Echos der Vergangenheit

von Elisabeth Michelbach

Nürnberg, 19. Oktober 2012. Greise haben Konjunktur. Sei es der "100-jährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand" oder die "Frau bei 1000°" – die muntere Lebensrückschau rüstiger Senioren findet gerade viele Leser. Man könnte meinen, der 88-jährige Gustin, der Noah Haidles Stück "Saturn kehrt zurück" eröffnet, sei einer dieser selbstironischen Methusalems, die mit Witzen über das Alter bei der jungen Krankenschwester zu landen versuchen. Doch Gustin schaut nicht auf ein bewegtes, ein gelebtes Leben zurück. Allein zurückgeblieben beschwört er die Geister seiner Vergangenheit herauf, die für ihn einfach nicht vorbei gehen will.

saturnkehrtzurueck 560 marionbuehrle uHeimo Essl in "Saturn kehrt zurück" © Marion Bührle

Kaum beginnt er der Krankenschwester Suzanne zu erzählen, lösen ihn seine Alter Egos auf der Bühne der Nürnberger Kammerspiele ab: Wir sehen Gustin als 58-Jährigen Grobian in der Auseinandersetzung mit seiner erwachsenen Tochter Zephyr, die verzweifelt versucht sich von ihrem Vater zu lösen. Weitere 30 Jahre zuvor, verliebt und jung verheiratet, beklagt er sich über die Forderungen einer stets präsenten Schwiegermutter. Rainer Matschuck, Heimo Essl und Julian Keck stellen den alten, den mittleren und den jungen Gustin vor. Den drei Schauspielern gelingt es, Gustin in seinem jeweiligen Lebensalter zu profilieren und ihn zugleich als einheitlichen Charakter zu bewahren.

Verschwimmende Konturen

Die Einheit, die Gustins Leben unterteilt, sind die 29 Jahre und 166 Tage, die der Saturn braucht, um die Sonne zu umrunden. Ebenso alt sind die Frauen an Gustins Seite. Die Krankenschwester Suzanne, Gustins tödlich verunglückte Tochter und seine im Kindbett gestorbene Frau werden allesamt meisterhaft von Josephine Köhler gespielt. Köhler grenzt die verschiedenen Figuren zu Beginn des Abends noch scharf voneinander ab: Zuerst gibt sie die um professionelle Distanz bemühte Krankenschwester, darauf die sorgende Tochter und dann die unsichere, anhängliche Ehefrau. Zunehmend aber verschwimmen die Konturen ihrer Frauenfiguren: Die Tochter trägt die Frisur der Mutter, die strenge Miene aber erinnert an die Krankenschwester, deren Outfit wiederum das Abendkleid der Ehefrau aufgreift und deren Erfahrung mit ihrem Freund, den Streit vorwegnimmt, der zwischen dem jungen Gustin und seiner Ehefrau erst noch zu sehen sein wird.

saturnkehrtzurueck 280a marionbuehrle uJulian Keck und  Josephine Köhler in "Saturn kehrt zurück" © Marion BührleAn diesen Stellen, wo Regisseur Berutti die in Haidles kluger Komposition bereits angelegten unscharfen Grenzen zwischen den Jahrzehnten zusätzlich verwischt, läuft seine Inszenierung zu Höchstform auf: Da stehen sich der 58-jährige Gustin und sein greises Alter Ego auf ihren nächtlichen Touren durchs Haus kurz staunend gegenüber. Da folgt der 88-Jährige wie hypnotisiert seiner jungen Ehefrau. Da findet der wütende Vater einen Schuh von Suzanne und stopft ihn in den Koffer seiner Tochter. Und da gerät der Abschied von Vater und Tochter zu einer Eifersuchtsszene am Ende einer Liebesbeziehung. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen gegen Ende des Stücks zu Szenen eines Lebens, die alle gleichermaßen präsent sind. Nein, Gustin hält keine Rückschau. Er lebt mit den Echos der Vergangenheit, die von den Wänden seines Hauses wiederhallen und in der Gegenwart aufgehen. 

Urszene des Unglücks

Schwächen zeigt Beruttis Inszenierung immer da, wo er der Wirkung des Textes nicht vertraut und ihn illustriert: Die dick geschminkte Beinwunde der Krankenschwester, an der sich der alte Gustin quälend lange abmüht, hätte es ebenso wenig gebraucht wie die doch sehr klebrigen Soundeinspielungen. Leider erinnerte auch Rudy Sabounghis Bühnenbild eher an das Zimmer eines planetenbegeisterten Grundschülers, als an die Ewigkeit eines gleichmütigen Universums.

Am Ende gibt es ihn dann, den versonnene Rückblick: Der 58-jährige und der greise Gustin betrachten die Liebesszene der Eheleute. Die Zeugung der Tochter ist Erinnerung an höchstes Glück – und zugleich Urszene des Unglücks, das sich bis in die Gegenwart fortpflanzt.

 

Saturn kehrt zurück (DEA)
von Noah Haidle, übersetzt von Brigitte Landes
Regie: Jean-Claude Berutti, Ausstattung: Rudy Sabounghi, Dramaturgie: Diana Insel.
Mit: Rainer Matschuck, Heimo Essl, Julian Keck, Josephine Köhler
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-nuernberg.de

 

Kritikenrundschau

Birgit Nüchterlein schreibt in den Nürnberger Nachrichten (22.10.2012): Es dauere eine ganze Weile, bis die Aufführung "in die Gänge" komme". Doch was anfangs "streckenweise den Charakter eines szenischen Hörspiels" habe, bekomme bald "dramatische und unterhaltsame Substanz". Dass Gustin von drei verschiedenen Schauspielern, seine Lebensabschnittsgefährtinnen jedoch nur von einer einzigen Darstellerin verkörpert würden, mache "unbedingt Sinn". Gustin habe sich ein "Frauenbild geschaffen, mit dem er all seine Begleiterinnen abgleiche", das gebe ihm "Stabilität im Lauf der Zeit". Noah Hauidle erinnere an den Dramatiker Eugene O'Neill, wenn er nach und nach die Schichten seiner Hauptfigur bloßlege, sie gleichsam durchleuchte.

Hans-Peter Klatt schreibt in der Nürnberger Zeitung (22.10.2012): er sei "verzaubert" gewesen von der "Poesie in den hochkonzentrierten Sätzen" Noah Haidles. In "Saturn kehrt zurück" finde sich eine "tiefere Weisheit von der Umlaufbahn des Menschenlebens". Die "dreischichtige Lebensgeschichte" habe "mythologische Dimensionen". Beruttis Regie übersetze Haidles "geniales Textgewebe" in "subtile, aber aussagekräftige" Bild-Momente. Berutti sei überhaupt als "Glücksgriff für das Nürnberger Schauspiel" zu rühmen, er zeige seine "Meisterschaft allein schon in der Art wie er Pausen setzt", um die Sprache beim Atemholen zu beobachten, ihr dann Raum zu geben sie in ferneren Weiten verklingen und als Echo zurückwehen zu lassen". Josephine Köhler, der "wohl vielversprechendste Nachwuchs" im Ensemble, überzeuge in den Rollen aller drei Lebensgefährtinnen Gustins. Sie kenne die "bange Unsicherheit und die Tränen der Kränkung" einer noch "ungefestigten Frau", genauso verkörpere sie auf "zärtliche und sehnsuchtsvolle Art" die Tochter vor dem Abschied vom Vater. Sigurd Hösl-Taubes Lichtregie lasse das Bühnenbild "galaktisch aufleuchten", der ganze Abend sei ein "ungetrübter Theatergenuss", sei schlicht "grandios".

 

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