Die Turnhalle der Visionäre

von Christian Rakow

Berlin, 25. Oktober 2012. Als der Maler Mark Rothko 1958 beauftragt wurde, mit einem Bilderzyklus das kurz vor der Eröffnung stehende Restaurant des Hotels "Vier Jahreszeiten" in Manhattan zu "dekorieren", war ihm klar, welchem Ort er sich da andienen sollte: "a place where the richest bastards in New York will come and show off". Und für deren Anliegen hatte Rothko eine passende Konzeption parat (man muss sie ob der ausgesuchten Tonlage im Original wiedergeben): "I hope to paint something that will ruin the appetite of every son-of-a-bitch who ever eats in that room."

Der Wille zur unbedingten Kunstgeste

Geschaffen hat er dann eine Reihe Wandbilder in sphärischen Farbfeldkompositionen, die ihren Betrachter förmlich verschlucken, die ihn aus seiner Realität heraussaugen. Abstrakte, blutrote, dunkle Bilder. Dem Restaurant hat er keines davon überlassen. Gute zehn Jahre später erwarb die Tate Gallery in London einige Gemälde der als "Seagram Murals" bekannt gewordenen Serie und richtete für sie einen eigenen Museumssaal ein, einen Ort zur Kontemplation. Mit der ursprünglich intendierten Geschmacksversäuerung hat das vermutlich nicht mehr allzu viel zu tun. Der Gourmetschrecken hat sich in eine transzendente Bildkunst aufgelöst, die angemessener Weise einen quasi sakralen Ausstellungsraum gefunden hat.

Rothkos Verweigerung des "Bilderkonsums" gegenüber den "Vier Jahreszeiten" hat Theatermacher Romeo Castellucci zu seiner Rothko-Variation "The Four Seasons Restaurant" angeregt, wie er im auskunftsfreudigen Beiblatt zu seinem Gastspiel beim Berliner Festival "Foreign Affairs" mitteilt. Und man sieht seiner Arbeit durchaus die gedankliche Verwandtschaft mit Rothkos abstraktem Expressionismus an: im Willen zu einer unbedingten, autarken, alles überschreitenden Kunstgeste.

Turnhallen-Weltuntergang

Mit einer Geräuschorgie aus den Tiefen des Weltalls lässt Castellucci seinen Abend beginnen (es sind hämmernde und schnarrende Töne, die die Strahlungen eines Schwarzen Lochs im Sternbild Perseus für das menschliche Ohr erfassen). Alles endet mit einem bombastischen Sturm aus Federn auf abgedunkelter Bühne, als gehe die Welt in einem Strudel unter. Imposant. Eine Reise von Auslöschung zu Auslöschung. Nur leider liegt dazwischen auch noch etwas: die Theaterwirklichkeit diesseits des erhabenen Abgrunds.

fourseasonsMütterliches Liebkosen nach der Geburt auf der Opiumfarm © Cristophe Raynaud de Lage

Und die sieht so aus: In einer Turnhalle vor einer Sprossenwand erscheinen nach und nach zehn junge, bildschöne, gertenschlanke Performerinnen in bäuerlicher Tracht. Sie schneiden sich mit großen Scheren die Zungen ab, wimmern gequält, antrainiert leidvoll. Ein dahertapsender Hund darf sich an den Fleischstücken laben, während sich die Frauen an die Hände fassen und andachtsvoll einen Reigen formen. Wo Verstummen ist, wird neue Sprache sein, lehrt Castellucci. Und schon erklingt aus den entzungten Mündern Hölderlins "Der Tod des Empedokles". Ein güldener Lorbeer macht die Runde, auf dass eine jede bekränzt Verse des Naturphilosophen zu Gehör bringt: Empedokles spricht als hehrer Visionär, der bis zur Selbstentleibung nach Einklang mit der göttlichen Schöpfung strebt. Auch er – wie Hölderlin, wie Castellucci selbst – ein Bruder Rothkos im Geiste.

Mit Drogen-Gymnastik ins Schwarze Loch

Wenn die Frauen den Hölderlin-Text gen Rampe raunen, strecken sie ihre Arme in die Höhe, als wollten sie Äpfel vom Baum (vermutlich von dem der Erkenntnis) pflücken. Im Hintergrund wiegen sich manche gruppenweise malerisch in klassizistischen Tableaux vivants. So muss rhythmische Sportgymnastik auf einer Opiumfarm ausschauen. Schon bald wächst die Sehnsucht nach einem Laurent Chétouane, der einer solchen statuarischen Ästhetik die nötige formale Präzision und Strenge und meditative Kraft geben würde.

Derweil verabschiedet sich Castelluccis Abend in Richtung Weichzeichner-Erotik, wenn Tod und Geburt bildlich verdichtet werden: Nachdem eine seiner Empedokles-Spielerinnen mit einer güldenen Pistole auf ihre Kompagnolas geschossen hat, formieren sich die Frauen zu einer Gebärmutter-Traube, die aus ihrer Mitte wiederholt Töchterchen auf die Bretter, die die Welt bedeuten wollen, gleiten lässt. Vöglein zwitschern vom Band. Man entkleidet und liebkost sich mütterlich. "O all ihr himmlischen Mächte, was ist das?" Das ist ein heiliger Ernst, der an sich selbst berauscht, dem Schwarzen Loch der Lächerlichkeit entgegentrudelt.

 

The Four Seasons Restaurant
von Romeo Castellucci
Regie, Bühne, Kostüme: Romeo Castellucci, Musik: Scott Gibbons, Bühnenbau: Massimiliano Peyrone.
Mit: Chiara Causa, Silvia Costa, Laura Dondoli, Irene Petris, Clara Chabalier, Sara Dal Corso, Marcela Christina Giesche, Rosabel Huguet, Susanne Mayer, Andriana Seecker.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.berlinerfestspiele.de

 


Kritikenrundschau

"So wie Rothko den Betrachter geradezu in seine monochromen Bilder hineinziehen wollte, sogar den idealen Abstand zwischen Betrachter und Kunstwerk definierte, so versucht Castellucci ebenfalls, den Zuschauer wie mit einem Sog in die Aufführung hineinzureißen", berichtet Frank Dietschreit im Kulturradio des rbb (26.10.2012). Allerdings hantiere der Regisseur "doch mit sehr oberflächlichen Effekten und Rätselbildchen" und inszeniere, als habe er "in bisschen viel Jean-Marie Straub" und dessen filmische Hölderlin-Umsetzung in "Laienspiel-Manier" gesehen. "Das Getue mit Posen und Pöschen dieser sizilianischen Damen geht etwas auf die Nerven." Im Ganzen habe das Festival "Foreign Affairs" hier Castellucci "blind" gebucht und "ein Stück globalisiertes Kunstgewerbe geliefert bekommen".

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