Divendämmerung

von Georg Kasch

Berlin, 2. November 2012. Diese Stimme ist unverwechselbar. Aus der Tiefe kommt sie, aus der Nacht: "Hallo? Hallo, ist da jemand?" Ein Greisinnenbass, der schaudern macht. Oder lachen. So wie hier, in den Kammerspielen des Deutschen Theaters. Jeder Satz, manchmal jedes Wort provoziert ein Kichern. "Mein Gott, eben war ich noch der Mittelpunkt, und jetzt? Haben wohl alle viel zu tun."

Der Bass gehört Inge Keller, die in einem Stuhl neben einem prachtvollen Blumenstrauß sitzt, elegant wie immer, eine preußische Diva, aufrecht, kühl, diszipliniert, immer noch schön. So könnte Grace Kelly aussehen, lebte sie noch. Die "diensthabende Gräfin der DDR" hat sie sich genannt, und wie viel davon Ironie war und wie viel ernsthafte Überzeugung, man weiß es nicht. Ihr Rollenverzeichnis liest sich ebenso beeindruckend wie die Riege der Regisseure, mit denen sie in ihrem bald 89-jährigen Leben zusammengearbeitet hat.

Parallelen...

Womit sie nahezu so alt ist wie die Schauspielerin Tilla Durieux, die in Christoph Heins "Tilla" 91-jährig auf ihr Leben zurückblickt. Hein hatte den Monolog mit wenigen Dialogfetzen eigentlich als zweiten Teil eines Abends konzipiert, in dessen erstem sich Emil Jannings für seine Zeit im Nationalsozialismus rechtfertigen muss. Vielleicht hätte diese Gegenüberstellung eine Dringlichkeit vermittelt. So bleibt "Tilla" eine Anekdotenplauderei, die man in ihren drei Autobiografien ausführlicher und vielleicht auch fundierter nachlesen kann. Die Behauptung etwa, man habe sie nicht auf die Beerdigung ihres zweiten Mannes Paul Cassirer gelassen, ist falsch, da existieren Beweisfotos. Auch sonst verstrickt sich Heins Tilla öfters mal in Ungereimtheiten, was sich im Zweifelsfall immer der alten Frau in die Schuhe schieben lässt.

tilla 6 560 arno declair hPaul und Tilla: Bernd Stempel und Inge Keller © Arno Declair

Auch sprachlich macht der Text nichts her. Aber es ist natürlich ein reizendes Vehikel für Inge Keller. An den DT-Kammerspielen schlüpft jetzt ein Ehrenmitglied in die Rolle des andern, die Langhoff-Diva (Vater und Sohn) trifft auf den Reinhardt-Star, die Barlog-Entdeckung auf die Barlog-Wiederentdeckung. Parallelen, die die vielen Fans meist fortgeschrittenen Alters in schiere Glücksraserei versetzen, wenn Keller über Schauspieler ätzt, die nicht mehr sprechen können und hässliche neumoderne Häuser.

... und Unterschiede

Parallelen allerdings, die darüber hinwegtäuschen, wie groß die Unterschiede dann doch sind. Während die Durieux auch ein populärer Star der Gazetten war, in der Emigration vergessen wurde, ihren dritten Mann im KZ verlor und dann noch einmal zu spätem Ruhm aufstieg, verlief das Leben Inge Kellers geradezu linear, ohne jenseits der Bühnen in Ost und West besonders populär zu werden (trotz Kinofilmen wie "Wolf unter Wölfen" und "Aimée und Jaguar"). Und auch die berühmten Ex-Männer lassen sich kaum vergleichen: Der Impressionisten-Entdecker Paul Cassirer war bedeutend, der "Schwarze Kanal"-Agitator Karl-Eduard von Schnitzler nur berüchtigt.

Als wäre das noch nicht genug Bedeutungsballast, hat den Abend Gabriele Heinz inszeniert, Wolfgang Heinz' Tochter, Langhoffs Nachfolger als DT-Intendant und einer der prägenden Keller-Regisseure. Wobei inszenieren ein zu großes Wort ist: Sie arrangiert ihren Star erst vorn auf einem Stuhl an der Rampe, später dann auf einer Jugendstilcouch, wo Inge Keller die meiste Zeit aus dem Buch liest, weil solche Textmengen für sie wohl kaum mehr zu bewältigen sind. Manchmal rotiert die Drehbühne, manchmal wedelt der weiße Vorhang im Hintergrund vor und zurück. Dazwischen stolpert unbeholfen der große Komödiant Bernd Stempel als Assistent und Ex-Mann der Durieux herum, als sei er ein Schauspielschüler, den eine zu große Ehrfurcht lähmt.

