliner Premierenpublikum vernommen: „Endlich mal wieder richtiges, normales Theater." Man erlebe eine "sich gegenseitig konterkarierende Spielweise, die von großer, ernster Einfühl-Duselei bis zur albernen Stummfilmklamotte reicht". Bald komme ein "Wohlgefühl" auf, "nach dem Motto, hier wird noch ordentlich Literatur, Inhalt und Milieu transportiert. Hier kann man dem Geschehen einfach mal so folgen, hier bleibt man beim Thema, hier gibt es keine Ironie, keine zu entschlüsselnde Formsprache, keine selbstreflexive Sprachkritik. Diesen Abend kann man sich umstandslos zu Gemüte führen wie eben einen Fallada-Roman."

Für nachtkritik.de (7.5.2013) besprach Esther Slevogt das Theatertreffen-Gastspiel der Produktion in einem Shorty.

 

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