Die Weisheit der Indianer

von Georg Kasch

Berlin, 20. Oktober 2012. "Ich bin so erschöpft", brüllt Fabian Hinrichs in Mikro. Hinten mahlt die Band einen Klangwiderstand, wummert und rummst, vorne erzählt Hinrichs davon, dass man oft die größten Wünsche nicht mehr so toll finden würde, sobald sie sich erfüllten, weshalb man sich dann ein neuen Ziel suchen muss. "Die Zeit schlägt dich tot!", ruft Hinrichs, dazu peitscht der Beat apokalyptische Schreie.

Wenn das alles Originalton Hinrichs wäre, müsste man sich ernsthaft Sorgen machen um den Schauspieler. Was wie Burnout klingt, ist aber nur Stücktext, erdacht und geschrieben von ihm im Auftrag von Foreign Affairs, dem neuen Festival der Berliner Festspiele. Wobei Stück größer klingt, als "Die Zeit schlägt dich tot" ist – ein Monolog, der ein paar gängige, ziemlich kulturpessimistische Thesen zusammenzwingt und mit lustigen Pointen (wie der Reim "Ehen gehen auseinander / Kinder heißen Karl-Leander"), Satzwiederholungen und wie improvisiert klingenden Liedern. Im Kern geht es um die Krise an der Gegenwart, die Erschöpfung an der Stadt, den Sinn des Lebens – und die Sehnsucht danach, die Vereinzelung aufzuheben.

Karl-Leander und der Sinn oder Fernsehprediger auf Rollrasen

Inszeniert hat Hinrichs das Ganze selbst, wobei auch dieses Wort größer klingt, als es im Haus der Berliner Festspiele aussieht. Der Schauspieler tigert wie sonst bei René Pollesch von links nach rechts und zurück über die Bühne, die hier ein echtes Stück Rollrasen ist, spricht oft ins Mikro und illustriert seine Aussagen mit ungelenken Gesten. Dass er diesmal mehr als üblich wie ein amerikanischer Fernsehprediger wirkt, könnte an den Untertitel gebenden "ganz großen Fragen" liegen, die Hinrichs verhandelt. Daran, dass er das Wort "einsam" etliche Male wiederholt und dabei mit dem Zeigefinger immer andere im Publikum adressiert. Daran, dass er verbal mit uns abhebt: "Wir fliegen heute nicht nach Düsseldorf, sondern an einen Ort, an dem der Schmerz sein kann." Daran, dass er später ins Parkett läuft, dort Menschen übers Haar streicht, sie umarmt und uns alle dazu bringt, unseren Nachbarn anzuschauen und ihm oder ihr im Chor zu sagen: "Du siehst gut aus."

fabian hinrichs die zeit schlaegt dich tot c william minke 03Foreign Affairs: Fabian Hinrichs in "Die Zeit schlägt dich tot" in Berlin. © William Minke Manchmal stellt er sich zur Band aus Komponist Jakob Ilja ("Element of Crime"), Nikko Weidemann, Niels Lorenz und Carolina Bigge und webt an der E-Gitarre mit am melancholischen Rock-Requiem, mal baut er ein Krocket-Spiel auf und verfehlt das Tor (was ihm wiederum Anlass zu einem tragödischen Wutausbruch liefert, aber hier will ihm das Publikum nicht recht folgen bei einem himmelschreienden "Warum?"), mal sitzt er in einer Art tragbaren Sauna und liest stumm in "Die Weisheit der Indianer".

Zitatenfreudige Wutfeier

Vieles erinnert an Polleschs Hinrichs-Abende wie Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang!, Der perfekte Tag und Kill your Darlings!. Im Vergleich allerdings bleibt "Die Zeit schlägt dich tot" szenisch beliebig, und das, was Pollesch-Texte oft so faszinierend macht, dieser kaum zu fassende Mahlstrom aus Theorien und Trash, geht hier nie über die oft grinsend gebrochene Anklage eines Wohlstandskindes hinaus. Hinrichs weiß das, immerhin: Mal sitzt er wie ein kleiner Junge mit ausgestreckten Beinen auf dem Rasen und zupft gedankenverloren am Gras, mal lächelt er uns ironisch an zwischen seinen pathosschwangeren Sätzen, gerne auch bei den vielen Texthängern, als wolle er sagen: Entspannt euch, ist alles halb so wild. Dann wieder hopst er auf einem orangenen Springball herein, auf dem dick "ICH" steht und lässt die Luft raus – aber mit einem derart plakativen Tod des Egos ist keine neue Gemeinschaft geschaffen.