Kurz: "Tilla" ist ein Abend, über den man kein Wort verlieren müsste, liefe er mit unbekannten Schauspielern an einer Provinzbühne. Aber dies sind die DT-Kammerspiele, dies ist Inge Keller, die wunderbare, und auch, wenn ihre unnachahmliche Diktion nicht mehr so makellos ist wie einst, auch wenn ihre Lesung naturgemäß nicht so beeindruckend klingt wie jene Passagen, die sie frei spricht, auch wenn sie nur noch sitzt und allein mit minimaler Mimik, wenigen Gesten und dem Farbreichtum ihrer Stimme spielt, so bleibt es doch ein Ereignis. "Tilla" ist ein Abend zum Wehmütigwerden, weil mit ihr auch Iphigenie, Helene Alving, Claire Zachanassian und die Fürstin Koschka Abschied nehmen. Wahrscheinlich ist es Kellers letzte große Rolle. Diven wie sie gibt es nach ihr nicht mehr.

Tilla (UA)
von Christoph Hein
Regie: Gabriele Heinz, Bühne und Kostüme: Hans-Jürgen Nikulka, Liedkomposition: Uwe Hilprecht, Choreographie: Annett Scholwin, Dramaturgie: Ulrich Beck.
Mit: Inge Keller, Bernd Stempel.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Mehr zu Inge Keller? Nach wie vor spielt sie Shakespeare in Robert Wilsons Shakespeares Sonette am Berliner Ensemble. Hier gratulierte nachtkritik.de zum 60. Jahr ihrer Mitgliedschaft im Ensemble des Deutschen Theaters Berlin.


Kritikenrundschau

Ein "Coup" sei diese DT-Inszenierung, schreibt Andreas Schäfer vom Tagesspiegel (4.11.2012), und das aufgrund ihrer Besetzung; "allein deswegen muss man sich diesen Abend ansehen". Christoph Heins Text nehme sich zwar "bescheiden" aus. Er schrumpfe die Protagonistin Tilla Durieux "zum Wurmfortsatz von Paul Cassirer" und versage sich die Rede von "Tillas Erfolgen, von ihrem sozialen Engagement". Das aber verärgert den Kritiker ebenso wenig wie manche "ein wenig hilflose Regieeinfälle". Denn Inge Keller ist ein "Ereignis". Man erlebe "eine noch immer strahlende Diva, die sich schlicht alles leisten kann: knappe Witze über Lobhudeleien oder die sprechunfähigen jungen Schauspielhüpfer von heute; in aristokratischer Zeitlupe auf- und abspringende Mundwinkel und Augenbrauen; eine das eigene Alter ironisierende Sprechlangsamkeit, in der sie die Spannung in den Pausen nach Belieben steigert und wieder sinken lässt."

"So einfach, so groß", resümiert Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (5.11.2012) die Idee, Inge Keller als Tilla Durieux auftreten zu lassen. Die Keller lese lange Passagen "mit lebensweiser Lässigkeit aus dem Textbuch ab. Eben dieser Souveränität verdankt sich allerdings ein geradezu magischer Effekt: Immer mal lässt sie das Textbuch sinken und die Gedanken hängen − und erzählt weiter, als läse sie nun in ihren Erinnerungen. Das sind kleine große Verwandlungsmomente, die die Durieux in der Keller wiederauferstehen und beide für den Augenblick unsterblich werden lassen − ohne großes Aufhebens."

Inge Keller lege die Rolle der Durieux "nicht auf biographische Ähnlichkeiten an, sondern auf Klarheit in der Ausformung und Präzision in der Tiefenzeichnung", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen (5.11.2012). "Szenisch liebevoll eingerichtet von Gabriele Heinz und mit Bernd Stempel als gekonnt unauffälligem Kompagnon lässt Inge Keller mit der Kraft ihrer Stimme und der Anmut ihrer Gesten, mit der Erfahrung ihrer Jahre und der Weisheit ihrer hohen Kunst eine komplizierte wie bewegende historische Gestalt auferstehen." Wenn Inge Keller spreche und spiele und zaubere, geschehe "ein Wunder: Die Zeit steht still."

"Man muss nicht lange über Wert und Wirkung von Heins Stücktext sinnen, da ihn die große Inge Keller gibt", meint Hans-Dieter Schütt im Neuen Deutschland (5.11.2012). "Das eher Anekdotische, das diesen Text flach hält, gewinnt in Kellers Interpretation einen einzigartigen, hochpoliert schimmernden doppelten Boden." Die Keller erzähle und lese mit "ihrer berühmt gewordenen Präzision, der konsonantenscharfen Zäsur und vokalfülligen Kraft, der feinziselierten Abstufungskultur ihrer einmaligen Sprachformung". Man habe "sie in öder Schleife die große Dame des Deutschen Theaters genannt, sie blieb die große Arbeiterin. Eine ihren Beruf Atmende, wie man ein Orchester bildet; Stimme, das sind viele Instrumente. Das Erarbeitete, das Wissende ihrer Auftritte liegt im Satz: Beweisen kann man von der Welt nichts, spielen alles."

 

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