Mehr geht da nicht rein

von Sophie Diesselhorst

München, 27. Oktober 2012. "Wir haben ein Gesetz, und das heißt Orgie." So tun es die ersten zwei Figuren, die sich durch den Treppenaufgang mitten auf der Bühne den Weg nach oben gebahnt haben, einander und dem Publikum kund. Sie sind merkwürdige Gestalten, und an dieser Tatsache arbeiten sie sich zunächst eine Weile in gegenseitiger Beobachtung ab: "Was ist denn das für eine Tasche", bricht der eine, selbst lediglich in einen ungefähr hüftkurzen, dafür in die Breite umso überbordenderen Pelzmantel gewandet, in einen Lachanfall aus, in den das Publikum dankbar einstimmt. Ist ja auch lustig, dieser andere Typ mit nichts als einer windelartigen Unterhose an, deren Spärlichkeit er durch die von seinem Handgelenk baumelnde Louis-Vuitton-Scheußlichkeit zu kompensieren sucht.

Sandra Hüller und sechs Travestie-Künstler

Elfriede Jelinek hat den Münchner Kammerspielen und ihrem Intendanten Johan Simons zum hundertsten Geburtstag ein neues Stück geschenkt, das sie "Die Straße. Die Stadt. Der Überfall" genannt hat. Der Stücktext wurde vor der Uraufführung nicht an die Öffentlichkeit gegeben, konnte also erst inszeniert rezipiert werden.

Orgiastisch geht es nicht zu. Stattdessen wird auf einer Bühne, die sowohl als Edel-Boutique als auch als Bahnhofswartehalle herhalten könnte in ihrer schwarz-grauen Kargheit, unter den sieben Darstellern die laut Programmheft 129 Seiten umfassende "Sprachfläche" aufgeteilt. Es wird sich sprachwitzig erbittert, was das Zeug hält, wobei Johan Simons seine bis auf Sandra Hüller durchweg männlichen Spieler zunächst allesamt als personifizierte Parodien der Travestie – Beispiele siehe oben – in übertriebenen Highheels daherstaksen lässt.

Schöne alte Einkaufswelt

Der Jelinek-Sound schwillt an und ab. Alle zehn Minuten werden die Scheinwelt der Luxuseinkaufs-Maximilianstraße und die von ihr besessene Stadt München attackiert ("Die Leute kaufen hier ein, um andere zu werden, schöner, eleganter, aber sie werden ja auch nicht andere, als sie waren"). Eine weitere Ebene lagert sich an, auf die sich die oft ratlos wirkenden Akteure ab und zu zurückziehen können: auf Jelineks eigenen AutorInnenkomplex ("Ich bewundere die Schauspieler, begreifen kann ich sie nicht" oder "Die Autoren stehen für nichts mehr, höchstens noch für mich", das sagt ein Schauspieler, der in diesem Moment einen Schauspieler spielt).

die strasse 560 julianroeder xEinkaufsfreuden auf der Maximilianstraße: Michael Oesterhelt, Hans Kremer und Sandra Hüller.
© Julian Röder

Die Scheinwelt der Luxusmarken, an der sich das Stück hauptsächlich abarbeitet, wird am Ende aus der realen Welt verbannt. Symbolisiert wird sie durch die Maximilianstraße, an der die Münchner Kammerspiele ja situiert sind und die der Autorin zufolge nicht mehr da sein wird, wenn die Vorstellung vorbei ist. "Sie werden ins Nichts treten, wenn Sie rausgehen, ein Jüngstes Gericht für diese Straße, und ich habe es ihr bereitet." Johan Simons und seine Darsteller haben da aber nicht mitgespielt oder nicht mitzuspielen vermocht – allzu fahrig kommt der ganze Abend daher und wird immer nur dann gestochen scharf, wenn Sandra Hüller auftritt und den Text mit (t)rotziger Furchtlosigkeit schlingt und wieder auskotzt und es schafft, seine hohle Hysterie genauso hohl klingen und aussehen zu lassen und ihn gleichzeitig so hintersinnig wie unterhaltsam zu ironisieren.

