Gimpel oder Goethe

von Nicolas Stemann

6. November 2012. Vor ein paar Wochen rief die Wiener GarageX an – sie würden eine Veranstaltung planen, die sich auf die Nestroy-Preisverleihung bezieht und fragten, ob ich nicht Lust hätte, mich zu der Rede zu äußern, die Peter Turrini auf der letzten Nestroy-Gala gehalten hat. Ich wusste nicht, dass Peter Turrini einen Preis bekommen hatte, ebenso wenig, dass er aus diesem Anlass eine Rede gehalten hatte, in der er (mal wieder) den seiner Meinung nach respektlosen Umgang heutiger Regisseure mit Theatertexten geißelte, noch, dass diese Rede in Wien wohl für Gesprächsstoff gesorgt hatte. Ich sagte also erst einmal ab. Zudem fühlte ich mich von dem, was Turrini in der Rede kritisierte, in keiner Weise angesprochen. Ich teile die Forderung nach Genauigkeit und Respekt beim Umgang mit Theatertexten und auch mir widerstrebt es, wenn Regisseure allzu leichtfertig in Texte hineingreifen.

nicolasstemannfotoarminsmailovic hNicolas Stemann © Armin SmailovicBei nochmaligem Lesen stolperte ich dann aber doch sehr über die Enge, mit der hier argumentiert wurde. Warum muss es eigentlich immer und immer wieder zu solchen altertümlichen Debatten kommen? Welcher Geist führt eigentlich dazu, dass immer wieder Autoren und Regisseure auf ihren "Berufen" beharren? Was für ein komisches Klima ist es, in dem eine tendenziell kunstfeindliche Öffentlichkeit, die eigentlich nur will, dass alles bleibt wie es ist oder so wird, wie es früher angeblich irgendwann mal war, diese Kleingeistigkeit als Wasser auf ihre Mühlen begreift? All das ließ mich dann doch einen Text dazu schreiben, den die GarageX-Leute schließlich als "Laudatio" in ihren Abend einbauten.

Ich muss gestehen, dass das Ganze bis dato komplett an mir vorbeigegangen war. Weil man mich aber um einen Kommentar dazu bat, und weil ich merke, wie müde ich bin, ständig so etwas kommentieren zu müssen, hier abschließend ein paar Überlegungen:

1. Wer anlässlich der Verleihung eines Preises für das Lebenswerk nichts anderes zu sagen hat, als sich über bestimmte Regie-Trends im lokalen Sprechtheater zu beschweren, hat offensichtlich nichts anderes zu sagen. Das ist bitter für den Geehrten. Der Rest der Welt sollte deshalb mit Nachsicht darüber hinwegsehen, wenn es denn ernst sein soll mit der Ehrung.

2. Für eine Debatte taugt das Gesagte nicht. Wer anderes behauptet, beweist, dass er auf dem Mond lebt oder in Wien, was nicht das Gleiche sein sollte.

3. Warum sind es dann aber immer wieder Österreicher, die auf solche Art ihre Redezeit auf Theaterfestivals vergeigen – ist das eine lokale Schrulle? So was wie "Küss die Hand" oder ein grantelnder Taxifahrer? Man darf sich in diesem Sinne schon auf die Rede des diesjährigen Stückschreiber-Preisträgers freuen. Wahrscheinlich wurde er nur deshalb ausgewählt, damit das Granteln weitergeht – oder wie läuft das hier? Im Übrigen hat der Taxifahrer in einem Punkt recht: Es ist entsetzlich, wenn jemand die Bühne verlässt und dabei "Tschüss" sagt. Er hat meinen vollsten Zuspruch. Gezeichnet Nicolas Stemann! Und damit: Tschüss!

Nein, eins noch:

4. Natürlich geht es Herrn Turrini um Respekt. Den will er per Urheberrecht einklagen. Man müsste ihm erklären, dass das nicht geht. So bitter das im Einzelnen ist: Man kann Respekt nicht per Gesetz oder per Kunst-Gesetz oder per Theater-Tradition einklagen. Auch, wenn man ein Autor ist, selbst einer mit ehrungswürdigem Lebenswerk, kann man das nicht. Selbst Shakespeare konnte das nicht. Dennoch wird Shakespeare respektiert. Und das, obwohl ein Regie- (bzw. Dramaturgie-) Zwerg im Weimarer Hoftheater in seinen Texten rumgepfuscht hat. Der Zwerg hieß Gimpel oder Goethe, Shakespeare konnte sich nicht wehren – er hat es überlebt.

5. Wer fürs Theater schreibt, schreibt fürs Theater. Das ist im Jahr 2012 eine zugegeben recht skurrile Entscheidung. Man könnte als Dramatiker auch für Film oder Fernsehen schreiben – nur dass man dann noch viel mehr jammern müsste über das böse Medium und die fiesen Redakteure, die einem reinpfuschen. Völlig zu recht würde man jammern! Man gehe also nach drüben – in den Roman! Da ist man dann ganz allein – mit Verlegern, Vermarktern und Lektoren.

Die armen Autoren, die armen Künstler, die armen Genies – überall nur gegängelt und gequält, belogen und betrogen. Was soll es denn tun, das arme Genie? Wo kann es denn schalten und walten und Gott spielen, wie es ihm gefällt in all seiner Genialität und Größe und Unfehlbarkeit? Im luftleeren Raum? Doch wie kommen wir da hin? In dieses Vakuum, in dem wir dann ganz frei sind von der Welt und ihren blöden Regisseuren?

