Hildesheimer Thesen IV - Stadt / Land / Theater
Die Zukunft des Theaters liegt in der Provinz!
von Alexander Pinto
Hildesheim, den 14. November 2012. In der kontinuierlich geführten Diskussion um die Zukunft des Theaters in Deutschland findet ein grundlegendes Element bisher viel zu wenig Beachtung: die Stadt. In ihr liegt der Gründungsmythos des Theaters begründet, der sich bis in die antike Polis zurückverfolgen lässt. Gegenwärtiges Theater, und insbesondere seine weitere Entwicklung, ist ohne die Entwicklung der modernen Stadt nicht zu denken.
These 1
Die fordistische Stadt bildete die strukturelle Grundlage des modernen Stadttheaters
Die moderne Stadt des vergangenen Jahrhunderts war geprägt durch die Entwicklung einer standardisierten Massenproduktion von Konsumgütern und der dadurch zu realisierenden Gewährleistung der "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" für alle Bevölkerungsschichten. Städtische Entwicklung basierte dabei auf der räumlichen und funktionellen Trennung von Arbeits- und Lebenswelt und auf der zeitlichen Standardisierung und Synchronisierung durch das so genannte "Normalarbeitsverhältnis". Dieses "fordistische Raum-Zeit-Regime" bildete u. a. die kulturkonsumierende bürgerliche Kleinfamilie heraus und gleichzeitig die Folie für die Organisation der modernen Stadtgesellschaft. Zugleich institutionalisierten sich spezifische kulturelle Repräsentations- und Regulationssysteme wie das Stadttheater, in denen sich das kulturelles Repräsentationsbedürfnis einer bürgerlich geprägten Stadtöffentlichkeit ihr physisches und inhaltlich-ästhetisches Zuhause geschaffen hat; reguliert durch ein Finanzierungssystem, in welchem der bürgerliche Hegemonialanspruch Struktur geworden ist.
These 2
Die strukturelle Krise des Stadttheaters ist Ausdruck des Endes der fordistischen Stadt
Im Zuge des ökonomischen Strukturwandels hin zu technologie- und wissensbasierten Arbeitsmärkten bei gleichzeitiger Pluralisierung der Arbeits-, Wohn- und Lebensformen erodieren die fordistisch geprägten städtischen Strukturen. Deutlich wird dieser Erosionsprozess an den wachsenden defizitären kommunalen Haushalten. Kultur als freiwillige Selbstverwaltungsaufgabe der Kommunen gerät unter dem Druck der kommunalen Einsparanstrengungen. Die Pluralisierung der Lebensformen bei gleichzeitiger Popularisierung von Kunst und Kultur aufgrund neuer technologiebasierter, medialer und räumlich flexibler Angebote veränderte nicht nur das Freizeitverhalten des kulturkonsumierenden Publikums, sondern das Publikum selber. Der Hegemonialanspruch der bürgerlich geprägten Kleinfamilie wird prekär. Der andauernde "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (Habermas) ließ die darstellende Kunst in die Peripherie einer pluralisierten Stadtgesellschaft rutschen. Die Institution Stadttheater verliert mit dem Ende der fordistischen Stadt nicht nur ihre finanzielle Grundlage, sondern auch ihr stadtgesellschaftlich hegemoniales Publikum.
These 3
Die postfordistische Stadt befindet sich in einem (globalen) "Wettbewerb der Städte"
Aufgrund der Mobilisierung aller gesellschaftlichen Bereiche befinden sich die Städte immer stärker in einem, in Teilen globalen "Wettbewerb der Städte". Dieser Wettbewerb gestaltet sich vornehmlich als ein Kampf um Sichtbarkeit und Bedeutung: Nur die Städte – so die Annahme –, die sich im (globalen) Aufmerksamkeitsmarkt gut positionieren, haben eine Chance auf die dauerhafte Ansiedlung qualifizierter Arbeitsplätze und -kräfte in den zukunftsträchtigen Wirtschaftsbranchen und damit auf ökonomisches Wachstum. Stadtentwicklungspolitik richtet sich in der Folge immer stärker an Strategien des Stadtmarketings aus. Im Zuge der Markenbildung von Städten oder auch Regionen werden Handlungsfelder wie Kunst und Kultur zunehmend als ökonomische Teilmärkte identifiziert, geclustert und für die Neuerfindung des Standorts zum Beispiel als "Kreative Stadt" in die Pflicht genommen. Die gesellschaftliche Relevanz von Kunst und Kultur begründet sich im Rahmen dieser Vermarktungsstrategien dann vor allem ökonomisch, als attraktives und vielfältiges Angebot für begeisterte Touristen und zukünftige Hochqualifizierte.