Eine Moshammeriana zum Finale

Nachdem die Straße und die Stadt in enervierender Länge als kapitalistische Konstruktionen entlarvt worden sind, kommt noch der Überfall dran, und zwar der tödliche auf den legendären Münchner Modezaren Rudolph Moshammer, der bis zur Pause mit einer schwarzen Decke verhängt, also nicht als er selbst erkennbar, nur ab und zu ein trauermarschartiges Chanson zum besten gab und wirkte wie ein müdes Memento Mori in der Ecke. Endlich darf er sich nun doppelt demaskieren und posthum weinerlich sein – Benny Claessens verflucht ihn mit krachigem Charme und lässt ihn die Straße zum Schluss mit ins Grab nehmen. Dieser letzte Teil des Triptychons stürzt sich so dermaßen auf die Moshammer-Figur, dass die anderen Darsteller kostümtechnisch zurücktreten müssen und in dezenten schwarzen Anzügen den Schlussapplaus entgegennehmen.

"Die Stadt enthält nur sich selbst, mehr geht da nicht rein", ist irgendwann einer der Akteure verzweifelt gewesen. Zusammen mit einem seltsam omnipräsenten apologetischen Gestus, mit dem sich die Autorin immer wieder ihrer Kontrolle über die Situation versichern darf und den Sandra Hüller stets kokett ausspielt ("Ich verfranse mich mal wieder völlig – ich geh jetzt mal lieber – ciiaaoo!") ergibt das den Eindruck eines Stücks und einer Inszenierung, die sich vielleicht das Ziel gesetzt haben, die Oberflächlichkeit ihres Sujets diesem formal angemessen vielfach zu spiegeln. So, wie sie am Ende daherkommt, könnte diese edeltheatrige Zusammenarbeit aber durchaus auch zum ausgebufften Rahmenprogramm einer "Limited Edition"-Kampagne eines dieser unser Konsumverhalten so perfide manipulierenden Turnschuhhersteller gehören.


Die Straße. Die Stadt. Der Überfall (UA)
von Elfriede Jelinek
Regie: Johan Simons, Musik: Carl Oesterhelt, Bühne: Eva Veronica Born, Kostüme: Teresa Vergho, Licht: Wolfgang Göbbel, Dramaturgie: Matthias Günther.
Mit: Marc Benjamin, Stephan Bissmeier, Benny Claessens, Sandra Hüller, Hans Kremer, Steven Scharf, Maximilian Simonischek.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de


Klingt so ähnlich, war aber in Köln: Das Werk / Im Bus / Ein Sturz (Regie: Karin Beier). Klingt auch so ähnlich, war aber Sarah Kane: Gesäubert / Gier / Psychose 4.48 (Regie: Johan Simons).

Kritikenrundschau

Einen "Riesentexthaufen von klassischer Jelinekscher Façon" ohne "viel Punkt und Komma" habe Jelinek den Kammerspielen "exklusiv" geschenkt, schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (29.10.2012). Und Simons tue alles, "um aus dem mitunter verworrenen, mythisch aufgeladenen, von Idiosynkrasien seiner Autorin durchzogenen Text einen faszinierenden Theaterabend zu machen". Sandra Hüller sei ein "leuchtendes Zentrum des skurrilen Treibens", die Musik überzeugt, die Anmutung von "Großstadt und Vaudeville" ebenso wie die Bühne mit Eis. Jedoch: Jelineks Schreiben zehre gemeinhin von "Widerwillen" und "Hass". Weil die Autorin aber Mode selbst zu sehr möge, durchziehe dieses Werk "eine für Jelinek seltsame Milde". Zudem stehe man ihrer "Kennerschaft in Modefragen", dem Wissen um Marken etc., "als (männlicher) Zuschauer machtlos" gegenüber, so Tholl.

Einen vielversprechenden Beginn hat Norbert Mayer von der österreichischen Tageszeitung Die Presse (29.10.2012) erlebt, mit "Pointen" und "bizarren Figuren"; "die Satzpirouetten Jelineks sind frisch und knackig wie das Eis, auf dem die Protagonisten hochhackig herumtänzeln". Aber "Simons hat das eiskalte Stück, das so fantastisch surreal und wortreich begann, zu Tode inszeniert". Eine Eloge hat der Kritiker dennoch parat: "Oh Sandra Hüller! Wie begeistert hängen wir an Ihren Lippen, wenn Sie beiläufig Sätze heraussprudeln wie ‚Für das Sein habe ich keine Zeit', oder wenn Sie gar noch singen, über die Schönheit, die Privatheit, den Dom! Wissen Sie es schon? Man kann Ihren Namen auch mit Vorsilbe lesen: Als Ver-Hüller, wenn Sie Ihren eben erworbenen kurzen Rock preisen, als Ent-Hüller, wenn Sie das Stück, das eben noch ein geiles Teil war, achtlos abstreifen."

