Die stupide Handarbeit des Denkens

von Sarah Heppekausen

Dortmund, 11. November 2012. "Wir kommen ja nicht mal von Nirgendwo / Wir sind einfach da." Dieser hoffnungsfreie Satz könnte bei Beckett stehen, keine Frage. Er fällt auch nicht weiter auf, wenn Uwe Schmieder ihn im Dortmunder "Endspiel" spricht. Aber geschrieben hat den Satz Wolfram Lotz. Dessen herausforderndes Stück "Einige Nachrichten an das All" hat Intendant Kay Voges zur Saisoneröffnung als Film inszeniert, um das unmögliche Theater möglich zu machen. Zwei der Lotz-Figuren holt er nun von der Leinwand zurück auf die Bühne.

Es ist die Beckett-Bühne, die Voges und sein Bühnenbildner Michael Sieberock-Serafimowitsch schon für den Lotz-Abend als Filmset eingerichtet hatten. Ein schwarzer Guckkasten, klein und eng. Beckett befragt die Existenz. Aber während das Dasein beim Existenzphilosophen Heidegger immer auch eine Möglichkeit beinhaltet, die Möglichkeit des eigenen Lebensentwurfs, fällt die Diagnose beim irischen Autor düsterer aus. "Ich betrachte die Wand", sagt Clov im "Endspiel". "Ich sehe mein Licht, das stirbt." Dasein ist bei Beckett ein Gefangensein im Leben, eine Einrichtung im Ende.

Jeder Schritt eine Drohung

Clov und Hamm – in der Dortmunder Inszenierung heißen sie Lum und Purl wie bei Lotz – haben keine Erwartungen mehr, ihr Horizont ist eine Grenze, ihr Periskop peilt das Nichts, ihre Aussicht aus dem Fenster ist gleich "NULL". Sinne reizend sind allenfalls Schall und Schablonen. Spiegel, Blumenvase, Teppich und Telefon sind mit Kreidestrichen an Wände und Boden des Guckkasten-Containers gemalt. Gehaltvoller sind die Geräusche. Das Lachen der beiden ist comicartig verzerrt. Es ist genauso soundverstärkt wie Lums Schritte. Frank Genser stampft auf hohen Plateausohlen durch den kleinen Raum, ein Höllenlärm, jeder Schritt ist eine Drohung. Nähert er sich der Tür ("Willst du, dass ich dich verlasse?"), dröhnen Gitarrenriffs und das Licht verdunkelt sich. Aber Text, Ton und Situation wiederholen sich penetrant oft. Ein Spiel ohne Weiterkommen. So dehnt sich des Dieners Drohung zum absurden Leerlauf.Endspiel2 560 BirgitHupfeld uLeben in der Kreidezeit: Frank Genser und Uwe Schmieder in "Endspiel" © Birgit Hupfeld

Die Regie überzieht und überzeichnet effekt- und deshalb affektvoll. Die "alte Wand" spielt bei Handkontakt Zarah Leanders "Nur nicht aus Liebe weinen" – für Lum und Purl ist es eine tränenreiche Berührung. Lum onaniert sich zum Ideenerguss, als wäre Denken stupide Handarbeit. Und wenn Purl schreit, wundert er sich selbst am meisten über diesen plötzlichen Gefühlausbruch. Uwe Schmieder sitzt als lahmer, blinder Herr Purl mit zugeklebten Augen auf einem rollenden Stuhl und wechselt seine Stimmungen im Sekundentakt. Sein Purl ist kaum greifbar und gerade deshalb nah bei Beckett. So unbeweglich Purls Beine sind, so beweglich ist sein Gemüt. Sein Befehl ist immer auch Bitte, seine Frage Vorwurf, sein Gebet Komödie.

Das Sein, das Nichts und das mögliche Theater

Frank Genser lässt seine Hände an den angewinkelten Armen hängen wie ein Hund, der auf Leckerchen wartet. Bis seine Augen blitzen und er zum Maschinengewehr greift, das zweidimensional und kreideumzeichnet an der Wand hing. Lum erschießt Purl. Aber der muss sich nach filmreifem Todessturz im Blitzlicht wieder aufrichten. Es geht eben nicht zu Ende. Lotz' "Wir sind einfach da" heißt hier: Wir können einfach nicht weg.

Lum und Purl sind auf der Beckett-Bühne ebenso sehenswert grotesk-traurige Figuren wie auf der Lotz-Leinwand. Dass ihre dargestellte Sinnkrise auf gewohntem Bühnenterrain an spielerischer Kraft (durch Nähe) eher gewinnen als verlieren würde, war zu erwarten. Spannend ist die Zusammenfügung beider Abende. Voges lässt sich in seine Inszenierungskarten schauen. Bei seiner Lotz-Arbeit hat sich der Regisseur ausgiebig beim älteren Autor bedient, Lum und Purl ein Filmset in Beckettscher Guckkasten-Welt gebaut und die beiden in einem Spiel mit Grenzen über das Sein und das Nichts sinnieren lassen. Mit seiner jetzt nachfolgenden Beckett-Inszenierung bekennt er sich wieder zum möglichen Theater. Aber Lotz hat Voges' "Endspiel" vermutlich Schärfe gegeben. Weil er die existenziellen Fragen wieder gestellt hat.

 

Endspiel
von Samuel Beckett
Deutsch von Elmar Tophoven
Regie: Kay Voges, Bühne: Michael Sieberock-Serafimowitsch, Kostüme: Mona Ulrich, Sounddesign: Mario Simon, Dramaturgie: Dirk Baumann, Thorsten Bihegue.
Mit: Frank Genser, Uwe Schmieder.
Dauer: 1 Stunde, 20 Minuten, keine Pause

www.theaterdo.de 

 

Kritikenrundschau

Von einer "tief bewegenden, tragikomische Groteske mit zwei fantastischen Schauspielern" berichtet Bettina Schäfer auf dem Internetportal der Ruhrnachrichten (13.11. 2012). Regisseur Kay Voges verfremde die Nicht-Handlung des Dramas "mit so viel technischer Raffinesse", dass die Kritikerin eigemem Bekunden zufolge 80 Minuten lang staunt. "Fast jeder Schritt, jede Aktion erzeugt seltsame, mal laute, mal lustige Geräusche und Lichteffekte. Genser und Schmieder – der eine stampft rundherum wie ein Hamster im Rad, der andere knetet verzweifelt seine Hände – suchen Trost und entwickeln darin den Charme und die Komik trauriger Clowns." Aus Sicht der Kritikerin Beide "eine grandiose Leistung bis zur physischen Erschöpfung."

In der zum WAZ-Konzern gehörenden Westfälischen Rundschau schreibt Rainer Wanzelius (13.11.2012): Die Aufführung gehe "richtig unter die Haut und in die Ohren". Die Wiederholungsschleifen drehten sich von Anfang an seit gefühlter Endlosigkeit, man müsse sich die dazu passenden Figuren vorstellen, Laurel und Hardy ließen grüßen, "so schön schwarz, so schön weiß". Was Uwe Schmieder und Frank Genser "schauspielerisch da veranstalteten" sei "schlicht und einfach genial". Es sei "verblüffend", was der Sounddesigner Mario Simon leiste, der der Inszenierung die "treffenden letzten Klicks und Klacks" beschere. "Selbst wenn Purl seine Kiefer zurückschiebt, ist das mit 'Musik' verbunden. Keine vorgefertigten Geräusche. Alles live und sekundengenau." Das abschließende Resümee: "Überzeugendes Resultat".

 

 

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