These 4
Theaterentwicklung muss sich an den regionalen Besonderheiten orientieren
Die Monopolisierung der Theaterlandschaft durch die Institution Stadt- und Staatstheater verkennt die spezifischen regionalen Gegebenheiten. Städte und Regionen sind vom ökonomischen Strukturwandel gleichermaßen betroffen, der sich jedoch aufgrund der jeweils vorgefundenen geografischen, klimatischen, kulturellen, mentalen und sozialen Vorbedingungen unterschiedlich gestaltet. Diese spezifischen Ausprägungen müssen untersucht und für die Entwicklung einer zukünftigen kulturellen Daseinsvorsorge fruchtbar gemacht werden. Damit ist das Primat des Städtischen gegenüber dem Theater benannt. Theaterentwicklung in diesem Zusammenhang bedeutet auch, die ästhetischen Potentiale der darstellenden Kunst für die städtischen und regionalen Entwicklungsprozesse zu nutzen.
These 5
Die Zukunft des Theaters liegt in der Provinz!
Während in den Metropolen und metropolitanen Großstädten Theater zukünftig vor allem als international vermarktbarer Kultur-Event mit dem Fokus auf die künstlerischen Spitzen funktionalisiert wird, werden in den ländlichen Regionen auf der Grundlage einer Kosten/Nutzen-orientierten Standortanalyse zur kulturellen Daseinsvorsorge im besten Falle transdisziplinäre Leuchtturmprojekte entwickelt und ausfinanziert. In den Großstädten jenseits der Metropolen wird Theater ebenfalls als Kultur-Event instrumentalisiert werden, zugleich geben die stadtentwicklungspolitischen Konfliktlinien aber auch Raum für Experimentelles und Neues. Hier sind Impulse wie Doppelpass der Kulturstiftung des Bundes anzusiedeln und eine Öffnung in Richtung freies Theater und freie Kunst noch stärker zu forcieren. In den Mittel- und Kleinstädten aber müssen und werden sich die vorhanden Theaterstrukturen zu offenen Produktionsorten und –räumen umgestalten, in denen die Theaterschaffenden sich ausbilden, entwickeln und professionalisieren können. Sinnvolle kulturelle Raum- und Stadtpartnerschaften sind zu kreieren, die nicht nur der Entwicklung des Theaters und der Theaterschaffenden dienen, sondern auch als kulturelle Grund- bzw. Daseinsvorsorge zu interpretieren sind.
Alexander Pinto ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der HafenCity Universität Hamburg im Studiengang Kultur der Metropole. Seine Schwerpunkte sind Stadt- und Kulturpolitik, Theater und darstellende Kunst als urbane Praxis. 2008 bis 2011 war Pinto Vorsitzender des Dachverbandes Freier Theaterschaffender Hamburg. Er ist Mitglied der Hamburger Jury zur Projektförderung im Freien Theaters.
Mehr zu der Vorlesungsreihe: www.uni-hildesheim.de.
Alle Hildesheimer Thesen: im Lexikon
Siehe auch: die Stadttheaterdebatte auf nachtkritik.de.
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Meiner Meinung nach reicht eine kulturelle Daseinvorsorge bei weitem nicht aus, um allen Menschen (auch in der Provinz) Theater zugänglich zu machen. Den Vorschlag von Städtepartnerschaften und Leuchturmprojekten finde ich sehr gut, aber ich denke, dass es auch wichtig ist, den Künstlern und Künstlerinnen die Vorzüge der Arbeit in der Provinz zu verdeutlichen und sie zu ermütigen und darin zu unterstützen nicht in die Großstädte zu "flüchten".
Besonders die freie Szene spielt dabei denke ich eine große Rolle und hat großes Potenzial eine kulturelle Vielfalt zu schaffen.
Was wäre zum Beispiel ein gelungenes Theaterprojekt, das sich an die „vorgefundenen geografischen, klimatischen, kulturellen, mentalen und sozialen Vorbedingungen“ orientiert hat?
Mir fallen jetzt spontan zwei Beispiele ein, von denen ich mir vorstellen könnte, dass sie „in die richtige Richtung“ gehen: Zum einen das Freilichttheater in Bad Segeberg, das die vorgefundenen natürlichen [im Sinne von „naturgegebenen“!] Bedingungen integriert, indem es nämlich den Kalkberg selbst als Raum und „Kulisse“ für die jährlich stattfindenden Karl-May-Festspiele nutzt. Und zum anderen vielleicht das Lübecker Wasser Marionetten Theater, das mit Puppentheater „unter Wasser“ experimentiert und eben das genau in Lübeck, einer Stadt, die aufgrund ihrer Lage an der Ostsee, sicherlich viele Einwohner [und Besucher] mit einer Affinität zum Wasser hat.