Merke: Sich die Unabhängigkeit im Markt bewahren, wenn man für den Markt produziert, ist keine kleine Aufgabe. Nirgendwo. Mit oder ohne Regietheater. Sie muss immer wieder neu bewältigt werden. Darin, ob und wie sie gelingt, zeigt sich die Kunst und die Kraft des Künstlers – vielleicht auch sein "Genie". Und nicht darin, ob er ein Schutzgehege braucht – heiße es nun "Werktreue" oder sonstwie – das ihn vor dem bösen Medium beschützt, für das er schreibt .

(6. Was hat eigentlich Shakespeare gesagt, als er den Nestroy fürs Lebenswerk bekam? Kann man sich eine ähnlich larmoyante Rede von Molière oder Schiller oder Heiner Müller vorstellen? Würden sie heute nichts anderes finden, über das sich zu reden lohnt, als schlechte Regisseure?)

7. Denn gekämpft werden musste immer. Man kann doch als Autor das Theater zu etwas zwingen! Und zwar mit Literatur und nicht mit Appellen! Ebenso wie jeder, der irgendetwas Besonderes will, das Theater zu etwas zwingen muss. Gerade als Autor muss und kann man das Theater zu etwas zwingen. Wenn einem natürlich als Autor nichts einfällt außer: alles soll so bleiben, wie es ist oder wie es einmal war, dann, ja dann muss es eben der Regisseur tun. Das Theater, so wie es ist, ist eh immer ein Scheiß! War es, ist es, wird es immer bleiben! Deshalb: Guten Morgen, Herr Turrini, auch schon wach?

8. Nun aber wirklich abschließend: Es sei daran erinnert, dass die ursprünglichen und interessantesten Impulse für das Theater meist von Autoren ausgingen. Auch bestimmte Trends im aktuellen Theater, die gerne und vereinfachend als "postdramatisch" beschrieben werden und die Turrini – polemisch und unzutreffend – zu karikieren meint, wenn er auf Veränderungen in Klassiker-Titeln verweist, haben ihre Ursprünge nicht im Regie- sondern – und das ist ganz großartig – im Autorentheater! Beziehungsweise darin, wie das Theater und seine Regisseure auf Anforderungen neuer Texte reagierten. Die Postdramatik wurde von Dramatikern erfunden!

Heiner Müller, Rainald Goetz und Elfriede Jelinek (die Liste ist unvollständig: der junge Handke, Thomas Bernhard und viele andere haben auch noch Platz) – sie alle haben Texte geschrieben (Beckett, Brecht, die expressionistischen Autoren, jene des absurden Theaters, oder auch jene des Dada, des Surrealismus, des Fluxus – Gerhart Hauptmann! Ibsen! Tschechow!), sie alle haben Texte geschrieben, die vom Theater als ausgesprochene Zumutung empfunden werden mussten und auch empfunden wurden. Nach einiger Zeit hat das Theater dann Mittel und Wege gefunden, auf diese Zumutungen angemessen zu reagieren. Dies führte zu neuen Formen, die das Theater ungemein vorangebracht haben!

Mit diesen Formen mag Herr Turrini jetzt nichts anfangen können. Schuld daran tragen aber nicht "die Regisseure" oder "die Dramaturgen" (wie zwergwüchsig auch immer). Diese Formen sind Folge davon, dass das Theater Autoren ernstgenommen, ihnen Respekt gezollt hat! Und darüber zu neuer Kraft und Stärke gelangt ist. 

Vielleicht gelingt das Herrn Turrini jetzt nicht mehr. Aber natürlich wird es immer wieder Autoren geben, denen es gelingt, das Theater nachhaltig zu stören, zu verstören, zu fordern. Hoffentlich wird es immer wieder Autoren geben, denen das gelingt. Das Theater braucht sie! Stören, verstören, fordern. Und nicht hilflos dem abgefahrenen Zug hinterherschimpfen!

9. Im Übrigen: Wen es stört, dass die anderen alles falsch machen, der mache es richtig. Kein Autor ist auf das Diktat von schlechten Regisseuren angewiesen. Molière, Shakespeare, Goethe, Beckett, Müller, Brecht, Pollesch – die Liste ist lang und populär. Es ist die Liste der Autoren, die sich als Theatermacher begriffen haben oder begreifen, und die deshalb – ebenso wie Regisseure, die in Texte eingreifen – pfeifen auf die starre Arbeitsteilung von "Ich Autor schreibe ausschließlich die heiligen Worte und Du Regisseur darfst ausschließlich den Schauspielern sagen, wie sie die richtig betonen (und ob sie dabei im Licht stehen)".

Man reihe sich ein oder man lasse es bleiben – aber man höre auf, in Dumpfheit zu granteln, denn das führt nirgendwo hin außer: zurück. Dies ist eine Richtung, die nurmehr hinterm Mond geschätzt wird oder (offensichtlich) in Wien, was aber doch nicht dasselbe sein sollte!

10. Ich hoffe, wir haben das jetzt ein für allemal geklärt, ich will mich mit so etwas in Zukunft nicht weiter beschäftigen müssen. In diesem Sinne also: Tschüss!


Nicolas Stemann ist Regisseur. Mehr über ihn finden sie im Lexikon.

 

Das Manuskript der auf Video aufgezeichneten Rede veröffentlichte zuerst das österreichische Nachrichtenmagazin Profil (5.11.2012). Nicolas Stemann stellte uns den Text freundlicherweise zur Verfügung. Die originale Video-Version gibt es auf der Homepage der Garage X.

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