Die formiert sich dank der vielen Hinrichs-Fans allmählich zwischen Parkett und Bühne – wir alle werden zum Teil dieser kindlichen Wutfeier, ein bisschen zeitgeistig, ein bisschen stadtneurotisch, ein bisschen beliebig. Begonnen hatte der Abend mit einer schönen Anrufung der Geister, Fritz Kortner, Bernhard Minetti und Maria Wimmer etwa (womit immerhin gleich klargemacht wird, dass früher auch nicht alles besser, nur anders war) und einem Ausflug zu Hölderlins "Empedokles". Der beschreibt in seinem Einstiegsmonolog ja die – im Nachhinein als befreiend empfundene – Vertreibung aus der Stadt in die Natur. Wie Hinrichs hier an einem Seil über die Bühne pendelte und Jamben zerdehnte, hatte noch die Größe eines nicht begriffenen Pathos. Was danach kommt, lässt sich so zusammenfassen: "Eine Idee ist bei uns nur die Verbindung aus zwei Zitaten", sagt Hinrichs einmal. Für diesen Abend stimmt's.

 

Die Zeit schlägt dich tot (UA)
Ein musikalischer Monolog über die ganz großen Fragen
von und mit Fabian Hinrichs
Musik und Komposition: Jakob Ilja, Konzeptionelle Mitarbeit / Raum: Jürgen Lehmann, Kostüme: Victoria Behr.
Mit: Fabian Hinrichs, Jakob Ilja, Nikko Weidemann, Niels Lorenz, Carolina Bigge.
Eine Produktion von Berliner Festspiele / Foreign Affairs in Koproduktion mit Hebbel am Ufer / Berlin sowie mit Ringlokschuppen Mülheim, Stadsschouwburg Amsterdam, Le Maillon-Théâtre de Strasbourg und Kaserne Basel
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.berlinerfestspiele.de

 

Kritikenrundschau

Volker Trauth schreibt auf dem Internetportal von Deutschlandradio Kultur (20.10.2012): In dieser "Soloerzählung" verschränkten sich eigene und "vorgeformte Texte". Es beginne mit Ausschnitten aus dem "Empedokles" des Friedrich Hölderlin, dann nähme Hinrichs den Großstadtmoloch Berlin ins Visier, im Folgenden fürchte er "in mehreren Anläufen den Verlust der Individualität" und rufe zur "Bewahrung des Unterschieds zwischen den Menschen" auf. Am Ende tauche die "bange Frage" auf: "Gibt es denn gar nicht Neues mehr?" Hinrichs szenisches Spiel münde in "die Suche nach den Zwischentönen und den abrupten Wechsel extremer schauspielerischer Haltungen". Die "unbeirrbare Behauptung der eigenen Individualität" stehe neben "wütender Klage" und ängstlicher Frage. "Ermüdend" aber seine "absichtsvoll eingesetzten Wiederholungen". Da verliere das Unternehmen seine unaufdringliche spielerische Leichtigkeit.

Was diesen Abend genau dazu prädestiniert, beim Festival Berliner "Foreign Affairs" vorzukommen, erschließt sich Rüdiger Schaper vom Berliner Tagesspiegel (22.10.2012) nicht so ganz. Denn es gehe eine Stunde lang um Berlin. Das aber offenbahr sehenswert: "Die Performance ist schief und krumm, aber großstädtisch. Sie trifft einen Nerv."

Hinrichs spreche nicht einfach, "sondern er schmiedet die Worte wie Raumsonden", elogiert Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (22.10.2012). "Er entnimmt sie dem Schmelzofen seines Hitzkopfs, formt sie mit allen dafür zur Verfügung stehenden Sprechwerkzeugen. Dann betankt er sie großzügig mit seiner Stimme und setzt sie auf eine sichere Flugbahn, auf dass sie nicht gleich abstürzen, wenn man sie mit den Schwergewichten der Bedeutung befrachtet." Mit dem Zuschauer hebe Hinrichs ab, zum Zuschauer steige Hinrichs herunter. Manche berührt er der Auskunft des Kritikers zufolge auch - in vielerlei Hinsicht, versteht sich.

Glatt und selbstgefällig findet Andreas Fanizadeh von der taz (22.10.2012) Hinrichs Berlin-Kritik. Punk sei das nicht, stellt er achselzuckend fest, sondern "selbstbezügliche Schauspielerhirnsuppenregiebastelei". Hinrichs lasse in jeder Sequenz erkennen, dass er es ironisch meint. "Immer schön die Szenen brechen, man will ja nicht tatsächlich für unterkomplex gehalten werden. Der irre Blick und das süße Lächeln, Leidenschaft und Charme wirken hingegen am ehesten noch, so er den direkten Kontakt mit dem Publikum sucht."

 

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