Ob nun diese Beispiele so gut sind, ist sicherlich streitbar. Ich möchte jedoch festhalten, dass ich die Grundidee dieser These für sehr sinnvoll halte, besonders wenn man deren letzten Satz im Auge behält: „Theaterentwicklung in diesem Zusammenhang bedeutet auch, die ästhetischen Potentiale der darstellenden Kunst für die städtischen und regionalen Entwicklungsprozesse zu nutzen.“
Es geht hier also -und das ist gut und richtig so- um ein Wechselverhältnis, von dem beide Seiten (sowohl Stadt als auch Theater) profitieren können, ein Wechselverhältnis, das für beide fruchtbar sein kann!
Folgt man Alexander Pintos Argumentation, die durchaus schlüssig ist und gleichzeitig auch erschüttert, scheint dies der einzige Ausweg zu sein, wenn man nicht zu den künstlerischen Spitzen der Bundesrepublik gehören kann oder will. (wie auch immer die „Spitze“ definiert werden wird)
Absprechen sollte man diesen Regionen die Chance auf keinen Fall. Statt ländliche Regionen nur „notfallversorgen zu müssen“, sollte gezielt Kulturentwicklung auf dem Landgefördert werden. Denn als „Softskill“ zur Ansiedlung von z.B. dringend benötigten Ärzten dient Kultur natürlich auch auf dem Land. Ein Dorf wirkt gleich lebenswerter, gibt es dort einen Gemeindechor oder eine kleine Musikgruppe.
Es sollten vermehrt Anreize geschaffen werden, Vorurteile gegenüber dem „langweiligen Leben in der Provinz“ abzubauen und dafür zu sorgen, dass die strukturschwachen Regionen mehr Aufmerksamkeit bekommen.
Natürlich ist das verlockend dann nach Berlin zu gehen in "Die Kulutstadt Deutschlands" man hat ja gleich ein solches Theaterangebot vor der Haustür liegen und dann noch die anderen Künstler. Als junger Künstler muss man Kontakte knüpfen (auch später) und das kann man sehr gut in Berlin. Trotzallem muss ich Herr Pinto recht geben, denn genau hier liegt das Problem. Wir jungen Kunstschaffenden müssen uns trauen in kleinere Städte zu gehen und dort was zu bewegen nicht vielleicht in die Provinz aber doch nicht in die Hauptmetropolen Deutschlands. Doch meine Frage lautet ist die Provinz und kleiner Städte überhaupt bereit etwas für ihr Kulturangebot zu machen und vielleicht auch junge Kunstschaffende für sich zu gewinnen und damit auch Geld zu investieren ? ... denn die jungen Kunstschaffenden Sprudeln doch nur so von Ideen...
Man muss aufs intensivste auf sein Publikum eingehen. Es ist halt nicht so groß. Dies ist eine Herausforderung, die ich äußerst Ansprechend finde: Grade kein Theater zu machen das nur typisches Theaterpublikum versteht und trotzdem dem eigenen künstlerischen Anspruch gerecht zu werden. Wozu macht man denn Theater? Ich hoffe doch, weil man denkt, dass die Menschen es brauchen. Vor diesen Gesichtspunkt finde ich es sinnvoller in der Provinz die Fahne der Kultur hochzuhalten als in Berlin gegen Kollegen um Publikum zu kämpfen.
Unattraktiv wird die Provinz nur wenn die Arbeitsbedingungen schlecht sind und die Bezahlung nicht stimmt. Kultur braucht die Unterstützung des Ortes in dem sie stattfindet. Theater wird nicht durch Leiden besser. Dieser Mythos ist nur ein Fadenscheiniger Grund Geld zu sparen. Wenn Theater in der Provinz stattfindet, kann das genau so viel kosten wie in den Metropolen. Keiner geht aufs Land wenn er dort weniger verdient. Deshalb müssen Bedingungen geschaffen werden. Der Ruf danach muss aber auch aus den Provinzen kommen. Von denen die wollen, das einer kommt oder von denen die bereits dort sind und bleiben wollen.