Nur ein Post Scriptum ist Barbara Villiger Heilig von der Neuen Zürcher Zeitung (29.10.2012) in ihrem München-Bericht (hauptsächlich über Martin Kušejs Hedda Gabler) dieser Jelinek-Abend wert: Aber auch sie nutzt den Platz zur Eloge auf die Hauptdarstellerin: "Star des Events ist die famose Sandra Hüller: Alter Ego der Autorin und fashion victim. Sie kriecht als Einkaufstasche auf die Bühne und stelzt im Weitern auf Plateausohlen mit Highheels den Kalauern entlang, dass es eine Freude ist. Haute-Couture-Theater, geschneidert für die Kundschaft der teuren Maximilianstrasse. Nicht weniger, nicht mehr."

"Mosi lebt", freut sich die Münchner Abendzeitung (29.10.2012) in Person von Kritiker Matthias Hejny. Allerdings habe der Moshammer-Darsteller Benny Claessens, der "besser sein könnte als das Original", ein "schweres Handicap: Er muss dabei Texte von Elfriede Jelinek sprechen." Und diese böten "kaum mehr als eine Steppe kapitalismuskritischer Plattitüden und gut abgehangener München-Klischees".

Simons habe sich für Jelineks Textgeschenk "abgedroschene Themen ausgesucht", schreibt Simone Dattenberger vom Münchner Merkur (29.10.2012). "Die Dichterin bedient diese Abgedroschenheit mit einer satten Ladung Klischees (Konsumrausch, Jung-/Schön-sein-Wollen, unsichere Identität) unterläuft sie zugleich mit Sprachblödsinn aller Art und ein paar härteren Motiven wie der Verödung der Straße, dem Überwachungsstaat oder dem Unwillen der Stadt München, sich mit ihrer NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen." Womit Jelinek längst nicht mehr auf dem "Stand der Zeit" sei, weil z.B. Überwachung heute von Google und Facebook übernommen würde. Dennoch gelinge Simons in der ersten Hälfte ein "eminent vergnüglicher und gar nicht blöder Abend", auch weil sich die "angeblich so avantgardistischen Kammerspiele ganz altmodisch klamaukversessen" zeigten und Sandra Hüller sich als "Erzkomödiantin" erweise. Nach der Pause warte die Inszenierung mit einer "grauenhaft ausgewalzten, schlecht gespielten Rudolph-Moshammer-Episode" auf.

Von einer "grandiosen Inszenierung" berichtet Sven Ricklefs in der Sendung "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (28.10.2012). Die "kritische Hommage" an die Maximilianstraße sei natürlich eine von "Elfriede Jelineks bekannten Textflächen, in denen die Sprachspiele und die Kalauer nur so übereinander stolpern, dabei aber zugleich in einer Art unbeirrbaren Gnadenlosigkeit den jeweiligen Gegenstand untersuchen." Bei Simons entstehe daraus eine "grandiose Performance, ein atemberaubender Parcour und eine witzige, kühne, steile eigenständige Fantasie über einen zunächst wie so oft bei Jelinek unbezwingbar erscheinenden Text".

In einem kurzen Doppelverriss (gemeinsam mit Martin Kušejs Hedda Gabler) notiert Gerhard Stadelmaier von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (29.10.2012), wie sich "zwei der sehr guten unter den Interessantheitsschauspielerinnen" – Birgit Minichmayr (als Hedda Gabler) und Sandra Hüller (im Jelinek-Abend) – von ihren Regisseuren "eintüten" ließen: Wo Jelineks Stück "die Mode- und Theatermeile der Maximilianstraße zum Wahnsinnsabenteuerspielplatz für Wahnsinnsfrauen macht, da entblößt der Regie-Hausherr namens Simons die Hauptfrau zur kabarettistischen Knalltüte." Fazit: "Zwei Münchner Macht-Männer inszenieren Frauenstücke. Und können sie nicht."