Somit finde ich Alexander Pintos 5.These eine sehr spannende Idee: Vor allem jetzt, sollte man Theater in den Provinzen fördern - eine mal andere und neue Möglichkeit um eine Entwicklung in der Theaterlandschaft zu erzielen. Allerdings bedeutet das meiner Meinung nach viel Arbeit für die Provinzen. Der Vorschlag muss bei den Menschen ankommen, sie motivieren und vor allem publikumsnah sein. Und darin liegt ein nächstes Problem: Das Publikum ist nicht allzu groß und trotzdem möchte man versuchen, so viele Interessen, Chancen und gemeinsame Ideen zu decken.
Bedankenswerter Kommentar deshalb, da ich diese wertende, asymetrische Differenz zwischen Großstadt vs. Kleinstadt und Land kenne, aber deren gegensätzliche Zuschreibungen (Fortschrittlichkeit vs. Veraltet) nicht weiterhin für verwendbar halte.
Auf kulturpolitischer (intellektueller) Ebene kann man durchaus Kulturraumgesetze oder interkommunale Kooperationen, bestenfalls strukturelle Grundförderungen planen.
Was dabei aber m.E. nicht zur Sprache kommt:
Wenn die emotionalen Assoziationen der Menschen, hier in Bezug auf eine bestimmte Theaterlandschaft, aversiven Zuschreibungen entsprechen, die dafür sorgen, dass sie sich vom Gegenstand persönlich abwenden wollen.
"Auf nach Provinz"
Zuerst stellt sich mir die Frage:Was gibt es für eine Nachfrage in der Provinz bzw. in ländlichen Gebieten nach Theater und besonders nach was für einem Theater?
Ich könnte mir Residenzen in ländlichen Gebieten vorstellen für junge Theaterschaffende, wobei für einen bestimmten Zeitraum Raum, Förderung und eine Aufführungsmöglichkeit zur Verfügung gestellt werden könnte. Aber wichtig fände ich dabei, dass dies als ein Sprungbrett dienen könnte für junge KünstlerInnen und somit auch attraktiv wäre.
Die These, dass die Zukunft des Theaters in der Provinz liegt würde ich so nicht vertreten, da für mich eine Großstadt eine ganz andere Lebensqualität hat und viele Möglichkeiten für junge Kulturschaffende bietet, ganz abgesehen davon, dass eine Großstadt für viele attraktiver zum leben ist. Aber ich denke, dass Kooperationen zwischen zukünftigen Produktionsstätten in ländlichen Gebieten und städtischen ein interessantes Format sein könnten.
Ich denke, im Gegensatz zu "wiwewit", der/die von einem theaterunerfahrenen Publikum spricht, dass gerade in den kleineren Städten ein sehr festgefahrenes Theaterverständnis vorhanden ist, das nur sehr mühsam zu wandeln ist. Dies ist jedoch eine Herausforderung, die m.E. wichtig wäre in Angriff zu nehmen, damit Kultur für alle zugänglich bleibt bzw. wird und nicht nur in einer elitären Szene zelebriert wird.
Die Frage ist jedoch, wie bereits von Rebecca angesprochen, ob die Provinz bereit dafür ist, den Kulturschaffenden eine Grundlage für den nötigen Wandel zu bieten.
Weg von der Historie möchte ich diesen Ansatz nun auf die Gegenwart und Zukunft übertragen. Wie muss sich das Theater heute verändern in Anbetracht der soziologischen und Städteentwicklungstechnischen Aspekte? Ich denke, dass die Etablierung von Produktionsstätten, in denen produziert und aber auch rezipiert und partizipiert werden kann, ein hohes Maß an Aufmerksamkeit erfahren sollte. Häuser, wie beispielsweise "Arthouses" in Antwerpen, die als feste Institutionen für Künstler zur Verfügung stehen. Produktionsstätten, in denen die infrastrukturellen Voraussetzungen gegeben sind, um zu produzieren und zu präsentieren. Jedoch steht nicht ein fester Spielplan mit hohem Produktionsdruck im Vordergrund, sondern vielmehr ein Ort, der als ein Ort für Austausch und Begegnungen von Künstlern untereinander und zwischen Künstlern und Publikum dient. Auch soll hier Kunst nicht nur produziert und konsumiert werden, sondern die Möglichkeit für Laien und Nicht-Kenner bestehen, selbst künstlerisch aktiv zu werden. Ebenso könnten solche Orte als Verknüpfungspunkte und Netzwerkstellen zwischen Künstlern, Stadtpolitikern, Pädagogen und vielen anderen Menschen die kulturelle Arbeit vorantreiben und intensivieren.