Für die Frankfurter Rundschau (29.10.2012) war Peter Michalzik in München und berichtet: "Simons gibt sich als Regisseur alle Mühe und er ergibt sich dem Stück mit Hingabe, er hört mit maximilialer Genauigkeit in die Sprache von Jelinek hinein und faltet sie mit sanfter Phantasie in verschiedene Figuren und Grüppchen wieder auf." Sandra Hüller "spielt viele Tonlagen an, mit denen sich weibliche Wesen heute medial gern präsentieren" und "übertrifft" sich darin selbst. Auch die Auftritte der "Mannfrauen" werden gewürdigt. Die alte Erkenntnis, dass der Mensch "das Wesen, das zur Mode verurteilt ist", sei durchlebe Jelineks "Text noch einmal, kaut es durch und käut es wieder. Doch bald plätschert das nur noch in vertrautem, trübem Gewässer." Fazit: "Jelinek beißt nicht, wie sonst, sie philosophiert und räsoniert, es ist kein Furor in den Worten, ein dauerndes Sowohl-als-auch durchzieht die Sätze. Jelinek, die so schön ätzen kann, wird in der Modewelt zahm."

Nichts Neues und wenig Tiefe habe dieser Theaterabend zu bieten, "dafür aber eine dieser Jelinek-Suaden, die sich jedem Thema anschmiegen und es wie edles Kaschmir streicheln", schreibt Sabine Leucht in der taz (31.10.2012). Weshalb enttäuscht werde, wer knallharte Konsumkritik erwartet habe. "Nein, die österreichische Exzentrikerin steckt ja selbst viel zu tief in der Prada-Gucci-Versace-Welt, die entgegen dem Klischee auch für die meisten Münchner ein Mysterium ist." Und die Kammerspiele gehörten auch dazu. "Deshalb streicheln sie zurück." Krönung sei die wunderbare Sandra Hüller, die sich, damenhaft und durchgeknallt zugleich, in Jelineks kalauerverliebte Wortkaskaden hineinwühle, um auf dem Höhepunkt der Hysterie einfach fröhlich "Ciao!" zu sagen. "Die macht's richtig!" Am Ende liege die Maximilianstraße trotz gegenteiliger Bekundungen noch immer da. "In all ihrer Banalität, aber mindestens semilebendig im ersten Schnee des Herbstes."

Stimmen zum Gastspiel der Inszenierung beim 50. Berliner Theatertreffen 2013

Das Theatertreffen 2013 würde "bisher meist lange, aber kaum große Aufführungen" präsentieren, meint Peter von Becker im Tagesspiegel (11.5.2013). So auch an diesem Jelinek-Abend. "Es gibt drei Stunden lang keine andere Botschaft als die: Der Mensch wird auch durch die Mode kein anderer, keiner kann aus seiner Haut und München nicht heraus aus seiner Weltdörflichkeit. Was uns Helmut Dietl und Franz Xaver Kroetz in 'Kir Royal' schon viel böser und unterhaltsamer verklickert haben." Allerdings sei Sandra Hüller "hinreißend", "komisch und elegisch, mal Femme fatale, mal armes Modehascherl oder witziges Abbild der selbstironischen Autorin". Und Benny Claessens "in perfekter Moshammer- Maske ist ein Wucht und eine Überraschung zum Finale".

Die Auszeichnung "bemerkenswertestes Teilstück" möchte Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (11.5.2013) für die erste Hälfte dieses Theatertreffen-Gastspiels verleihen, während die zweite "unglaublich einbricht". Denn "was in Jelineks Text, der abwechselnd flach- und tiefschürfend um die Macht der Mode und die Moden der Macht mäandert, funktioniert", das funktioniere im finalen Auftritt der Moshammer-Figur nicht. Dagegen gibt es Applaus für Sandra Hüller: Wer "von der milchzarten Schönheit und bübischen Gewitztheit Sandra Hüllers im melancholischen Duo mit dem traurigen Hans Kremer nicht hingerissen ist, dem wird im Theater nicht zu helfen sein."

"Jelineks Text hat einige sehr komische Pointen. Aber es ist doch wieder der gewohnte Satzstau mit der üblichen Fülle Wortverdrehungen und Kalauern. Johan Simons veredelt diese Vorlage, ohne aus Blech nur Gold werden zu lassen." So urteilt Peter Hans Göpfert im rbb Kulturradio (10.5.2013) über dieses Theatertreffen-Gastspiel. Allerdings sei Sandra Hüller ein "Knaller", "sozusagen die zur Kunstfigur mutierte Jelinek im Zwiespalt zwischen modischer Verheißung und Erfüllung".

Für nachtkritik.de (4.5.2013) bespricht Simone Kaempf das Theatertreffen-Gastspiel der Produktion mit einem Shorty.

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